12
Jims Fackel erlosch. Als Darcys Brett nur noch ein Stück glühende Kohle war, warf sie die qualmenden Überreste auf den Gehweg. Gregs Holzplanke brannte noch in der Mitte. Er hielt sie tief vor sich, damit das Feuer zu seinen Händen emporklettern konnte.
Die Flammen schwankten und flatterten wie eine helle Fahne.
»Es sollte Fackelführungen geben«, sagte Carol, die gleich hinter Darcy ging. »So ist es viel … interessanter.«
»›Mögest du in interessanten Zeiten leben‹«, sagte Helen. »Eine alte chinesische Verwünschung.«
»Ich finde es nett.«
»Du wirst es nicht mehr so nett finden«, erklärte Helen, »wenn die ausgegangen ist.«
»Gregs geht nicht aus«, sagte Darcy. »Er trägt die magische Fackel.«
»Genau«, sagte Greg.
Sie legte einen Arm um seinen Rücken. Das Sweatshirt war kühl und feucht, doch sie spürte die Wärme darunter. Sie schmiegte sich enger an ihn, ging mit ihrer Hüfte an seiner, mit der Seite ihrer Brust an seinem Oberarm.
Sie wusste, dass die anderen sie ansahen. Doch es kümmerte sie nicht.
Es sind nur Carol und Helen und Jim und Beth, dachte sie. Obwohl Helen ein bisschen steif und wahrscheinlich sogar prüde war, machte es Darcy nichts aus, vor diesen Leuten ein wenig von ihrer Zuneigung für Greg zu zeigen. Sie waren mehr oder weniger Fremde, doch sie waren etwas Besonderes. Sie waren ihr Team.
Sie fühlte sich gut, fast beschwingt, seit sie die Hauptgruppe bei den Aufzügen verlassen hatten. Es war wie eine Befreiung. Kyle war zurückgeblieben. Und der Typ mit der Peterbilt-Kappe. Und mehr als zwei Dutzend Fremde, die sich darauf verließen, dass sie ihnen Anweisungen gab, ihre Ängste beruhigte und sie beschützte. Es war eine große Erleichterung, nicht mehr bei ihnen zu sein.
Es war, als ginge man nach einer schlechten Party nach Hause.
Oder, dachte sie, noch treffender, der Abschlussball. Das war sehr ähnlich gewesen. Im letzen Jahr an der Highschool war sie Jahrgangssprecherin und für die gesamte Organisation verantwortlich gewesen – Dekoration, Getränke, Unterhaltung. Und als Mike Wakefield den Punsch mit Alkohol versetzt hatte, machten ihr die Erwachsenen die Hölle heiß. Sie gaben ihr die Schuld, obwohl sie nichts damit zu tun hatte. Für die anderen Schüler war der Ball ein großer Erfolg, doch Darcy konnte sich nicht entspannen und die Party keinen Augenblick genießen, und nachdem der Alkohol im Punsch entdeckt worden war, wurde der Abend zu einer regelrechten Qual. Dann verließ sie mit ihrem Freund und zwei anderen Paaren die Veranstaltung, und der Druck wich von ihr. Sie flippte aus. Sie kreischte und tanzte auf dem Parkplatz herum wie eine Verrückte. Sie überredete ihre Freunde, zum Fluss zu fahren, und dort gingen sie alle nackt baden. Sie hatte sich noch nie so unbeschwert gefühlt, so mutig. Sie schwamm unter eine Brücke und ließ alle zurück, außer Steve, ihren Freund. Sie umarmten sich im warmen Wasser. Dann führte sie ihn ans Ufer und entdeckte eine mondbeschienene Lichtung. Obwohl sie seit Monaten mit Steve zusammen war und obwohl sie ihn liebte, hatte sie ihn noch nicht richtig rangelassen. In dieser Nacht legte sie sich tropfnass vom Fluss ins kühle Gras und streckte ihm die Arme entgegen.
