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Darcy Raines, die mit dem Rücken zur Gruppe am Bug stand, packte eine aus der Höhlenwand herausragende Felszacke und hielt das Boot an. Ohne loszulassen, drehte sie sich zur Seite.

Kyle Mordock starrte zu ihr hinauf. Die erste Sitzbank des Boots war frei. Er saß auf der zweiten, neben einem jungen Paar, das sich an den Händen hielt. Sein Platz.

Jeden Tag, seit sie vor zwei Wochen begonnen hatte, als Führerin in der Höhle zu arbeiten, war der Junge zu mindestens einer Tour aufgetaucht. Es gab noch andere Führer, doch er ging nie bei ihnen mit, nur bei Darcy. Er blieb stets in ihrer Nähe und schaffte es zumeist, denselben Sitz zu ergattern, den gleich hinter ihr, den mit dem besten Ausblick – nicht auf die Höhle, sondern auf Darcy. Er redete kaum. Er beobachtete sie einfach mit seinen winzigen wilden Augen.

Jetzt glotzte er ihren Hintern an. So wie Darcy dastand, zur Seite gedreht und einen Fuß auf den Bug gestützt, spannte sich ihre Hose eng über den Pobacken. Sie konnte Kyles Blick spüren.

Ein fünfzehnjähriger Lustmolch.

Auch wenn er der Sohn des Chefs ist, dachte sie, ich muss etwas gegen diesen Blödsinn unternehmen, sonst treibt er mich noch in den Wahnsinn.

Tom hielt das zweite Boot hinter Darcys an und nickte ihr zu, damit sie begann.

»Endstation, Leute«, sagte sie. »Alle aussteigen.«

Es erklang Gemurmel und leises Lachen in den Booten. Einige Leute sahen sich um, als wollten sie ihre Anweisung befolgen, doch dann verstanden auch sie den Scherz und lachten noch lauter als die anderen.

»Nach Ihnen«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot.

»Das Wasser steht im Lake of Charon zu dieser Jahreszeit nur ungefähr hüfthoch, aber im Frühling steigt es durch das Versickern von Schmelzwasser und Regen deutlich an. Trotzdem kann ich ein Bad nicht empfehlen. Das Wasser ist ungefähr zehn Grad kalt.«

Darcy warf Kyle einen Blick zu. Er sah ihr ins Gesicht. Sie wandte sich ab und nickte zur Steinmauer vor dem Boot.

»Diese Trennwand«, sagte sie, »markiert das Ende des öffentlich zugänglichen Teils der Höhle. Die Mauer wurde 1923 von Ely Mordock gebaut. Ursprünglich konnte man die Höhle auf ihrer ganzen Länge erkunden – mehr als eine Meile. Etliche Jahre führte Ely Gruppen durch den natürlichen Zugang im steilen Berghang nahe der östlichen Grenze seines Grundstücks in die Höhle. Es war eine schwierige ganztägige Wanderung und nichts für schwache Nerven. Damals gab es weder den Weg noch die Beleuchtung. Ely stellte Wathosen, Lunchpakete und Fackeln zur Verfügung.

Doch er träumte davon, die Wunder der Höhle der Allgemeinheit zugänglich zu machen, nicht nur ein paar Hartgesottenen, deshalb begann er 1921 mit dem Bau der Aufzüge. Die Schächte wurden fünfundvierzig Meter tief in den Boden getrieben, um an dem ehemals hinteren Ende der Höhle einen Zugang zu schaffen. Als die Aufzüge fertig waren, wurde damit begonnen, einen Gehweg zu bauen und Beleuchtung zu installieren.

Dann kam es zu der Tragödie. Am 12. Juni 1923 wanderten Ely und seine Frau Elizabeth durch einen Abschnitt irgendwo zwischen hier und dem natürlichen Zugang, als sie ausrutschte und in eine tiefe Spalte fiel.«

»Großer Gott«, stöhnte eine ältere Frau.

