15

Nachdem das Geröll weggeräumt war, kroch Hank über die Felsplatte. Das Wasser, das seine Hände und Knie umspülte, war nur wenige Zentimeter tief, aber eiskalt. Kalte Luft blies ihm entgegen, als wäre das kleine Loch im Berghang die offene Tür eines Kühlschranks. Er war verschwitzt, weil er unter der heißen Sonne den Vorschlaghammer geschwungen hatte, und der Lufthauch aus der Höhle kühlte die feuchte Haut seines nackten Oberkörpers.

Eine Gänsehaut kroch an seinem Rücken empor, als er den Kopf in die Höhle streckte.

Sein Körper hielt den Großteil des Sonnenlichts ab. In dem trüben Schatten konnte er nur die Fortsetzung des flachen, schmalen Flusses erkennen.

Er kroch weiter, bis er ganz in der Höhle war. Kälte umfing ihn. Die Dunkelheit drückte ihn nieder. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Obwohl er die Wände oder die Decke der Höhle nicht sehen und erst recht nicht fühlen konnte, hatte er das Gefühl, sie würden sich zusammenziehen, ihn einschließen, ihn ersticken. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gedrückt.

Wasser umspielte seine Hände, als er über das Flussbett strich. Das ist stabiler Fels, sagte er sich. Es fühlt sich an wie Beton. Diese Höhle gibt es schon seit Tausenden, vielleicht Millionen von Jahren. Sie wird nicht über dir einstürzen.

Es ist stabiler Fels. Es ist eine Höhle. Sie ist sicher.

»Huhu, Hank«, rief Lynn hinter ihm in singendem Tonfall. »Was machst du da drin?«

Was mache ich eigentlich hier drin?, fragte er sich.

Mich selbst auf die Probe stellen? Testen, ob ich es aushalten kann?

Ich halte es aus, egal, was passiert. Paula ist am anderen Ende dieser Dunkelheit, und ich werde sie rausholen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Chris.

Es tat gut, ihre Stimme zu hören.

»Alles prima.«

So prima, als drückte einem jemand ein Kissen aufs Gesicht, damit man den Löffel abgab.

Hank begann rückwärtszukriechen. Er wollte sich rasch aus der bedrückenden Enge befreien, doch er zwang sich, sich langsam zu bewegen.

Dann war er draußen. Er atmete tief ein. Er roch die harzige Bergluft. Das Sonnenlicht hüllte ihn in wunderbare Wärme.

Die anderen beobachteten ihn, während er keuchend im Wasser stand. Er sah Besorgnis auf Chris’ Gesicht, Verwirrung auf Brads und ein seltsames, fast anzügliches Grinsen auf Lynns, als ihr Blick über seinen Körper schweifte.

»Was ist los mit dir?«, fragte Brad.

»Enge Räume. Das mag ich nicht.«

»Hast du Klaustrophobie?«

»Aber meine Lepra ist noch im Anfangsstadium.«

»Hm«, sagte Lynn, »das ist ja ein Ding.«

Brad zog eine Braue hoch und rieb sich über seine ausgeprägten Brustmuskeln. Wie Hank hatte er sich das Hemd ausgezogen, während sie daran gearbeitet hatten, die Mauer zu durchbrechen. Er hatte den Körper eines Mr.-Universum-Anwärters, und seine verschwitzte Haut glänzte im Sonnenlicht, als hätte er sich eingeölt. Hank vermutete, dass ihm nicht die Brust juckte, sondern er darüberstrich, um Chris’ Aufmerksamkeit auf seine erstaunlichen Körpermaße zu lenken. Doch sie sah Hank an, nicht Brad.

»Vielleicht solltest du hier warten«, riet Brad ihm, und Lynn nickte zustimmend.

»Es wird schon gehen.«

»Und wenn nicht? Stell dir vor, wir gehen da rein, und du kriegst eine Panikattacke.«

»Mach dir darum keine Sorgen.«

»Ich finde, du solltest hierbleiben«, sagte Lynn.

Natürlich findest du das, dachte Hank. Du kannst dir nichts Schöneres vorstellen, als mich für dich allein zu haben.

Er nahm an, dass das Mädchen weniger daran interessiert war, ihn zu verführen, als daran, Chris auszustechen. Eine Art Wettbewerb, der nichts mit Begierde, aber umso mehr mit ihrem Ego zu tun hatte.

Vorhin, als sie das Auto auf der unbefestigten Straße auf der anderen Seite des Tals geparkt hatten, war sie ausgestiegen, hatte sich die Jacke um die Hüfte gebunden und ihre Uniformbluse aufgeknöpft. Darunter war nichts als nackte Haut. Sie zog die Bluse nicht aus. Sie zog sie nur hoch und verknotete die Ecken unter ihren Brüsten. Aus den Blicken, die sie ihm zuwarf, schloss Hank, dass die Show zu seinem Vergnügen aufgeführt wurde, nicht zu Brads.

