13

Als das erste Klirren zu ihnen vordrang, hörte Kyle Gesprächsfetzen der Leute, die sich vor den Aufzügen versammelt hatten.

»Super.«

»Sie sind angekommen.«

»Sie legen los.«

Kyle spürte einen Schauder der Furcht und drückte Paula enger an seine Seite.

Die Geräusche hielten an. Jetzt sprach niemand mehr. Alle schienen dem leisen metallischen Klirren zu lauschen, das von Elys Mauer durch das Gewölbe der Höhle drang. Der entfernte Lärm war durch das schwache Knistern und Knacken der Feuer in den Aufzügen deutlich zu vernehmen.

Vielleicht passiert etwas, sagte sich Kyle. Vielleicht bricht der Stiel der Spitzhacke ab, und sie müssen aufhören und zurückkommen. Vielleicht ist die Mauer zu stabil, und sie schaffen es nicht durchzubrechen.

Er konnte sich selbst nicht überzeugen.

Er erinnerte sich an das Kichern, das Stöhnen, die verrückten flüsternden Stimmen, die er aus dem Schacht hatte aufsteigen hören. Sechs bis acht Leute waren dort unten, hatte Dad gesagt.

Wahnsinnige. Sie lebten in der Dunkelheit und hatten nichts zu essen, außer dem, was ihnen in den Schacht geworfen wurde.

Amy Lawson. Sie haben sie gefressen.

Und jetzt mussten diese Wahnsinnigen, in welchem Teil des abgesperrten Abschnitts sie sich auch immer befanden, hören, wie die Spitzhacke gegen die Mauer hämmerte.

Er malte sich aus, wie sie sich blindlings auf den Lärm zubewegten.

Vielleicht gehen sie gar nicht darauf zu, dachte er. Es könnte sein, dass sie nicht begreifen, was dort geschieht. Vielleicht haben sie Angst und verstecken sich. Vielleicht bleiben sie die ganze Zeit in ihrem Versteck, und Darcy und ihre Gruppe ahnen nicht einmal, dass sie in der Nähe sind.

Es könnte so kommen.

Nach einer Weile endete das ferne Hämmern.

Als Paula den Kopf wandte und zu Kyle aufsah, blitzten ihre Brillengläser im Feuerschein. »Sie müssen durchgebrochen sein«, sagte sie.

Kyle hörte die anderen.

»Sie haben es geschafft.«

»Das hat nicht lange gedauert.«

»Das Ding war alt und wahrscheinlich sowieso schon brüchig.«

Kyle, der das Gefühl hatte, eine Faust presse seine Eingeweide zusammen, ließ Paula los und sank in die Hocke.

Dann begann das Hämmern von Neuem.

»Verdammt.«

»Sie haben wahrscheinlich nur eine Pause eingelegt.«

»Vielleicht sind sie durchgebrochen und haben nur beschlossen, das Loch zu vergrößern.«

»Was auch immer, es wird nicht mehr lange dauern.«

»Pssst. Ich kann nichts hören.«

»Interessiert mich einen Dreck, ob du was hörst.«

»Reg dich ab, Schnösel.«

»Leck mich, Calvin.«

Das Hämmern hörte wieder auf. Auch die Stimmen der Leute, die mit Kyle um die Aufzüge versammelt waren, verstummten.

Kyles Magen verkrampfte sich. Paula, die neben ihm stand, strich ihm mit der Hand über den Kopf. Und verkrallte sich plötzlich in seinem Haar, als aus der Ferne ein schriller Schrei durch die Höhle hallte.

Mit pochendem Herzen sprang er auf. Paula ließ sein Haar los. Er starrte sie mit offenem Mund an. Sie wirkte bestürzt.

Der Schrei hielt an.

Ein Mädchen in der Nähe stieß ein ängstliches Wimmern aus.

»Schon gut, Süße.«

»Mein Gott«, murmelte jemand.

»Was zum Teufel ist da los?«

Kyle wusste, was los war. Die Wahnsinnigen hinter der Mauer hatten sich nicht versteckt – sie hatten angegriffen. Er hatte das Gefühl, ihm kröchen Schlangen über den Rücken.

Der Schrei endete.

Niemand hatte sich von den Feuern wegbewegt, doch fast alle hatten die Köpfe gedreht und blickten in die Dunkelheit. Das weinende Kind, ein ungefähr siebenjähriges Mädchen, klammerte sich an seine Mutter.

»Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist«, sagte Tom.