»Ely ließ sich mit einem Seil hinab, doch die Spalte, in die seine Frau gefallen war, schien bodenlos zu sein, und er musste alle Hoffnung aufgeben, sie zu retten … oder ihren Leichnam zu bergen.

Er war gramgebeugt und fest entschlossen, zu verhindern, dass die Spalte weitere Todesopfer forderte. Also verschloss er den natürlichen Zugang und baute mit der Steinmauer eine dauerhafte Absperrung, damit niemand mehr die gefährliche Osthälfte der Höhle betreten konnte. Faktisch wurde damit dieser ganze Teil zur Gruft von Elizabeth Mordock.«

»Das ist schon über sechzig Jahre her«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot. »Gibt es keine Pläne, diesen Bereich wieder zu öffnen?«

Darcy schüttelte den Kopf. »In Elys Testament ist festgelegt, dass die Mauer niemals eingerissen werden darf. Seine Nachkommen haben beschlossen, diesen Wunsch zu respektieren.«

»Kommt einem wie eine Vergeudung vor«, sagte der Mann.

Ein kräftiger Jugendlicher in Darcys Boot hob die Hand, als wäre er in der Schule. Sie rief ihn auf. »Wie wirkt sich die Mauer auf den Fluss aus?«

»Gute Frage. Die Mauer bremst den natürlichen Lauf des Flusses Styx. Ehe sie gebaut wurde, gab es keinen Lake of Charon.«

»Es ist also eine Art Damm«, sagte der Junge.

»Genau. Der Fluss war vorher in diesem Teil der Höhle nur ein paar Zentimeter tief, und die Leute konnten hier herumlaufen, statt mit dem Boot zu fahren. Unter Wasser sind sogar noch Teile des ursprünglichen Gehwegs erhalten.«

»Wie kommt es, dass nicht die ganze Höhle überflutet wird?«

»Ely war so schlau, den Durchgang nicht komplett zu verschließen. Er hat am Fuß der Mauer eine Öffnung gelassen, durch die das Wasser abfließen kann. Noch Fragen, bevor wir umdrehen?«

»Ich habe eine«, sagte eine junge Frau zwei Reihen hinter dem Jungen. »Wenn die Höhle so abgeschlossen ist, wo kommt dann die Luft her?«

»Ursprünglich gab es drei Aufzüge zur Oberfläche. Nachdem Ely den Weg zum natürlichen Zugang abgeschnitten hatte, wurde einer davon zu einem Lüftungsschacht umgebaut. Von oben wird frische Luft hereingeblasen, und das hat den zusätzlichen Vorteil, dass im Sommer die Temperatur in der Höhle steigt. Einige von Ihnen empfinden es vielleicht trotzdem als ziemlich kühl, aber wenn es die warme Luft aus dem Schacht nicht gäbe, herrschten hier nur zehn Grad, der Kälte des Wassers entsprechend. Durch die Belüftung steigt die Temperatur auf ungefähr fünfzehn Grad.

Wenn es keine Fragen mehr gibt, kehren wir jetzt um. Ehe Sie sich versehen, sind Sie wieder oben und schmoren in der Hitze.«

Ihre Bemerkung löste das übliche Kichern und Stöhnen aus.

»Hat keine Eile«, sagte jemand. Doch es gab keine weiteren Fragen.

»Sie haben vielleicht bemerkt«, fuhr Darcy fort, »dass in beiden Booten die erste Sitzreihe frei gelassen wurde. Das war kein Versehen. Wir haben das Ganze geplant. Es ist viel einfacher, Sie umzudrehen als die Boote. Deshalb möchte ich nun die Leute in der ersten besetzten Reihe bitten, vorsichtig aufzustehen, kehrtzumachen und sich auf die Sitze zu pflanzen, die wir praktischerweise frei gelassen haben.«

Die drei Ausflügler auf den vorderen Bänken beider Boote folgten ihren Anweisungen.