Als es dazu kam, die Ausrüstung für die Wanderung zur Höhle zu verteilen, bestand sie darauf, den Rucksack mit den Taschenlampen und Schokoriegeln zu tragen. Sie drehte sich zu Hank, während sie ihn aufsetzte. Beim Bemühen, in die Trageriemen zu schlüpfen, rutschte ihre Bluse an einer Seite herunter und entblößte für eine Weile die linke Brust, bis sie das Problem bemerkte und sie mit einem »Hoppla« wieder bedeckte.

Hank hätte sich über ihre Masche amüsieren können, doch er spürte Lynns ziemlich niederträchtige Absicht dahinter – und Chris musste die Vorführung mitansehen. Chris beklagte sich nicht, aber Hank ertappte sie, wie sie leicht die Stirn runzelte, manchmal den Kopf schüttelte und sogar die Augen verdrehte, als bäte sie Gott um Erlösung, während Lynn, natürlich ganz aus Versehen, ihre Brust zur Schau stellte.

Chris blieb an seiner Seite, als sie durch das enge Tal und den Hang hinauf zur Höhle wanderten. Lynn setzte ihre Taktik fort, indem sie sich ein kleines Stück vor ihnen hielt, mit dem Hintern wackelte und zwischendurch rückwärts ging, um Hank ihre halb nackten, hüpfenden Brüste zu präsentieren. Immer, wenn sie in seine Richtung sah, sprach sie mit Hank, als wären Chris und Brad gar nicht da. Sie erzählte ihm von Tom. »Er ist ein netter Kerl«, sagte sie, »aber es war nichts Ernstes zwischen uns. Ich meine, er ist noch etwas unreif.« Sie fragte, ob Hank noch verheiratet sei. »Nein«, sagte er. Sie fragte zurück: »Was ist mit deiner Frau passiert?« Etwas Dunkles wallte in ihm auf. »Sie ist gestorben.« Und Lynn sagte: »Hoppla.« Du bist ein Miststück, dachte er. Doch Chris sah ihn mit einem zärtlichen Blick an und sagte leise: »Das tut mir leid.«

Nun wollte Lynn, dass er mit ihr zurückblieb, während Chris und Brad in die Höhle hinabstiegen.

Keine Chance, dachte er.

Selbst wenn er nicht wegen Paula hätte hineingehen müssen, hätte ihn die Klaustrophobie allein nicht dazu bringen können, bei Lynn zu bleiben. Er wollte nichts mit ihr zu schaffen haben.

Und er wollte nicht, dass Chris und Brad zusammengewürfelt wurden.

Brad ging zwar nicht so plump vor wie Lynn, doch er hatte offenbar ein Auge auf Chris geworfen. Er wäre bestimmt sehr froh gewesen, wenn Hank mit Lynn zurückblieb. Dann hätte er Chris in der dunklen Höhle für sich allein gehabt.

»Offen gesagt«, meinte Brad, »kann dein Zustand uns alle in Gefahr bringen.«

»Offen gesagt, ist das Schwachsinn.«

»Chris, vielleicht kannst du ihn zur Vernunft bringen.«

Chris zog die Brauen zusammen und warf Hank einen Blick zu. Dann sah sie zu Brad. »Hank ist bereits bei Vernunft. Es ist seine Entscheidung. Ich bin sicher, dass er sich seiner … Grenzen bewusst ist. Wenn er glaubt, dass er es schafft, sollte er es versuchen. Ich möchte ihn dabeihaben.«

»Und was soll ich dann machen?«, fragte Lynn mit weinerlicher Stimme. »Soll ich allein hierbleiben?«

»Oder du gehst zurück zum Auto«, schlug Hank vor.

Die Bemerkung löste bei Chris ein kurzes Grinsen aus.

Lynn zog einen Schmollmund und legte den Kopf schräg. Sie verschränkte die Arme und drückte so ihre Brüste zusammen und nach oben. »Ich werde also einfach aussortiert?«

»Komm mit uns, wenn dir das lieber ist«, sagte Chris.

»Vielleicht mache ich das.«

»Es hängt von dir ab«, meinte Hank.

»Komm mit uns«, drängte Brad sie. »Warum nicht?«

Sie nickte entschlossen. »Ich glaube, das mache ich.«

Na toll, dachte Hank. Scheiße.

»Das ist gut«, sagte er zu ihr. »Du kannst den Rucksack tragen. Darin bist du sehr versiert.«

Sie wackelte mit den Augenbrauen, grinste und sagte: »Darauf kannst du wetten.«

Während Hank und Brad abwechselnd mit der Spitzhacke, dem Vorschlaghammer und dem Meißel, die Hank im Baumarkt gekauft hatte, auf die Schichten aus Stein und Beton eingeschlagen hatten, hatte Chris die Petroleumlampe befüllt und entzündet. Jetzt hockte sie neben der zischenden Lampe, steckte die Brennstoffflasche in den Rucksack, holte vier Taschenlampen heraus und legte sie auf den Boden. Dann hob sie den Rucksack hoch und hielt ihn Lynn hin.