»Wohl kaum.«

Ein Mann, der die Hände auf die Schultern des verängstigten Mädchens gelegt hatte, sagte: »Vielleicht sollten wir … sollten einige von uns losgehen und nachsehen, was passiert ist. Sie könnten Hilfe brauchen.«

»Ich bin dabei, Kumpel«, sagte der alte Cowboy Calvin.

»Das klingt auf jeden Fall, als wären sie in Schwierigkeiten geraten.« Das war der dicke alte Mann, der sich freiwillig gemeldet hatte, sich Darcy anzuschließen.

»Ich komme auch mit«, sagte der Mann mit der schwangeren Frau.

»O nein«, protestierte sie. »Du gehst nirgendwo hin.«

»Aber …«

»Ich finde, wir sollten alle hierbleiben«, erklärte Tom. Er betastete die bandagierte Seite seines Kopfs. »Ein paar von Ihnen, die in die Dunkelheit abhauen … Ich weiß nicht. Ich glaube, wir sollten zusammenbleiben. Da wir nicht wissen, was passiert ist …«

»Wahrscheinlich hat sich nur eine der Frauen erschreckt.« Das war der Mann, den Calvin immer Schnösel nannte. »Hat eine Fledermaus gesehen oder so.«

»Es gibt hier keine Fledermäuse«, entgegnete Tom.

»Es könnte alles Mögliche gewesen sein. Diese Schlampen schreien sich wegen jeder Kleinigkeit die Lunge aus dem Hals.«

Einer der dünnen Männer mit den Kinnbärten sagte: »Ich finde, wir sollten trotzdem nachsehen.«

»Tja, dann geh doch«, sagte der Schnösel. »Setz deinen süßen Hintern schon mal in Bewegung.«

»Hinterwäldlersprüche.«

»Ich geb dir gleich Hinterwäldler, du verdammter Arschficker.«

»Dad, du solltest nicht …«

Der Schnösel schlug seinem Sohn mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Junge stolperte zurück. Der Vater des kleinen Mädchens fing ihn auf, ehe er stürzte.

»Hey, Kumpel, das ist kein Benehmen.«

»Willst du dich mit mir anlegen?« Er hob die Fäuste.

Der andere Mann wischte sich die Hände an der Jeans ab und stolzierte auf ihn zu.

»Wayne, nicht!«

»Komm her, komm.« Der Schnösel winkte ihn heran.

»Der gehört mir«, sagte der Mann mit dem Kinnbart und trat Wayne in den Weg.

»Ich nehm’s mit euch beiden auf. Kommt her, kommt schon.«

»Aufhören!«, rief Tom. »Ich bin hier verantwortlich, und ich will nicht, dass ihr …«

»Halt die Fresse.«

Der schwule Mann schob Wayne zurück und drehte sich zu dem Schnösel, der grinste, die Knöchel seiner rechten Faust küsste und zum Schlag ausholte.

Und Calvin neben sich übersah.

»Hey, du Hurensohn. Hab ich dich nicht gewarnt?«

Der Schnösel wirbelte zu Calvin herum.

Er war noch in der Drehung, als der drahtige alte Cowboy mit seinem Wanderstock zustach. Die Messingspitze blitzte golden im Feuerschein. Sie bohrte sich in den Bauch des Schnösels, der schnaubend zusammenklappte. Calvin löste eine Hand von dem Stock, trat einen Schritt vor, während der Schnösel sich krümmte, und schmetterte die Faust seitlich gegen sein Gesicht. Speichel flog aus dem Mund des Schnösels, und sein Kopf wurde zur Seite geworfen. Er taumelte auf einen der Aufzüge zu. Leute schnappten erschrocken nach Luft. Er stürzte in die Kabine und schrie, als er auf den brennenden Trümmern landete. Funken stoben um ihn empor.

Die beiden Männer mit den Kinnbärten liefen hinein, zogen ihn an der Jacke hoch und zerrten ihn aus der Kabine.

Seine Kappe war weg, das Haar brannte.

Der Mann, den er als »Arschficker« bezeichnet hatte, schlug ihm auf den Kopf und löschte die Flammen.

Sie ließen ihn los. Er fiel schluchzend auf die Knie und umklammerte seinen qualmenden Schopf.

»Ihr hättet den Penner brennen lassen sollen«, sagte Calvin.

Der Sohn des Schnösels stürzte sich auf seinen wimmernden Vater und umarmte ihn. »Dad?«, fragte er. »Alles okay? Dad?«

Der Schnösel stieß den Jungen weg.

»Du bist wirklich ein schwerer Fall«, sagte Calvin und schlug dem Mann mit seinem Stock auf den Kopf.

Der Schnösel sackte zusammen und blieb reglos liegen.