Darcy erinnerte sich an all das, während sie im flackernden Schein der Fackel an Gregs Seite ging. Zuvor war die Erinnerung an diese Nacht immer belastet gewesen von dem Gedanken an ihre Trennung, an den Brief, den Steve ihr während ihres ersten Frühlings in Princeton geschrieben hatte. Jetzt fühlte sie nichts von dem gewohnten Schmerz. Steve gehörte in die Vergangenheit, und Greg war bei ihr, und sie verspürte dieselbe Erleichterung und denselben Mut, die sie nach der Flucht von dem Schulball beseelt hatten.
Das federnde Holz unter ihren Schuhen riss Darcy aus ihrem Tagtraum. Sie war auf dem Bootssteg. Sie blieb stehen. »Ich habe die Spitzhacke vergessen«, sagte sie. »Kommst du mit mir zurück, um sie zu holen, Greg?« Sie fragte sich, ob er das Zittern in ihrer Stimme hörte.
»Klar.«
Sie hakte die Taschenlampe von ihrem Gürtel los und schaltete sie an. »Wir sind in ein paar Minuten wieder zurück«, erklärte sie den anderen.
Greg gab Jim seine Fackel. Beth, Carol und Helen bildeten einen Kreis um die kleine Flamme, als wäre sie ein Lagerfeuer.
Als sie wieder auf dem Betonweg waren, sagte Darcy: »Wir sind direkt daran vorbeigegangen. Dämlich. Ich habe vor mich hingeträumt.«
»Davon, dass wir rauskommen?«, fragte Greg.
»Nicht direkt.« Darcy ließ den Strahl der Taschenlampe über die glänzende Kalksteinwand zur Rechten wandern und entdeckte den Eingang zur Grotte. Sie nahm Gregs Hand und ging näher heran. Ihr Mund war trocken. Ihr Herz schlug schnell. In ihrem Kopf blitzte die Erinnerung an die Begegnung mit Kyle in der Grotte auf, doch das störte sie nicht. Was mit Kyle geschehen war, spielte keine Rolle. Nicht in diesem Moment.
Greg stieg neben ihr die Steinstufen hinauf.
Sie traten in die Grotte. Der blasse Strahl der Taschenlampe beleuchtete die Schubkarre, die Spitzhacke, die daran lehnte, ihre Bluse und ihren BH, die über einem der Griffe hingen.
»Hier habe ich meine Kleider getauscht«, erklärte sie.
»Gegen was?«
Sie drehte sich zu Greg. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Dann sah sie nach unten, um sich die Taschenlampe wieder an den Gürtel zu hängen. Als der Metallclip einrastete, legte Greg ihr die Hände auf die Schultern. Er zog sie an sich, und sie schlang die Arme um ihn und legte den Kopf in den Nacken. Er küsste sie. Es begann als sanfter, zögernder Kuss. Dann öffneten sich seine Lippen, Darcy strich mit der Zunge darüber, und ihre Münder vereinten sich, pressten sich fest und saugend aufeinander. Seine Hände wanderten über ihren Rücken.
Das ist verrückt, dachte sie. Die anderen warten.
Sollen sie doch warten.
Sie schob die Hände unter Gregs Sweatshirt. Seine Haut war feucht, aber warm. Seine Zunge füllte ihren Mund aus. Sie wand sich, rieb sich an seinem festen Körper. Seine Hände strichen an ihren Seiten auf und ab, streichelten sie durch den dünnen Stoff des Anoraks. Sie wollte sie darunter, auf ihrer Haut, spüren.
Sein Mund zog sich zurück. »Wir sollten lieber zurückgehen«, murmelte er.
»Ich weiß.«
»Die anderen.«
Nickend ließ sie die Hände an ihren Seiten herabbaumeln. Er hatte recht. Egal, wie sehr sie wünschte, der Moment mit Greg würde andauern, es war nicht fair, die anderen warten zu lassen. »Die Pflicht«, stöhnte sie.
»Wenn wir hier raus sind … vielleicht können wir dann ein wenig Zeit miteinander verbringen.«
»Das wäre schön.«
»Viel Zeit.«
»Ich glaube, das würde mir gefallen.« Sie legte die Hände auf Gregs Hüfte. »Ich glaube, das würde mir sehr gefallen.«
Greg hob eine Hand an ihren Kopf. Er spielte mit ihrem Haar, liebkoste das Ohr und die Wange. »Ich möchte im Sonnenlicht mit dir zusammen sein.«
Sie küsste seine Handfläche. Dann zog Greg sie erneut an sich, und ihre Münder fanden sich.