Dazu gehörte auch Kyle Mordock. Darcy war froh, seinem permanenten Starren zu entkommen. Bald würde sie sich auf der entgegengesetzten Seite des Boots befinden.

Auf ihr Kommando drehte sich eine Reihe nach der anderen um und setzte sich eine Bank weiter nach vorn. Insgesamt gab es sieben Sitzbänke. Es dauerte nicht lange.

»Okay, jetzt kommt für Tom und mich der lustige Teil. Wenn die Leute auf der linken Seite ein Stück zur Mitte rutschen, führen wir unser waghalsiges Kunststück vor.«

»Trommelwirbel, bitte«, sagte Tom.

In der Mitte von Darcys Boot hatte ein ungefähr siebenjähriges Mädchen den Ellbogen auf dem Dollbord liegen. Darcy lächelte sie an und winkte sie zur Seite. Die Mutter zog das Mädchen aus dem Weg.

Darcy ließ den Felszacken los. »Wenn Tom und ich großes Glück haben«, sagte sie, »erreichen wir das andere Ende des Boots, ohne nass zu werden.«

Der einzige Führer, der kürzlich bei diesem Manöver ins Wasser gefallen war, war Dick Hayden. Er hatte es letzte Woche absichtlich getan, zum Vergnügen der Touristen, und geschworen, diese Nummer nie wieder zu bringen. Als Darcy ihn fünfundvierzig Minuten danach aus dem Aufzug kommen sah, waren seine Kleider durchnässt, er zitterte, und sein Gesicht war blau. Er bekam eine Erkältung und fehlte drei Tage bei der Arbeit.

Darcy wusste von niemandem, der jemals versehentlich in das kalte Wasser gefallen wäre. Der Gang zum anderen Ende des Boots mochte schwierig erscheinen, doch sie betrachtete es als Kinderspiel.

Mit ausgestreckten Armen stieg sie auf das Dollbord. Obwohl es breiter als ihre Füße war, balancierte sie darüber, als wäre es ein Hochseil im Zirkus. Sie sah Tom auf dem Rand des anderen Boots einen ähnlichen Auftritt absolvieren.

Er verschwand.

Darcy hatte das Gefühl, ihre Sehkraft wäre auf einen Schlag erloschen.

Alles war schwarz.

Perfekter Zeitpunkt für einen Ausfall der Beleuchtung.

Leute keuchten erschrocken auf.

Sie wackelte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»SCHEISSE!« Das war Tom.

Dann ein dumpfer Aufprall, ein heftiges Platschen.

Besorgte Stimmen. »Ist er runtergefallen? … Er ist gefallen! … O mein Gott!«

»Ruhe!«, rief Darcy. »Alle sitzen bleiben!« Sie griff an ihre Seite, zog die Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie an und richtete den Strahl auf das andere Boot. Tom war nicht da. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Tom!«, schrie sie. Keine Antwort.

Der blasse Lichtkegel glitt an der Backbordseite des Boots über das Wasser.

Es ist nur hüfttief! Wo ist er?

Sie sah die stumpfe Spitze des Stalagmiten, der Teufelsboje genannt wurde, weniger als einen Meter neben Toms Boot aus dem Wasser ragen.

Er hatte sich gleich daneben befunden, als die Höhle dunkel wurde.

Dieser dumpfe Aufprall.

O Gott!

Darcy richtete die Taschenlampe auf das Dollbord vor ihren Füßen und eilte darüber. Die Touristen in den Booten verhielten sich still, ein Publikum, das von einer skurrilen Show gefesselt war. Am Heck hob Darcy die Taschenlampe über den Kopf und stieß sich mit dem Fuß ab. Sie landete neben dem eckigen Bug von Toms Boot. Kaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht, umhüllte ihre Beine, griff nach ihrem Unterleib wie eine Hand aus Eis. Ihre Füße stießen auf den Grund. Sie rutschten weg. Darcy hakte ihren linken Arm über den Rand des Boots und fing sich.