Lynn zwängte ihre Arme in die Trageriemen. Obwohl sie sich dabei mehr streckte und wand als nötig, öffnete sich die Bluse nicht ganz so weit wie zuvor, und es gelang ihr nicht, eine ihrer Brüste vollständig zu entblößen. Als sie den Rucksack auf den Schultern hatte, zog sie züchtig den Knoten in der Bluse fest.

Chris’ Mundwinkel hoben sich, während sie das Mädchen beobachtete. »Willst du nicht deine Jacke anziehen?«, fragte sie.

Lynn klopfte auf die Ärmel, die sie sich um die Hüfte gebunden hatte. »Wenn ich sie brauche, habe ich sie dabei.«

Chris blickte zu Hank. Sie sah aus, als würde sie gleich loslachen. »Wie du meinst«, sagte sie zu Lynn.

»Genau. Ich meine, es ist kochend heiß hier draußen. Das wird angenehm in der Höhle.«

Während sie sprach, zog Brad sich sein Polohemd über den Kopf.

»Warum nimmst du nicht auch noch mein Hemd?«, schlug Hank vor. »Ich brauche es nicht.«

»Wenn es passt«, sagte Brad.

Hank warf es ihm zu, und Brad zog es über sein eigenes. Seine Arme passten in die kurzen Ärmel, doch er konnte es über seiner massigen Brust nicht zuknöpfen.

»Nichts, was man mit einer Diät nicht kurieren könnte«, sagte Hank.

Brad stieß ein prustendes Lachen aus.

Hank setzte sich neben dem Höhleneingang auf den Hang und schlüpfte in die Jogginghose, die Chris ihm gekauft hatte. Während er sie über seine Shorts zog, sah er, wie Chris ebenfalls in ihre Hose stieg. Sie ließ ihre roten Shorts an. Erst auf einem, dann auf dem anderen Bein balancierend, zog sie die Hose hoch, und ihre schlanken nackten Beine verschwanden unter dem bauschigen Kleidungsstück. Statt die weite weiße Bluse, mit der sie sich bedeckt hatte, auszuziehen, stopfte sie sie in den Hosenbund. Als sie die Joggingjacke anzog, hielt sie die Bündchen der Bluse fest, damit die Ärmel nicht hochrutschten. Wie ein Kind, dachte Hank. Genau, wie ein Kind es machen würde.

Sie ließ die Jacke offen.

Hank stand auf und zog seine Jacke an. Sie klebte an seiner verschwitzten Haut. Er schloss den Reißverschluss, steckte sich eine Taschenlampe in die Seitentasche und nahm den Vorschlaghammer.

»Sollen wir den Hammer und die Spitzhacke mitnehmen?«, fragte Brad. Er hatte sich die Spitzhacke schon über die Schulter gelegt.

»Eins von beiden reicht, schätze ich«, sagte Hank. »Wir können es uns auch leichter machen.«

Sie beschlossen, den Vorschlaghammer und den Meißel zurückzulassen. Brad bestand darauf, die Spitzhacke zu tragen. Hank hob die Starklichtlaterne an dem Drahtgriff hoch. »Ich nehme an, wir sind alle so weit«, sagte er, und ein Zittern durchlief ihn, als er sich zur dunklen Öffnung der Höhle wandte.

Er kroch zuerst hinein, auf Knien und einer Hand, die Laterne am ausgestreckten Arm vor sich. Die beiden Glühkörper leuchteten silbrig weiß und verströmten ein erstaunlich helles Licht. Er sah ein ganzes Stück des Flusses vor sich, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Wände um ihn herum bildeten einen niedrigen, engen Tunnel. Obwohl die Decke einige Zentimeter über seinem Kopf war, hatte er das Gefühl, sie drückte ihn nieder und presste die Luft aus seiner Lunge. Sein Herz hämmerte. Er schnappte nach Luft. Doch er kroch weiter.

»Alles klar?« Chris’ Stimme. Dicht hinter ihm.

»Ja«, brachte er heraus.

Er hörte ein Klirren, offenbar die Spitzhacke, die gegen eine Höhlenwand gestoßen war.

Sie sind alle hinter mir, dachte er. Versperren den Ausgang. Mein Gott.

Ein Schraubstock schloss sich um seine Brust. Er hatte ein Klingeln in den Ohren. Jedes Mal, wenn er Luft in seine schrumpfende Lunge sog, gab er ein hohes, pfeifendes Geräusch von sich.

Eine Hand strich über seine rechte Wade. Chris. »O Mann«, sagte sie, »das muss wirklich schlimm für dich sein. Willst du umkehren?«

»Nein«, keuchte er.

Die Hand entfernte sich, und er kroch weiter. Obwohl die Höhle ihn zu erdrücken schien, konnte er sehen, dass sie sich ausweitete. Ein Stück vor ihm schienen die Wände und die Decke zurückzuweichen. Er hastete voran, sprang auf und machte Platz, damit die anderen hinter ihm hereinkommen konnten. Dann blieb er stehen und hob die Laterne.