Sein Atem strich warm über ihre Lippen, als er sagte: »Lass uns hier ausbrechen.«
»So schnell wie möglich«, sagte Darcy.
Sie wandten sich voneinander ab und gingen zur Schubkarre. Greg nahm die Spitzhacke und schwang sie sich über die Schulter. Darcy befühlte ihre Bluse und den BH. Die Sachen waren nass und sehr kalt. Sie überlegte, sie anzuziehen, aber nicht, weil es ihr sinnvoll erschien, sondern weil die Vorstellung sie reizte, vor Greg den Anorak auszuziehen. Selbst wenn sie mit dem Rücken zu ihm stünde … Sie stellte sich vor, wie er von hinten näher kam, die Arme um sie legte und mit seinen großen Händen ihre Brüste bedeckte. In dem Anorak war es warm und gemütlich. Der BH und die Bluse würden sich schrecklich anfühlen. Aber das ist die Unannehmlichkeit wert, dachte sie, wenn ich dann nackt bis zur Hüfte vor ihm stehe und von ihm berührt werde. Sie würde sich zu ihm drehen, er würde sie anstarren, und dann würde er sie an sich ziehen …
Greg streckte die Hand aus und drückte einen Ärmel der Bluse. »Pfui«, sagte er. »Du überlegst doch nicht, die Sachen anzuziehen, oder?«
Darcy zuckte die Achseln. Sie errötete, doch ihr Gesicht lag im Dunkeln, deshalb war sie sicher, dass er es nicht bemerkte.
»Du würdest frieren. Vergiss es besser.«
Und sie errötete noch stärker, als sie den Anorak von ihrem Bauch zupfte und sagte: »Ich fühle mich einfach so nackt darin.«
»Keine Sorge. Es sieht absolut anständig aus.«
»Es hüpft beim Gehen.«
»Nur ein wenig«, sagte er, »und es ist ein hübscher Anblick. Du solltest die Klamotten nicht anziehen. Komm, lass uns gehen.«
Sie wandten sich zum Ausgang, und Darcy zog die Taschenlampe wieder von ihrem Gürtel. »Du hast beobachtet, wie sie gehüpft sind.«
Greg lachte leise. Statt einer Antwort gab er ihr einen Klaps auf den Hintern.
Sie stiegen die Steinstufen hinunter. Darcy sah die anderen am Steg warten, immer noch um das winzige Feuer der Fackel in Jims Händen gedrängt.
Es ist vorbei, dachte sie. Und sie sind schuld.
Mach ihnen keinen Vorwurf, sagte sie sich. Sie gehören einfach dazu, genau wie Greg dazugehört.
Und das ist schon in Ordnung.
Darcy verspürte ein leichtes Verlustgefühl, weil sie nicht länger mit Greg allein sein konnte, doch in den Schmerz mischte sich eine Empfindung von Erfüllung und Erstaunen.
Sie fühlte sich ihm so nah.
Es ist fast, als hätten wir uns geliebt.
Wir haben uns geliebt. Das ist genau das, was wir da drin getan haben. Wir hatten nur nicht genügend Zeit, es zu Ende zu bringen.
Wir werden es zu Ende bringen, wenn wir hier rauskommen.
Nachdem ich erfahren habe, was mit meiner Mutter ist. Mom geht es gut. Es muss ihr einfach gut gehen.
Als sie in den Lichtschein der Fackel trat, schaltete Darcy die Taschenlampe aus und hängte sie sich zurück an den Gürtel. »Alle bereit?«, fragte sie.
»Damit sollte es funktionieren«, sagte Jim und nickte zu der Spitzhacke.
»Bestimmt«, sagte Greg.
Darcy führte die Gruppe an dem ersten Boot vorbei und blieb neben dem zweiten stehen. »Okay, alle einsteigen.«
Greg ließ die Spitzhacke vorsichtig in das Boot hinab. Er und Darcy hielten das Dollbord fest, während die anderen einstiegen. Carol und Helen setzten sich in die Mitte. Jim stand am Bug, sodass die Fackel vorne war. Beth nahm hinter ihm Platz.