Ihre Taschenlampe sondierte das Wasser. Sie konnte den Grund unter dem gebrochenen Lichtstrahl erkennen.

Tom war nicht neben dem Boot.

Sie drehte sich und ließ den Strahl auf beiden Seiten der Teufelsboje über das Wasser gleiten.

»Vielleicht ist er unter dem Boot«, sagte jemand. »Ich glaub, ich habe ein Rumpeln gehört …«

»Halten Sie mal.« Darcy streckte die Taschenlampe der nächsten Touristin entgegen. Sie wurde ihr aus der Hand genommen.

Darcy holte tief Luft. Ihre Lungen fühlten sich an, als wären sie geschrumpft. Sie beugte sich vor, schob einen Arm unter den Metallrumpf und zog sich hinab. Das kalte Wasser schien ihren Kopf zu zerdrücken. Es drang durch ihre Jacke, die Bluse und den BH. Es berührte ihre Haut.

Darcys Augen waren offen, doch sie sah nichts.

Sie watete durch das flache Wasser unter dem Boot, während ihr Hinterkopf und ihre Schultern über den Rumpf rieben, und wedelte suchend mit den Armen.

Ihre rechte Hand stieß gegen etwas Rundes. Toms Kopf? Sie krümmte die Finger, der Mittelfinger ertastete einen schmalen Grat, die Finger links und rechts davon berührten murmelgroße …

Seine Augen. Es fühlte sich an, als wären sie offen.

Darcy zuckte zusammen und zog die Hand zurück. Dann griff sie nach vorn, die Arme ausgebreitet, um nicht wieder in sein Gesicht zu fassen. Sie ertastete seine Schultern, packte mit beiden Händen die Jacke und zog Tom zur Seite.

Sie kam unter dem Boot hervor und richtete sich auf. Es spritzte, als jemand hinter ihr ins Wasser sprang. Sie zerrte an Tom, und er brach durch die Oberfläche. Die Taschenlampe fand sein Gesicht. Toms Kopf war zur Seite geneigt. Wasser floss aus dem Mund.

Seine Augen waren nach oben gedreht, sodass man nur das Weiße sah.

»Schaffen wir ihn ins Boot.« Das war der Mann, der ins Wasser gesprungen war. Er watete an Darcy vorbei, schlang die Arme um Toms Hüfte und zog den schlaffen Körper rückwärtsgehend zum Heck des Boots. Der Lichtstrahl begleitete ihn. »Halten Sie ihn fest.«

Darcy drückte Tom an ihre Brust. Sie spürte sein Gesicht an ihren Wangen, fühlte die Bartstoppeln. Er schien nicht zu atmen.

Was, wenn er tot ist?

Der Mann hielt sich am Bootsrand fest, zog sich hoch und kletterte hinein. Dann beugte er sich vor und packte Tom unter den Achseln. Als er begann, ihn hinaufzuziehen, ließ Darcy los. Sie umklammerte Toms Hintern und hob ihn an. Er tauchte aus dem Wasser auf. Einen Augenblick lang waren ihre Händen zwischen seinen Pobacken und dem Dollbord eingeklemmt und seine gespreizten Beine unter ihren Ellbogen gefangen. Sie zog ihre Hände heraus und hob die Arme. Toms Beine schnellten hoch, und er fiel rückwärts ins Boot.

Darcy zog sich rechtzeitig zum Boot, um zu sehen, wie der Mann Tom auf die freie Bank legte. Als sie sich hochstemmte, huschte der Lichtstrahl der Taschenlampe von dem Mann zu Tom. Darcy erhaschte einen Blick auf die blutige rechte Seite seines Kopfes. Dann stellte der Mann sich breitbeinig über ihn und beugte sich zu Tom hinab. Jemand griff nach Darcy, packte ihren Oberarm und half ihr, sich über das Dollbord ins Boot zu winden. Sie landete auf dem Schoß ihres Helfers, rutschte herunter und war eingeklemmt zwischen seinen Knien und den Beinen des Mannes, der über Tom stand.