Die mit Stalaktiten übersäte Decke befand sich vielleicht zehn Meter über ihm. Die Wände links und rechts waren am äußersten Rand des Laternenscheins kaum erkennbar. Er war von Säulen und Stalagmiten umgeben und kam sich vor, als stünde er in einem steinernen Wald. Die Gebilde glänzten und glitzerten und warfen dunkle Schatten.

»Wie geht’s dir?«, fragte Chris.

Er drehte sich um und sah, wie sie aufstand. Ihre Hosenbeine waren unterhalb der Knie nass. Sie wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab. Sie sah wunderbar aus.

»Besser«, sagte er. Es ging ihm wirklich besser, er hatte es nur bis gerade eben nicht bemerkt. Er fühlte sich immer noch unter der Masse des Bergs gefangen, er hatte immer noch Mühe zu atmen, doch er keuchte nicht mehr, und sein Puls hatte sich beruhigt. Das Herz hämmerte nicht länger, als versuchte es, seinen Brustkorb zu zertrümmern. »Es ist nicht … so eng«, sagte er.

Chris kam näher, und er schwenkte die Laterne aus dem Weg. Sie legte die Arme um ihn und drückte ihre kühle Wange an seine. Und der Schraubstock um seine Brust öffnete sich ein wenig weiter. Er legte seine freie Hand auf den straffen Hügeln ihres Hinterns. Drückte ihn. Als Lynn aus dem Tunnel kroch, schob er die Hand auf Chris’ Rücken hoch.

Lynn stand auf und torkelte auf sie zu. Der Knoten in ihrer Bluse hatte sich gelöst. Die Brüste waren von dem herabhängenden Stoff nur halb bedeckt und wippten und wackelten. Als Lynn stehen blieb, bewegten sie sich noch einen Augenblick lang weiter. Sie grinste Hank an und schüttelte den Kopf.

Während Brad hinter ihr hereinkam, schloss sie einen Knopf auf Höhe ihrer Taille und kurz darauf einen zweiten ein paar Zentimeter darüber.

Hank ließ den Arm sinken, den er um Chris gelegt hatte. Sie küsste seine Wange, dann wandte sie sich um. Hank konnte die Wärme, die sie hinterlassen hatte, noch spüren. Zu schnell sickerte die Kälte ein.

»Wie geht es dir?«, fragte Brad.

»Besser.«

»Da hinten hast du schrecklich geklungen.«

»Tja, jetzt ist es nicht mehr so schlimm.« Aber es schien sich wieder zu verschlechtern, nun, da Chris ihn nicht mehr hielt.

»Gut.« Brad legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick schweifen. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Ist euch klar, dass wir die ersten Leute sind, die einen Fuß hier reinsetzen, seit …«

»1923«, half ihm Lynn und wirkte sehr zufrieden mit sich.

»Mann«, fuhr Brad fort. »Stellt euch das mal vor. Das ist Ehrfurcht einflößend. Ich habe schon mein ganzes Leben lang von dieser Hälfte der Höhle gehört. Der Gedanke, dass niemand außer uns … niemand … in dieser ganzen Zeit je hier gewesen ist. Verdammt, mein Großvater war 1923 noch ein Kind. Unglaublich.«

»Unglaublich unheimlich ist das«, sagte Lynn. Sie sah sich um. Ihre Oberlippe war hochgezogen. »Ich meine, hier hat Elizabeth Mordock ins Gras gebissen.«

Chris, die um Hank herumgegangen war, während die anderen sich unterhielten, nahm seine linke Hand. Die Enge in seiner Brust löste sich ein wenig. Er sah sie an und lächelte.

Er atmete ein paarmal schnell durch, dann sagte er: »Wir sollten besser weitergehen.«

Sie hielt seine Hand fest, als sie sich umwandten.

»Mitten durch den Fluss?«, fragte Chris.

»Der Fluss heißt Styx«, informierte Lynn sie.

Hank inspizierte den beleuchteten Bereich vor sich und sah, dass der Fluss selbst, im Gegensatz zu den höher liegenden Ufern, frei von Hindernissen war. Die ganzen Stalagmiten und Säulen und anderen Steinformationen befanden sich seitlich des schmalen Flusses.

»Es ist viel einfacher, wenn wir uns an den Fluss halten«, sagte er und ging mit Chris an seiner Seite los.

»Ich hätte nichts dagegen, im Trockenen zu laufen«, sagte Lynn. Der Strahl ihrer Taschenlampe bohrte sich zwischen die Säulen und Zapfen auf dem Hang zu ihrer Rechten. Hank warf einen Blick zur Höhlenwand, die ungefähr zehn Meter vom Flussufer entfernt war. Lynns Lampe schwang zur anderen Seite. Dort sah es genauso aus. »Vergiss es«, murmelte sie.

Nasse Füße sind ihr immer noch lieber, dachte Hank, als in den Schatten herumzuklettern.

Kann man ihr nicht übel nehmen.

»Verflucht unheimlich«, sagte sie.

»Man sollte meinen, du bist an die Höhle gewöhnt«, meinte Brad.