»Los, steig ein«, sagte Greg. »Ich schleppe das Boot zur Mauer.«
»Vielleicht sollte ich versuchen, es an den Felszacken vorwärtszuziehen.«
Greg schüttelte den Kopf. »Wenn es vorher zu gefährlich war, ist es jetzt auch zu gefährlich. Ich möchte nicht, dass du mit dem Gesicht irgendwo dagegenknallst.«
»Ich könnte es probieren«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er recht hatte. Selbst unter normalen Umständen, wenn das Licht leuchtete, war es riskant, das Boot anzutreiben, indem man sich an den Felsen entlanghangelte. Es erforderte einen festen Stand und einen guten Gleichgewichtssinn, und gelegentlich musste man sich ducken, um mit dem Kopf den Felszacken auszuweichen. Diese Methode im Licht der Fackel oder der Taschenlampe zu versuchen, wäre dumm. Doch die Vorstellung, dass Greg ins Wasser stieg, gefiel ihr nicht.
»Ich werde sowieso wieder nass«, sagte er, »wenn wir an der Mauer sind.«
»Aber …«
»Genieße einfach die Fahrt.« Er schlüpfte aus seinen Schuhen. Während er seine Socken abstreifte, hielt er sich mit einer Hand an Darcys Schulter fest. »Dieses Mal mache ich meine Kleider nicht nass«, sagte er. Er zog sich das Sweatshirt über den Kopf und gab es ihr. Dann öffnete er seine Hose, zog sie herunter und stieg hinaus. Er trug einen weißen Schlüpfer.
Darcy sah zu den Frauen im Boot. Nur Carol beobachtete Greg.
Darcy trat einen Schritt vor, um ihr die Sicht zu versperren.
Greg reichte Darcy seine Hose, ging in die Hocke und stieg mit nackten Füßen in die Schuhe. Während er sie zuband, hob Darcy seine Socken auf. Sie drückte sich das Kleiderbündel an die Brust und legte eine Hand auf Gregs Rücken. Er zitterte. »Bist du sicher …?«
»Kein Problem.« Greg stand auf. Er grinste Darcy im schwachen flackernden Licht an, dann klatschte er einmal in die Hände, wandte sich von ihr ab und ging den Steg entlang. Gleich hinter dem Bug des Bootes vollführte er einen Kopfsprung.
Mit ausgestreckten Armen flog seine verschwommene Gestalt dicht über den Lake of Charon. Er tauchte in flachem Winkel ein. Wasser spritzte auf, Tropfen glitzerten im Fackelschein.
Darcy erschauderte. Sie konnte den schrecklichen Kälteschock spüren.
Greg tauchte auf, schwamm im Kreis und blieb vor dem Boot stehen. »Alles klar?«, fragte Darcy.
»Es ist … erfrischend.«
»Das glaube ich.«
»Schöner Sprung«, sagte Jim.
So schnell sie konnte, band Darcy das Boot los. Sie kletterte neben Jim hinein, kniete sich hin und sah zu Greg hinab. Das Boot begann, durch das Wasser zu gleiten.
Gregs Arme und Schultern glänzten im Fackelschein. Das Haar klebte wie eingeölt am Kopf. An seinem Gesicht liefen Wassertropfen herab. Er blickte Darcy an. Seine Lippen waren zurückgezogen und entblößten in einer starren Grimasse die Zähne.
Darcy legte ihre Hände auf seine. Sie fühlten sich an, als wären sie in Eiswasser getaucht worden.
Er zwinkerte ihr zu. »Zieh nicht so ein Gesicht«, sagte er. »Es ist nicht schlimm. Es fühlt sich weniger kalt an als vorher.«
»Wenn wir zur Mauer kommen«, sagte Jim, »bin ich an der Reihe. Sie haben schon genug getan. Ich schlage das Loch in die Wand.«
»Versuchen Sie nicht, mir die Gelegenheit zu nehmen, mich aufzuwärmen, indem ich die Spitzhacke schwinge. Ich freue mich schon darauf.«
»Wir können uns alle abwechseln«, sagte Beth.