»Ich habe eine Erste-Hilfe-Ausbildung«, sagte sie.

Der Mann ignorierte sie. Seine Hand lag um Toms Kehle. Dann schob er einen Finger in seinen Mund.

»Hat er Puls?«

Er nickte. Sein Finger kam mit ein paar Speichelfäden wieder heraus. Er legte Toms Kopf in den Nacken und blies Luft in den offenen Mund.

Er weiß, was er tut, dachte Darcy. Gott sei Dank.

Sie richtete sich mühsam auf und drehte sich um. Eine junge Frau auf der ersten Sitzbank hatte die Taschenlampe. Sie hielt sie auf Tom und den Mann gerichtet.

Darcy hörte ein Gewirr von Stimmen, die alle zugleich Fragen stellten. Sie hob eine Hand, um für Ruhe zu sorgen.

»Sie fragen sich bestimmt alle … Tom ist gestürzt, als das Licht ausging, und ich glaube, er ist mit dem Kopf auf diesen Stalagmiten neben dem Boot geschlagen. Aber wir haben ihn rausgeholt, und ein Herr gibt ihm Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich glaube, er kommt wieder in Ordnung.«

»Man muss Sie für Ihr schnelles Handeln loben«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.

Es erklang zustimmendes Gemurmel und vereinzelter Applaus.

»Das Wichtigste ist jetzt«, sagte sie, »dass wir alle Ruhe bewahren.« Darcy zitterte heftig. Sie schlang die Arme um die Brust. »Offenbar gab es einen Stromausfall. Ich bin sicher, dass das bald behoben wird und das Licht wieder angeht. Bis dahin gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Wir sind hier völlig sicher. Verdammt, eine Höhle ist der sicherste Platz auf der Welt, was auch immer oben vorgehen mag.«

Das hätte ich nicht sagen sollen.

Das anschwellende Getuschel klang beunruhigt.

»Ich will damit nicht sagen, dass oben etwas passiert ist«, fügte sie hinzu.

»Woher kommt der Strom?«, fragte jemand.

»Generatoren in der Anlage.«

»Ist so etwas schon mal passiert?«

»Nicht, dass ich wüsste. Aber ich bin neu hier. Kyle!«, rief sie. »Sind die Generatoren schon mal ausgefallen?«

»Nein. Noch nie.«

Scheiße.

»Es ist etwas passiert!«

»Krieg«, murmelte jemand. »Ein Atomkr…«

»So ein Blödsinn«, schnauzte Darcy. »Wahrscheinlich ist es nur eine ganz normale Panne. Sie werden es ruckzuck repariert haben. Deshalb sollten wir niemanden durch abwegige Vermutungen …«

Hinter Darcy ertönten Würggeräusche. Sie wandte sich um. Der Mann erhob sich schnell und drehte Tom auf die Seite, als wässriges Erbrochenes aus seinem Mund schoss. Es bespritzte die Hose der Frau mit der Taschenlampe. Tom würgte immer noch. Dann begann er, zu husten und zu stöhnen.

Er erholt sich, dachte Darcy.

Doch sie verspürte keine Erleichterung.

Dieser Idiot mit seinem Atomkrieg.

Mein Fehler, sagte sie sich. Ich habe ihn wahrscheinlich auf die Idee gebracht. Erdbeben und Atomkrieg. Wenn eine Höhle der sicherste Platz ist. Vielleicht sollte ich das aus meiner Rede streichen.

Aber was ist dann oben geschehen? Irgendwas hat auf jeden Fall den Strom ausgeknipst.

Sie dachte an ihre Mutter, die zu Besuch gekommen war und in dem Hotel gleich über der Höhle wohnte. Was, wenn es wirklich eine Katastrophe gegeben hatte?