»Ja, klar. An die beleuchtete Seite. Wo es einen Gehweg gibt, verdammt noch mal. Und wo keine verdammte Leiche herumliegt.«

»Ich glaube nicht, dass wir auf eine Leiche stoßen werden«, sagte Brad. »Sie sollte auf dem Grund einer Spalte liegen.«

»Ja, gut, aber sie ist trotzdem hier. Ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie hier ist.« Sie platschte hinter Hank durch das Wasser, tauchte an seiner Seite auf und legte die Finger um seinen Oberarm. Den Arm, mit dem er die Laterne hielt.

»Die brauche ich selbst«, sagte er.

»Klar.« Sie ließ ihn los, blieb aber neben ihm.

Der Fluss war zu schmal, um zu dritt nebeneinanderzugehen, wie Hank bald bemerkte. Obwohl Lynn ihn mehrmals anstieß, weigerte er sich, ihr Platz zu machen und Chris hinüberzudrängen. Sollte Lynn doch diejenige sein, die an die Uferböschung gedrückt wurde. Vielleicht würde sie irgendwann die Lust verlieren.

Als sie zu einem großen Felsbrocken am Rand des Flussbetts kamen, drehte sich Lynn zur Seite, um sich vorbeizuquetschen. Ihre linke Brust streifte Hanks Oberarm. »Entschuldigung«, sagte sie und drängte sich vor ihm durch die Engstelle. Durch die Reibung war ihr die Bluse von der Brust gerutscht. Ihr Nippel ragte hervor wie eine Fingerspitze und berührte beinahe das Glas der Laterne. Hank schwenkte die Lampe schnell aus dem Weg, obwohl ihm durch den Kopf ging, dass er sie sich verbrennen lassen könnte, um ihr eine kleine Lektion zu erteilen.

»Hoppla«, sagte sie und bedeckte sich.

»Vielleicht solltest du vor uns bleiben«, meinte Hank. »Oder hinten bei Brad gehen.«

»Ja«, ertönte Brads Stimme. »Ich bin hier ganz allein.«

»Ach, wie schade.« Sie ging seitwärts und grinste Hank an. Ihr Rucksack stieß gegen einen Stalagmiten. Kreischend wirbelte sie herum und fiel mit dem Gesicht voran ins Wasser.

Chris stöhnte. Brad begann zu lachen.

Hank amüsierte sich, doch zugleich war er besorgt. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Scheiße, scheiße, scheiße«, keuchte sie und stemmte sich auf Händen und Knien hoch. Chris eilte zu ihr, nahm ihren Arm und half ihr auf. »Verdammt!«

Lynn drehte sich um. Schlotternd beugte sie sich vor, sah an sich herab und schüttelte den Kopf.

»Hast du dir wehgetan?«, fragte Chris.

»Ja! Nein.« Mit weinerlicher Stimme fügte sie hinzu: »Scheiße, ich bin total durchnässt.«

Das feuchte Haar hing ihr verfilzt in die Stirn. Das Gesicht tropfte. Die Bluse war dunkel und klebte an Brust und Bauch. Die Vorderseite ihrer Hose haftete an den Beinen.

»Lass mich den Rucksack tragen«, bot Chris an. Sie hielt ihn fest, während Lynn sich aus den Trägern wand.

Brad kam nach vorn und blieb neben Hank stehen. Er kicherte immer noch. »Soll ich einen Notarzt rufen?«, fragte er.

»Leck mich.« Sie zupfte sich die Bluse von der Haut, als ekelte sie sich vor der Berührung. Dann öffnete sie die beiden unteren Knöpfe und zog sie aus.

Brad stieß einen Pfiff aus.

»Du musst nicht hinsehen«, sagte sie. Mit dem trockenen Rücken der Bluse wischte sie sich über das Gesicht, die Arme, die großen, blassen Brüste, den Bauch und die Seiten.

Hank sah ihr zu, doch der Anblick erregte ihn nicht. Sie hatte eine tolle Figur, das konnte er nicht verleugnen. Aber es war ihm peinlich, dass sie sich so vor Chris auszog. Und er ärgerte sich. Ihr ganzes Theater und das aufreizende Benehmen hatten zu einem Unfall geführt, der auch weniger glimpflich hätte ausgehen können, einem Unfall, der ihr Fortkommen behinderte und den Moment hinauszögerte, an dem er Paula erreichen würde.

»Halte mal«, sagte Lynn und reichte Chris die Bluse. Ohne den Versuch zu unternehmen, sich zu bedecken, stapfte sie auf Hank zu. »Die Laterne«, murmelte sie. Hank hielt sie tief an seiner Seite. Als sie sich mit ausgestreckten Armen näherte, hob er sie.

»Vorsicht«, warnte er Lynn.

Sie trat dicht heran, und es sah aus, als wollte sie sich die brennende Lampe an die Brust drücken. Sie seufzte. »Ah. Ah, das fühlt sich gut an.« Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihr Mund stand offen. Sie hätte unter der Dusche stehen und sich in dem heißen Strahl aalen können. Sie atmete tief durch. Sie begann, sich über die Brüste zu reiben.