»Aber ich fange an«, beharrte Greg.
»Das ist Männerarbeit«, sagte Jim. An seinem Tonfall hörte Darcy, dass er Beth mit der Bemerkung ärgern wollte.
Beth nahm die Herausforderung an. »Ach ja, Freundchen? Du riskierst eine dicke Lippe.«
»Entschuldigen Sie sich, Jim«, sagte Greg, während er das Boot weiterzog. »Bringen Sie die Weiber nicht gegen uns auf. Wir sind in der Unterzahl.«
»Weiber?«, fragte Darcy. Sie grinste.
»Wir werden schon mit ihnen fertig«, sagte Jim.
»In einem fairen Kampf vielleicht«, erklärte Greg. »Aber Frauen kämpfen nicht fair. Sie beißen, ziehen an den Haaren …«
»Und machen so was.« Darcy beugte sich über den Bug und drückte eine Hand auf Gregs Schädeldecke. Sein Kopf ging unter. Das kalte Wasser umspülte Darcys Handgelenk. Sofort fühlte sie sich schlecht. Ihre Kehle schnürte sich zusammen.
Dumm! Überhaupt nicht lustig!
»Das war nicht nötig«, sagte Helen.
»Eins zu null für die Frauen«, sagte Beth.
Jim lachte.
»Geht’s ihm gut?«, fragte Carol mit besorgter Stimme.
Greg war noch unter Wasser. Dann schoss sein Kopf durch die Oberfläche. Er verdrehte die Augen und ließ Wasser aus dem Mund spritzen. Der dünne Strahl beschrieb einen Bogen über den Bug und traf Darcy am Kinn. Wasser lief an ihrem Hals hinab. Kreischend umklammerte sie ihre Kehle, doch ein paar Tropfen waren bereits unter den Anorak gelaufen. Wie geschmolzener Schnee glitten sie über die warme Haut, und Darcy schlug mit der Hand zwischen ihre Brüste, als wollte sie Glutstückchen ausdrücken.
Greg sah mit einem albernen Grinsen zu ihr auf.
Als Darcy sich über das Wasser beugte, drückte das metallene Dollbord gegen ihre Rippen. Sie packte Greg bei den Ohren, zog ihn sanft näher und küsste ihn auf den Mund. »Das ist dafür, dass ich dich untergetaucht habe«, flüsterte sie. »Verzeihst du mir?«
»Ich brauche dir nicht zu verzeihen – wir sind quitt.«
Sie lehnte sich zurück und hielt wieder seine Hände.
Das Boot bewegte sich leise vorwärts, und es war nichts zu hören als das Murmeln des Wassers, das den Rumpf umspielte. Jim hielt die Fackel niedrig. Die verkohlte Spitze berührte fast das Wasser neben Greg. Das zerbrochene Brett brannte noch immer in der Mitte, die Flammen klammerten sich an eine Seite wie Finger auf der Suche nach Halt. Das Licht schwankte, wurde stärker und schwächer, während die Flamme ums Überleben kämpfte. Eine goldene Aura umgab das Feuer, ließ Gregs nasse Haut glänzen, verteilte eine dünne Schicht Helligkeit über das Wasser neben ihm und hing in der Luft wie feiner Nebel. Darcy konnte die Höhlenwand zu ihrer Rechten kaum erkennen, denn sie lag beinah außerhalb des Scheins. Sie kannte jeden Zentimeter der Höhle, doch das flackernde Licht und die Schatten gaben ihr einen fremdartigen Anstrich, der Darcy irgendwie verunsicherte.
Lass dich davon nicht irritieren, sagte sie sich. Es ist dieselbe alte Wand.
Sie wirkte lebendig.
Eine Gänsehaut kroch über ihren Körper.