»Du alter Trottel, du hast ihn umgebracht.«

»Reg dich nicht auf, May. Ich hab die Klapperschlange nicht umgebracht, obwohl es ein Segen für die Menschheit gewesen wäre.«

Ein paar Leute klatschten Beifall.

Calvin tippte sich an seinen Stetson.

Der Mann, der das brennende Haar des Schnösels gelöscht hatte, bückte sich, fühlte seinen Puls und nickte. »Er ist nicht tot.«

»Ah«, sagte sein Freund, »aber ich nehme an, dass er schreckliche Kopfschmerzen bekommen wird.«

»Sein Gehirn musste mal ordentlich durchgerüttelt werden«, sagte Calvin. »Ich schätze, dass es ihm danach bessergeht.«

Der dicke alte Mann reichte Calvin eine Zigarre.

»Vielen Dank.«

»Der Typ ist einfach nur ein Arsch.« Der dicke Mann wandte sich von Calvin ab und sprach zur gesamten Gruppe. »Aber was die Schreie angeht, hatte er recht. Es könnte alles Mögliche gewesen sein, das eine der Damen dazu gebracht hat, sich derart die Seele aus dem Leib zu schreien.«

»Das stimmt«, sagte Tom. »Ich glaube, wir sollten einfach hierbleiben. Es könnte völlig unwichtig gewesen sein, deshalb sollten wir uns nicht aufregen und sinnlos durch die Gegend rennen. Wenn sie wirklich in Gefahr sind und Hilfe brauchen, werden sie bestimmt jemanden zurückschicken, um uns Bescheid zu geben.«

Falls noch jemand lebt, dachte Kyle.

Was ist passiert?, fragte er sich. Es sind vier Frauen in Darcys Gruppe, aber geschrien hat nur eine. Vielleicht hatte es doch nichts mit den Wahnsinnigen hinter der Mauer zu tun.

Vielleicht sind sie zur anderen Seite durchgedrungen, ohne angegriffen worden zu sein.

Oder vielleicht hatten die anderen keine Gelegenheit mehr bekommen, um zu schreien.

Oder sie verhalten sich alle still, weil sie versuchen, sich in der Dunkelheit vor den Wahnsinnigen zu verbergen, die durch das Loch gestürmt sind. Möglicherweise spielen sich auf dem Lake of Charon gerade eine verrückte Jagd und wilde Kämpfe ab.

Wenn es vorbei ist …

Die Wahnsinnigen werden nicht in ihre Hälfte der Höhle zurückkehren. Sie werden in diese Richtung kommen.

Kyle führte Paula zur Seite. Er spürte, wie die Hitze der Feuer nachließ und die kühle Luft durch seine Kleider drang. Im Schatten flüsterte er: »Ich will mich von diesem Haufen wegschleichen. Sie drehen durch, verstehst du?«

»Nur der unheimliche Typ.«

»Du hast doch gesehen, was Calvin mit ihm gemacht hat. Er hätte den Mann umbringen können. Alle sind echt nervös und fangen an, sich seltsam zu benehmen. Ich glaube, wir wären sicherer, wenn wir uns verziehen würden, bis Hilfe kommt. Wer weiß, was sie als Nächstes tun werden? Verstehst du, was ich meine?«

Paula nickte. »Du glaubst, jemand anders könnte Ärger machen?«

»Ja, genau, und je länger wir hier unten eingeschlossen sind, desto wahrscheinlicher wird es. Die Feuer brennen runter. Es dauert nicht mehr lange, dann sind sie aus. Es wird wieder dunkel und kalt sein. Alle sind jetzt schon nervös, aber bald werden einige in Panik geraten. Wenn das passiert, gibt es richtigen Ärger.«

»Du willst also, dass wir weggehen und uns verstecken?«

Kyle nahm ihre Hände und blickte ihr in die Augen. Ihm fiel auf, dass seine Angst vor denen auf der anderen Seite von Elys Mauer von Verlangen oder gar Erregung abgelöst worden war.

Sie werden mich nicht kriegen, dachte er. Keine Chance. Das wird gut, richtig gut.

Sich mit Paula verstecken. Weg von den anderen. In der Dunkelheit.