»Großer Gott«, blaffte Hank.

Ihre Augen sprangen auf.

»Zieh deine Jacke an und lass uns weitergehen.«

Sie warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Ich wollte mich nur aufwärmen.«

»Mir wird auch schon ganz heiß«, sagte Brad.

Mürrisch sah sie zu Brad, dann knotete sie die Ärmel ihrer Jacke von der Taille los. Sie trat von der Laterne zurück und zog die Jacke an. Nachdem sie den Reißverschluss bis zum Hals zugezogen hatte, sagte sie zu Hank: »So, bist du jetzt zufrieden?«

»Können wir weitergehen?«

Chris, die sich hinter dem Mädchen näherte, sah Hank in die Augen. Sie schüttelte den Kopf, grinste und tippte Lynn auf die Schulter.

Lynn nahm die nasse Bluse entgegen. »Warum grinst du so? Findest du das lustig?«

»Ich freue mich nur für deine Möpse«, sagte Chris. »So haben sie es bestimmt viel wärmer.«

»Sehr witzig.« Lynn band sich die Ärmel der Bluse um die Hüfte. »Du bist ein richtiger Spaßvogel. Ich weiß sowieso nicht, was ich überhaupt hier mache.«

»Du musst ja nicht bleiben«, entgegnete Chris.

»Ach, das würde dir gefallen, was?«

»Du hältst uns auf«, sagte Hank.

»Ich bin gestürzt! Kapierst du das nicht?«

»Es tut mir leid, dass du hingefallen bist, aber …«

»Willst du, dass ich gehe?«

Das ist meine große Chance, dachte Hank. Sag ja, und sie verschwindet wahrscheinlich.

Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er Mitleid mit ihr hatte. Sie war irgendwie wie ein Kind, eine ungezogene Göre, aber eine Göre, die nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Liebe hungerte.

Werd nicht weich, sagte er sich. Sie ist eine Nervensäge, und das geht so weiter, wenn du sie jetzt nicht loswirst.

»Also?«, fragte sie. »Nur ein Wort, dann verschwinde ich von hier.«

»Ich weiß nicht. Wirst du dich benehmen?«

»Benehmen? Willst du mich verarschen? Du klingst wie mein Alter.«

»Ich glaube«, erklärte Brad, »dass Hank dich darum bitten möchte, dich nicht länger wie eine läufige Hündin aufzuführen.«

»Verschon mich damit, ja?«

Chris legte Lynn eine Hand auf die Schulter. »Du willst doch nicht allein zurückgehen«, sagte sie.

Lynn starrte sie an. Ihr schien keine schlaue Entgegnung einzufallen.

»Setzen wir uns in Bewegung«, sagte Hank. »Nimm die Laterne, Lynn. Du kannst vorgehen, das Ding wärmt dich auch.«

Nickend nahm sie die Laterne entgegen. Sie drehte sich um und begann, flussaufwärts zu gehen, wobei ihre Schuhe plätschernde Geräusche machten. Brad folgte ihr mit der Spitzhacke auf der Schulter. Chris legte ihre Hand in Hanks. Sie liefen hinter Brad durch das Wasser.

Sie waren im Schatten. Obwohl Hank die Helligkeit vor sich sehen konnte, schien die Dunkelheit ihn zu erdrücken. Manchmal, wenn Lynn einer Kurve im Flusslauf folgte und hohe Felsen das Licht abhielten, hatte er das Gefühl, die Höhle schrumpfte. Sein Herz klopfte wild. Er bekam schlecht Luft. Wenn die Helligkeit vor ihm auftauchte, ließ der Druck etwas nach.

Er wünschte, er hätte die Laterne nicht Lynn überlassen.

Wenigstens hängt sie uns nicht mehr auf der Pelle, sagte er sich. Dann fiel ihm auf, dass ihre nervigen Possen ihn eine Weile so abgelenkt hatten, dass er ganz vergessen hatte, in einer Höhle zu sein.

Ich sollte ihr dankbar sein, dachte er.

Ich sollte nach vorn zu der kleinen Dumpfbacke eilen und sie ermuntern, sich weiter zur Schau zu stellen.

»Riechst du das?«, flüsterte Chris.

Er schnüffelte in der feuchtkalten Luft. Obwohl er sie eingeatmet hatte, seit er in die Höhle gekrochen war, manchmal sogar verzweifelt keuchend, hatte er sich über ihren Geruch keinen Gedanken gemacht. Nun änderte sich das. Er nahm einen schwachen Gestank wahr, der ihm zuvor nicht aufgefallen war. »Mein Gott«, murmelte er.

»Es riecht nach … Fäkalien. Und verwestem Fleisch.«

»Das sind bestimmt …« Er rang nach Atem. »… Tiere. Die müssen hier leben. Und sterben.«

Der Unterstand lag plötzlich auf ihm, drohte ihn zu erdrücken. Und nicht nur der Unterstand, auch sein Schütze, Willy Jones. Schwärze. Der Gestank von Scheiße. Er wusste, dass Willy verwundet war, er spürte das Blut, das ihn überströmte. Es dauerte nicht lange, bis er merkte, dass Willy tot war. Doch er konnte sich nicht rühren, kam nicht aus der Dunkelheit heraus, nicht unter der Leiche hervor. Die zu verwesen begann.