Das ist lächerlich. Deine Fantasie spielt dir Streiche. Sie erinnerte sich an andere Gelegenheiten, bei denen sie so empfunden hatte: als sie nach einem gruseligen Film ins Auto stieg und das Gefühl hatte, jemand hockte hinter ihrem Sitz; als sie spät in der Nacht las und plötzlich Angst hatte, zum Fenster zu sehen, weil sie sicher war, dass sich ein Gesicht dagegendrückte; als sie badete und ein leises Geräusch irgendwo im Haus hörte; als sie nachts aufstand, um zur Toilette zu gehen, und fürchtete, einer der Schatten würde hervorspringen und über sie herfallen. Nur Streiche, die uns das Bewusstsein spielt, um uns zu quälen und erschaudern zu lassen.
Darcy wollte ihren Blick von der Wand abwenden, doch sie hatte auch Angst, nicht hinzusehen.
»Ich glaube, dieser kleine See ist seit dem letzten Mal gewachsen«, sagte Greg.
Seine Stimme verscheuchte Darcys Furcht.
Sie sah zu ihm hinab. Sie legte ihre Finger um seine Handgelenke. »Wir müssen fast …«
Dunkelheit hüllte sie ein. Jemand hinter ihr keuchte. »Scheiße«, murmelte Jim.
Wo eben noch die Fackel gewesen war, leuchtete nun nur noch ein undeutlicher roter Fleck. Er bewegte sich nach unten. Darcy hörte ein Pusten. Das Rot wurde heller. Eine winzige Flamme züngelte durch die Dunkelheit, dann wurde sie kleiner. Jim blies weiter auf die Glut. Der rote Schein schwoll an und ab, doch mit jedem Pusten wurde er schwächer.
»Um Gottes willen«, flüsterte Helen. »Darcy, Sie haben doch eine Taschenlampe.«
»Kein Problem«, sagte sie. Sie zog die Taschenlampe vom Gürtel und schaltete sie ein. Der Strahl schoss durch die Dunkelheit, blass und kalt nach dem weichen Licht der Fackel. Der helle innere Kreis erfasste die Teufelsboje, die sich gerade einmal zwei Meter hinter Gregs Rücken befand.
»Pass auf, wo du hingehst«, sagte Darcy.
Greg blickte über die Schulter. »Hoppla.« Er machte einen Schritt zur Seite und drehte das Boot, sodass es zwischen der kleinen, schartigen Insel und der Höhlenwand hindurchschwimmen konnte.
»Hier ist Tom gestürzt«, sagte Beth.
»Ja, das ist die Stelle.« Darcy hob die Taschenlampe. Der Lichtstrahl schnitt einen hellen Tunnel durch die Schwärze und endete an Elys Mauer.
Heute erinnerte sie eher an eine Tür als an eine Mauer – eine Tür aus Gestein und Beton.
Darcy vermutete, dass Ely diese Stelle für seine Absperrung ausgesucht hatte, weil die Natur es ihm hier leichtgemacht hatte. Die Höhle schien dort zu enden, der Durchgang in den anderen Teil hatte nur aus einem Spalt bestanden, der vermutlich nicht breiter als ein Meter war.
Ehe die Mauer erbaut wurde, hatte es den Lake of Charon nicht gegeben. Der Fluss war hier wohl nur ein flacher Bach gewesen, so wie auf der anderen Seite des Bootsstegs, wo die Höhle höher war. Darcy stellte sich vor, dass Ely das Wasser nicht einmal in die Schuhe gelaufen war, als er sich hingehockt und die ersten Steine gemauert hatte.
Obwohl er am Boden einen kleinen Spalt offen gelassen hatte, beeinträchtigte die Mauer den natürlichen Lauf des Flusses Styx. Ungefähr ein Meter zwanzig des Bauwerks lag unter Wasser. Der sichtbare Teil war in etwa ein Quadratmeter groß.
Dort werden wir den Durchbruch machen, dachte Darcy. Unter Wasser sollten wir besser nichts beschädigen, sonst läuft der See zur anderen Seite hin ab.
»Wo soll ich das Boot parken?«, fragte Greg.
»Du kannst es ruhig bis zum Ende schieben«, erklärte sie.
Er trat aus dem Weg, hielt das Boot an der Backbordseite fest und drückte es vorsichtig nach vorn, bis es mit einem sanften Ruck zum Stehen kam.