»Ich denke bloß an dich«, sagte er. »Wenn es nur um mich ginge, wäre es mir wahrscheinlich egal, aber … Eine andere Sache ist, dass es mir nicht gefällt, wie einige der Männer dich angesehen haben.«

»Was meinst du damit?«

»Als wollten sie … Ich weiß nicht, vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen. Aber wenn es wieder dunkel ist und keiner sehen kann, was der andere macht, könnte jemand was versuchen. Sachen, die er normalerweise nicht tun würde. Ich würde alles geben, um dich zu beschützen, aber … Ich glaube einfach, wir sollten nicht hierbleiben. Es ist besser für uns beide, wenn sie nicht wissen, wo du bist.«

Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. »Du hast Angst, jemand könnte mich … belästigen?«

Sie kauft es mir ab, bemerkte Kyle. Sie glaubt mir.

»Vielleicht hätte ich nicht damit anfangen sollen«, fuhr er fort, »aber, ja, das ist mir durch den Kopf gegangen. Es würde mich nicht überraschen.«

»Wer?«

»Der Mann, der bewusstlos geschlagen wurde, hat dich komisch angesehen.«

»Ekelhaft.«

»Die beiden mit den Kinnbärten haben dich auch begutachtet.«

»Aber die sind doch schwul, oder?«

»Wenn sie schwul sind, warum haben sie dann auf deine Brüste geglotzt?«

»Wirklich?« Sie rümpfte die Nase.

»Ja. Und der alte Mann, der Calvin die Zigarre gegeben hat.«

»Du machst Witze«, flüsterte Paula.

»Aber wirklich Sorgen mache ich mir wegen der Frau, die Calvin dabeihat.« Kyle rümpfte ebenfalls die Nase und schlug einen angewiderten Tonfall an. »Man konnte sie fast sabbern sehen, als sie dich angestarrt hat.«

»O Gott. Eine Lesbe?«

»Hast du nicht gemerkt, wie diese ganzen Widerlinge dir schöne Augen gemacht haben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht sagen, dass sie wirklich was versuchen, aber wenn es erst mal dunkel ist …«

»Du meinst also, wir sollten uns verstecken«, sagte Paula.

»Ja.«

»Wo sollen wir hingehen?«

Er nickte in Richtung Dunkelheit. »Da drüben. Auf die andere Seite des Flusses. Da finden sie uns nie.«

Und die Wahnsinnigen auch nicht, dachte er. Das war das Wichtigste. Er wollte mit Paula allein, aber vor allem verborgen sein, falls die von der anderen Seite der Mauer kamen. Er war sich sicher, dass sie dem Gehweg folgen würden, wenn sie den Lake of Charon verließen. Der Weg verlief am Fluss entlang und würde sie direkt zu den Leuten bei den Aufzügen führen. Mit oder ohne Paula – er plante, sich auf der anderen Seite des Flusses versteckt zu halten, wenn sie kamen.

Aber mit ihr wäre es viel besser.

»Okay?«, fragte er.

»Okay.«

Ohne sich zu beeilen, führte er Paula um die Gruppe herum. Niemand schien sie zu bemerken. Die meisten blickten zu den Feuern, als fürchteten sie die Dunkelheit und versuchten, deren Existenz zu leugnen, indem sie ihr den Rücken zuwandten.

Aber es waren ungefähr dreißig Leute. Eine Weile drückte sich Kyle am Rand der Gruppe herum, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Dann ging er rückwärts und zog Paula mit sich.

Nach vier lautlosen Schritten waren sie in Dunkelheit gehüllt. Selbst wenn nun jemand hinsähe, würde man sie mit an den Feuerschein gewöhnten Augen wahrscheinlich nicht entdecken.

Kyle drehte sich um. Paula blieb an seiner Seite. Arm in Arm entfernten sie sich leise, tiefer in die Dunkelheit hinein.

»Können wir in Sichtweite der Feuer bleiben?«, flüsterte Paula.

»Klar.« Das hatte er ohnehin vorgehabt. Er hoffte zu sehen, was geschah, wenn die Wahnsinnigen auftauchten. Obwohl er Paula gewarnt hatte, dass die Feuer bald erlöschen würden, gab es genügend zerbrochenes Holz in den Aufzügen, um sie noch eine Weile zu speisen. Mit etwas Glück würden sich die Feuer lang genug halten, damit er das Chaos beobachten könnte.

Aus sicherer Entfernung.

Kyle blieb stehen und sah über die Schulter. Die zusammengedrängten Leute waren dunkle Silhouetten vor dem Licht der beiden Feuer, zehn bis fünfzehn Meter von ihnen entfernt. Daraus schloss er, dass sie sehr nah an dem Geländer sein mussten, das entlang des Flusses verlief.