»Hank? Hank!«

Chris stand vor ihm und schüttelte ihn, dann drückte sie ihn fest an sich, während er zitterte und keuchte.

Es wurde heller. Als er sich zu erholen begann, sah er Brad und Lynn vor sich, die ihn erschrocken anstarrten.

»Alles okay«, ächzte er.

»Du bist nicht in der Verfassung, um weiter mitzukommen«, sagte Brad.

»Vielleicht sollten wir alle umkehren«, sagte Lynn.

»Nein. Ich muss …«

»Schon gut«, flüsterte Chris dicht an seinem Ohr. »Das wird schon wieder.«

»Wodurch wurde das ausgelöst?«, fragte Brad.

»Wir haben über den seltsamen Gestank gesprochen.«

»Ja, was ist das für ein Geruch?«, fragte Brad. »Ich habe ihn auch gerade bemerkt.«

»Tod«, murmelte Hank.

Chris strich ihm über den Rücken.

»Hier kann nicht Totes drin sein«, sagte Lynn und schnüffelte. »Es ist ein abgeschlossener Raum.«

»Was ist das dann für ein Gestank?«, fragte Brad sie.

Sie zuckte die Achseln. »Es riecht ein bisschen nach Scheiße, finde ich. Aber das ist unmöglich.«

»Nicht nur nach Scheiße«, sagte Brad. »Als wäre hier irgendwo ein verwesender Kadaver.«

»Elizabeth Mordock? Vielleicht sind wir in der Nähe der Spalte.« Lynn sah sich grinsend um, als suchte sie danach.

»Sie ist seit sechzig Jahren tot«, sagte Brad. »Da sind wohl mittlerweile nur noch Knochen übrig.«

»Vielleicht sollten wir wirklich lieber hier verschwinden.«

Brad sah zu Hank. »Wirst du noch mal durchdrehen?«

Durchdrehen.

Hey, der Mann ist durchgedreht.

Tja, scheiße, würdest du das nicht?

Das hatten die Marines gesagt, die ihn herausgezogen hatten. Nach einer Ewigkeit, die in Wirklichkeit drei Tage gedauert hatte – die Zeit, die sie gebraucht hatten, um das Basislager zurückzuerobern, nachdem es von der nordvietnamesischen Volksarmee beschossen und überrannt worden war.

»Ich drehe nicht durch«, erklärte Hank Brad. »Du hast ja keine beschissene Ahnung, was Durchdrehen bedeutet.«

Er spürte, wie Chris sich versteifte, als schockierte es sie zu hören, wie er diese harten Worte ausspie. Er strich ihr über das Haar. Ihr Körper entspannte sich ein wenig. Sie ließ ihre Hände hinab zu seiner Hüfte wandern. »Geht es dir gut?«, fragte sie.

Er nickte. »Gehen wir weiter.«

Sie lösten sich voneinander, und er sah, wie Lynn den Kopf schüttelte. »Ich nicht. Auf keinen Fall. Das wird mir zu seltsam. Ich meine, du bekommst Anfälle und … und es stinkt so merkwürdig hier drin. Es hat vorher nicht so gerochen, und das heißt, dass da vor uns irgendwas ist, etwas Totes und Stinkendes, und ich will gar nicht rausfinden, was es ist. Nein, danke. Und die Leute müssen ja noch nicht mal gerettet werden. Wenn ihr nicht zu ihnen vordringt, werden sie einfach durch die Aufzugsschächte rausgeholt, was soll das Ganze also? Es ist dumm. Deshalb könnt ihr ab jetzt nicht mehr mit mir rechnen.« Sie streckte Hank die Laterne entgegen. Er nahm sie am Drahtgriff. »Adios.« Lynn schaltete ihre Taschenlampe an und trat einen Schritt nach vorn, als wollte sie zwischen Hank und Chris hindurchgehen.

»Warte«, sagte Hank.

»Dieses Mal kannst du es mir nicht ausreden. Nein. Der Ort strahlt auf mich schlechte Schwingungen aus, richtig schlechte. Also dann, viel Spaß noch.«

»Moment. Chris, vielleicht solltest du mit ihr gehen. Brad und ich können allein weitergehen, wenn er noch willens ist.«

Brad nickte.

»Ich gehe nicht zurück«, sagte Chris.

»Ich brauche keine Begleitung«, sagte Lynn. »Ich bin schon erwachsen.«

»Ich bleibe bei dir, Hank.«

»Irgendwas stimmt hier absolut nicht«, erklärte er.

»Ich weiß.«

»Dieser Teil der Höhle sollte eigentlich abgeschlossen sein, oder, Lynn?«

»So war es, bis wir die Mauer eingeschlagen haben.«

»Kein anderer Ein- oder Ausgang?«

»Soweit ich weiß, nicht.«

»Tja, irgendwas ist hier drin verwest.«

»Und hat gekackt«, fügte Lynn hinzu.