»Okay«, sagte Darcy. »Ich sichere es.« Sie bat Jim, ihr Platz zu machen, dann hob sie die Bugleine auf, trat vor ihn und band das Seil auf Schulterhöhe um einen aus dem Wasser ragenden Tropfstein. Derselbe Tropfstein, an dem sie sich festgehalten hatte, als sie den Touristen die Geschichte von Elys Mauer erzählt hatte.
Es schien Tage her zu sein.
Sie erinnerte sich, dass sie von Kyles lüsternem Blick genervt gewesen war.
Ich frage mich, wie Paula mit ihm klarkommt, dachte sie.
»Wie wär’s mit ein bisschen Licht?«, erkundigte sich Greg.
Mit einer Hand auf dem Stein wandte Darcy sich um und richtete die Taschenlampe so weit nach oben, dass sie Greg nicht in die Augen leuchtete, als er die Arme ausstreckte und von Carol die Spitzhacke entgegennahm.
Greg hielt die Spitzhacke über dem Kopf wie ein Soldat sein Gewehr, watete an Darcy vorbei am Boot entlang und ging ein paar Schritte nach links. Er blieb vor Elys Mauer stehen und blickte zurück. »Das kann nicht lange dauern«, sagte er lächelnd.
»Hoffentlich«, meinte Darcy. »Versuch, unter Wasser nichts kaputt zu machen.«
»Aye, aye.« Er drehte sich zur Mauer, holte mit der Spitzhacke aus und schlug zu. Bei dem ohrenbetäubenden metallischen Lärm, mit dem das Werkzeug auf die Mauer traf, zuckte Darcy zusammen. Ein Stück Stein flog aus der Mauer und fiel vor Greg ins Wasser. Darcys Ohren klingelten noch, als er zum zweiten Mal zuschlug.
»Großer Gott.« Carols Stimme.
»Damit könnte man Tote aufwecken«, murmelte Beth.
Greg hieb immer wieder zu, weit oben, wo die Mauer auf den uralten weichen Kalkstein der Höhlendecke traf. Splitter flogen durch die Luft. Klumpen platschten ins Wasser. Die meisten Hiebe zielten auf den Mörtel in den Mauerritzen. Manchmal fielen ganze Blöcke heraus und mit solcher Kraft ins Wasser, dass es Greg ins Gesicht spritzte.
Als das Loch größer wurde, erwartete Darcy, die Dunkelheit auf der anderen Seite der Höhle zu sehen. Stattdessen erblickte sie eine weitere Schicht Steine. Greg hackte weiter auf die äußere Mauer ein, bis die Öffnung groß genug war, um hindurchzukriechen – wenn die zweite Schicht nicht gewesen wäre.
Schwer atmend legte er die Spitzhacke auf seiner Schulter ab. Er schüttelte den Kopf und drehte sich um. »Dieser Ely … hat keine halben Sachen gemacht. Ich frage mich, wie dick er das verdammte Ding gemauert hat.«
»Warum klettern Sie nicht an Bord und ruhen sich aus?«, schlug Jim vor. »Ich übernehme das eine Weile.«
»Ich glaube, ich nehme Sie beim Wort.«
Darcy nahm die Spitzhacke von Greg entgegen. Sie war warm, wo er den Stiel umklammert hatte. Das Boot wackelte, als Greg hineinkletterte. Er stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und schnappte nach Luft.
Jim zog sich bis auf Boxershorts und Schuhe aus, setzte sich auf das Dollbord und ließ sich ins Wasser hinab. »Puh! Verdammt!«
»Schwingen Sie die verfluchte Hacke«, sagte Greg, »dann wird Ihnen sofort warm.«
Darcy reichte Jim die Spitzhacke. Er ging damit zur Mauer. Während Beth ihm leuchtete, begann er, auf die innere Wand einzuschlagen.
Darcy drehte sich zu Greg. Helen hatte ihm offenbar ihren Pullover gegeben. Er benutzte ihn als Handtuch. Darcy hob sein Kleiderbündel auf und stieg über eine Sitzbank. Sie stand neben ihm und sah zu, wie er sich vorbeugte und mit dem Pullover über seine Beine strich. Als er den Pullover nach hinten schwang, um sich den Rücken abzutrocknen, legte Darcy seine Kleider ab. »Ich kümmere mich um deinen Rücken«, bot sie mit lauter Stimme an, um das Klirren der Spitzhacke zu übertönen.