»Was ist mit den Aufzügen?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Sie sah über die Schulter. »Sie werden auch nicht funktionieren. Aber, wie gesagt, ich bin sicher, dass die Stromversorgung bald repariert wird.«

»Na toll.«

»Wir sind hier gefangen«, flüsterte jemand in der Nähe.

»Ich bin sicher«, sagte Darcy, »dass wir alle rechtzeitig zum Mittagessen raus sind.«

Mit gedämpften Stimmen besprachen die Leute die Lage und beruhigten ihre Ehepartner und Kinder oder teilten ihre Bedenken mit Freunden und Fremden.

Darcy drehte sich wieder zu Tom. Er richtete sich hustend auf und drückte sich ein Taschentuch an die Seite des Kopfes. Der Mann hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest.

»Wie fühlst du dich, Kumpel?«, fragte sie.

Tom antwortete mit einem Stöhnen.

»Schlecht?«

»Wie ein Stück Scheiße«, ächzte er.

Es tat gut, seine Stimme zu hören. Darcys Kehle schnürte sich zusammen. Sie strich mit einer Hand über das nasse Haar auf seinem Kopf. »Wir bringen dich so schnell wie möglich hier raus.«

Er blickte zu ihr auf. Die Frau mit der Taschenlampe war so klug, ihm nicht in die Augen zu leuchten, doch das Streulicht erhellte sein Gesicht. Seine Gesichtzüge wirkten schlaff, die Augenlider hingen herunter, der Mund stand offen. »Was zum …?«

»Ein Stromausfall.«

Er seufzte und löste dadurch einen Hustenanfall aus.

Der Mann neben ihm auf der Bank stand auf. »Warum legen Sie sich nicht hin?«, schlug er Tom vor. »Wir finden etwas, um Sie zuzudecken.«

»Er kann meine Jacke haben«, sagte der Mann, der Darcy ins Boot geholfen hatte.

Darcy setzte Tom behutsam auf die Bank. Er legte die Füße auf das Dollbord. Bald war er mit drei Jacken und einem Pullover zugedeckt.

»Das sieht ganz bequem aus«, sagte sie.

»Wir sollten ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen«, sagte der Mann neben ihr. »Er hat wahrscheinlich einen Schock und eine leichte Gehirnerschütterung, aber die Kopfverletzung … man kann nie wissen.«

Darcy sah ihn an. Er war ein großer, kräftiger Mann mit breitem Gesicht und ausladenden Schultern. Er trug ein Sweatshirt. »Danke für all die Hilfe«, sagte sie. »Sind Sie Arzt?« Eigentlich sah er eher wie ein Footballspieler aus.

»Ich habe während meines Jurastudiums als Krankenpfleger gearbeitet. Und ich war ein paar Jahre Polizist. Aber vielleicht gibt es hier unten einen Arzt.«

Unten den vierzig Touristen in den Booten könnte es zumindest einen Arzt geben. Darcy wandte den Kopf und fragte nach.

Kein Glück.

»Tja, es war einen Versuch wert.« Sie streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin Darcy Raines«, sagte sie, obwohl sie sich zu Beginn der Tour schon der ganzen Gruppe vorgestellt hatte.

»Greg Beaumont.« Er erinnerte sich, dass seine Hand mit Toms Speichel verschmiert war, und wischte sie an seiner Jeans ab. Darcy kümmerte es nicht. Sie drückte seine große Hand, als er sie hob.

»Danke noch mal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.«

»Du hast genau das Richtige gemacht. Aber es freut mich, dass ich helfen konnte. Und jetzt sollten wir uns darum kümmern, wie wir hier rauskommen.«

»Wir können hier nicht raus«, flüsterte sie. »Die Aufzüge sind der einzige Ausweg und …«

»Wir sollten zumindest so tun, als ob«, sagte Greg. »Bis jetzt haben sich die Leute gut gehalten, aber sie werden bald anfangen durchzudrehen.«

In der Dunkelheit hinter ihnen begann ein Kind zu weinen.