»Jetzt wird’s fies«, sagte er zu Chris. »Ich habe … auch ein schlechtes Gefühl.«

»Also, ich bleibe bei dir.«

»Tschüs.« Lynn trat zwischen ihnen hindurch und rannte los.

Hank blickte über die Schulter und sah, wie sie mitten durch den Fluss stürmte und der Strahl ihrer Lampe über die Felsen hüpfte. Dann verschwand sie hinter einer Kurve. Das Platschen ihrer Füße verklang.

»Lasst uns nah zusammenbleiben«, sagte Hank.

Er hielt die Laterne vor sich und war sich deutlich bewusst, dass Chris seine andere Hand umklammerte, als er losging. Brad blieb dicht hinter ihnen.

Obwohl Hank noch immer Atemprobleme hatte, spürte er, dass all seine Sinne in Alarmbereitschaft waren.

Hier lauerte Gefahr.

Eine Gefahr, die er spüren und in der leichten Fäulnis der Luft riechen konnte.

Die Höhle erdrückte ihn nicht länger. Er war nicht in einer Höhle, er war im Dschungel, auf Patrouille. Er wusste nicht, womit er zu rechnen hatte, deshalb rechnete er mit allem.

Und deswegen keuchte er auch nicht, zuckte nicht einmal bei dem Anblick, der Chris dazu brachte, scharf die Luft einzusaugen, sich an ihn zu drücken und festzukrallen wie eine Katze, die ihm jemand zugeworfen hatte.

Brad tauchte neben ihnen auf und trat einen Schritt vor. Er schwang die Spitzhacke von der Schulter und hielt sie auf Brusthöhe, als wollte er sie als Waffe einsetzen. Er drehte sich langsam im Kreis und sah zu beiden Seiten. »Mein Gott«, murmelte er. Hank hörte, wie er nun nach Atem rang. Dann klappte der Oberkörper des stattlichen Manns nach vorn, und er übergab sich.

Ein Stalagmit auf der rechten Seite des Flusses war mit einem durchsichtigen, rosafarbenen Nachthemd bekleidet worden. Armknochen hingen aus den Ärmeln. Ein weiß schimmernder Schädel war auf die stumpfe Spitze der Steinskulptur gesetzt worden. Das Oberteil des Nachthemds war ausgebeult, aber nicht durch Brüste. Durch den zarten Stoff sah Hank zwei fleischlose Köpfe. Jemand hatte kleine menschliche Schädel in das Nachthemd gestopft. Kinderschädel.

Chris zitterte und wimmerte an seiner Brust. Er strich ihr mit der freien Hand über den Rücken. Brad stand noch immer vorgebeugt da und würgte.

Neben der Skulptur lag auf einem niedrigeren Felsbrocken, der mit glänzendem grünen Satin bedeckt war, ein Brustkorb. Ein Schädel in seinem Inneren schien sie durch die Rippen anzustarren.

Hank sah daneben ein Becken liegen, durch dessen Öffnung skelettierte Finger griffen.

Er sah fleischlose Beine, die offenbar von allein standen und sich oben an einem Schädel mit aufgerissenem Mund trafen.

Hank hatte schon zuvor Massaker gesehen. Er hatte schreckliche Leichenschändungen gesehen. Doch noch nie etwas, das mit solch perverser Kunstfertigkeit arrangiert worden war – das Werk eines verrückten Bildhauers.

Und wir sind in seiner Galerie, dachte Hank.

Der Schein der zischenden Laterne offenbarte über ein Dutzend Beispiele der Arbeit des Wahnsinnigen.

Und eine Skulptur rechts des Flusses war noch viel schlimmer als die anderen.

Sie bestand nicht aus blanken Knochen.

Das ist der Anblick, vermutete Hank, bei dem es Brad den Magen umgedreht hat.

Eine Frau. Jung. Mit einem Gürtel um den Hals an eine Säule gebunden, sodass sie zu stehen schien. Langes braunes Haar, ordentlich gekämmt, hing auf ihre Schultern. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie geschlagen worden, vielleicht vor ihrem Tod. Der Körper hatte keine Arme, keine Brüste. Der Großteil der Haut vom Hals abwärts war verschwunden. Ihr Torso schien ausgehöhlt worden zu sein.

Sie trug eine blaue Jeans. So schlaff, wie sie an ihr hing, war von ihren Beinen nicht viel mehr als Knochen übrig. Aber die nackten Füße waren unversehrt.

Etwas stimmte nicht mit den Füßen.

Hank begriff, dass sie auf der falschen Seite des Körpers waren. Ihre Beine waren nach hinten gedreht worden.

»Das kann nicht wahr sein«, stöhnte Brad. Er sah Hank an, stand jedoch noch immer ein wenig vorgebeugt. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er noch einmal. »Das ist … das ist …« Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zu.

»Ich wette«, sagte Hank, »das ist Amy Lawson.«