Er reichte ihr den feuchten Pullover und drehte sich um. Sie wischte seinen Rücken ab. Dann ging sie in die Hocke und rieb über seinen Hintern und die Rückseite der Beine.
»Sieh mal einer an!«, rief Jim.
Darcy blickte über die Schulter und sah einen schwarzen Fleck in der Mauer. Er war durchgebrochen.
»Gott sei Dank«, murmelte Helen.
Der Lärm begann von Neuem.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, verkündete Beth.
»Dann fängt der Spaß erst richtig an«, sagte Greg.
Darcy tätschelte seinen Hintern. »Macht dir das hier etwa keinen Spaß?«
Obwohl sie immer noch seine Beine abtrocknete, wandte er sich um. Sein Geschlecht befand sich auf ihrer Augenhöhe. Sie warf einen Blick auf die Ausbeulung in der Unterhose, senkte dann die Augen und begann, mit dem Pullover über seine Oberschenkel zu reiben. Greg legte eine Hand auf ihren Kopf. Er wusste genauso gut wie sie, dass er die Vorderseite seiner Beine schon abgetrocknet hatte.
Darcy blickte zu Carol. Die Frau hatte das Gesicht abgewandt. Ihre Augen ruhten auf Jim.
Darcy fuhr mit dem Pullover an Gregs Bein hinauf und berührte wie zufällig mit dem Handrücken die feuchte Unterseite des Schlüpfers. Er zuckte ein wenig.
»Deine Unterhose ist durchnässt«, sagte sie.
»Ach, wirklich?«
Sie rieb sanft darüber, nur eine Schicht des Pullovers zwischen ihrer offenen Hand und dem Schlüpfer. Sie krümmte die Finger um seinen Hodensack, ließ die Handfläche über die Unterseite seines dicken erigierten Penis gleiten, stand dann auf und sagte lächelnd: »Fertig.«
»Ich bin froh, dass es hier so dunkel ist«, sagte er dicht an ihrem Ohr.
»Gibt es etwas, das die anderen nicht sehen sollen?«
»Wie wär’s, wenn du mir meine Hose reichst?«
»Meinst du nicht, du solltest diese fiese nasse Unterhose ausziehen?«
»Ach, ich glaube nicht. Vielleicht ein anderes Mal. Meine Hose, bitte.«
»Du gefällst mir besser ohne.«
»Das ist ein verflucht ungünstiger Zeitpunkt für dich, um scharf zu werden.«
»Ich?«, fragte Darcy. »Du bist doch derjenige mit dem …«
»Geschafft!«, rief Jim. »Das sollte reichen!«
Darcy sah sich um. Jim hielt die Spitzhacke an seiner Seite und trat dicht an die Mauer heran.
Das Loch vor ihm war ungefähr sechzig Zentimeter breit und fast einen Meter hoch – auf jeden Fall groß genug, um hindurchzukriechen.
Die Unterkante lag knapp über der Wasseroberfläche. Jim lehnte sich mit der Brust dagegen, als er sich vorbeugte, um in die Dunkelheit zu spähen.
»Was siehst du?«, fragte Beth.
»Das soll wohl ein Witz sein.«
Selbst wenn Jim nicht im Weg gewesen wäre, hätte die Taschenlampe aus diesem Winkel nicht durch das Loch leuchten können.
»Es ist so dunkel wie …« Jim stolperte einen Schritt zurück, und Darcy sah einen dicken, hellen Pflock aus seinem Mund ragen. Er wurde herausgezogen, und Jim begann zusammenzusacken.
Eine Hand schoss aus dem Loch hervor, packte sein Haar und riss ihn nach vorn. Der Kopf wurde in die Dunkelheit gezogen.
Beth schrie.
Fassungslos sah Darcy, wie Jims Körper aus dem Wasser glitt und durch die Öffnung in Elys Mauer verschwand.