Mit einer ausgestreckten Hand führte er Paula langsam weiter, bis er das kalte, feuchte Metall ertastete. »Da ist das Geländer«, flüsterte er. »Ich gehe vor.«

Er ging tief in die Hocke und kroch unter der Stange hindurch. Auf der anderen Seite drehte er sich um und tastete nach Paula. Er fand ihre Schulter. Sie richtete sich vor ihm auf.

»Das ist so verrückt«, flüsterte sie. Er sah, wie sich die undeutliche Kontur ihres Kopfes umwandte, und vermutete, sie wollte sich durch den Anblick der Feuer aufmuntern. »Was, wenn sie merken, dass wir weg sind?«

»Na und? Glaubst du, sie kommen uns suchen?«

»Ich frage mich nur, ob wir das wirklich tun sollen.«

»Möchtest du zurückgehen?«

Sie war still.

Sie geht nicht zurück.

»Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich.

Kyle nahm ihre Hand. »Also, wenn du deine Meinung änderst, auch gut. Sag es mir einfach. Ich will dich zu nichts zwingen.«

»Ich weiß.«

»Ich gehe vor. Bleib hinter mir und halt dich fest.« Er drehte sich um. Paula legte eine Hand auf seine Schulter, und er begann, die Böschung hinabzusteigen, die Knie leicht gebeugt und die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Er konnte vor sich nichts sehen. Der Steinhang fühlte sich unter seinen Schuhen glatt und schlüpfrig an. Statt zu gehen, rutschte er, ohne die Füße vom Boden zu heben.

Als er vermutete, dass er dicht beim Fluss war, hielt er an. Er schob einen Fuß nach vorn und tippte ein paarmal mit der Spitze auf den Boden. Da er kein Plätschern hörte, rutschte er ein Stück weiter und versuchte es erneut. Dieses Mal nahm er ein leises feuchtes Geräusch wahr.

»Wir müssen hindurchwaten«, flüsterte er. »Es ist nur ein paar Zentimeter tief, aber deine Füße werden nass werden. Ich ziehe Schuhe und Socken aus.«

»Gut«, sagte Paula. »Ich auch.«

Sie setzten sich nebeneinander auf die Böschung. Kyle zog seine Turnschuhe aus, streifte die Socken ab und stopfte sie in die Schuhe. Er erinnerte sich, dass Paula einen Schottenrock und Kniestrümpfe trug. Ohne die Strümpfe würden ihre Beine nackt sein.

Nackt bis ganz nach oben zum Schlüpfer, den sie unter dem Kilt anhaben musste.

Plötzlich sah er Darcy in der Grotte vor sich, nackt bis auf die Unterhose, die Jeans vor die Brüste gepresst. Die Unterhose war nass. Sie klebte an ihr.

Bei der Erinnerung bekam er eine Erektion.

Dann erfasste ihn ein hohler Schmerz, als ihm bewusst wurde, dass er Darcy wahrscheinlich nicht lebendig wiedersehen würde, keine Gelegenheit bekommen würde, sie zu berühren oder zu drücken oder zu schmecken, niemals seinen Schwanz in sie stoßen, sie zum Bluten und Winden und Schreien bringen könnte, wie er es bei Amy getan hatte.

Anderen war es vielleicht vergönnt. Denen hinter der Mauer. Aber nicht Kyle.

Sie betrügen mich darum, dachte er.

Aber ich habe Paula.

»Okay«, sagte Paula.

Mit beiden Schuhen in einer Hand stand Kyle auf. Er nahm Paulas Arm und half ihr hoch. Sie blieb an seiner Seite, als er vorsichtig ins Wasser stieg.

Sie stieß ein Zischen aus. »Verdammt, ist das kalt.«

»Ja.« Seine Füße waren bis zu den Knöcheln taub. Das Flussbett war rau; der Fels schien mit Sand und Kies bedeckt zu sein. Er hob einen Fuß aus dem Wasser, machte einen kleinen Schritt und trat vorsichtig auf. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen.

Was, wenn ich sie zum Fallen bringe?, fragte Kyle sich. So, dass es wie ein Versehen aussieht. Dann sind ihre Kleider nass, und ich kann sie dazu überreden, sie abzulegen, wenn wir die andere Seite erreicht haben. Ich werde ihr sagen, sie kann meine Hose anziehen und …

Wenn sie fällt, könnte sie schreien. Die anderen würden sie hören und nachsehen.

Vergiss es.

Er würde noch genug Zeit haben, sie zu befummeln. Er hatte ihre Bluse schon offen gehabt, ehe die Aufzüge abstürzten. Es würde nicht so schwer werden, ihr den BH auszuziehen, und danach, wer weiß?

Sein Fuß trat auf trockenen Fels. »Wir sind am Ufer«, flüsterte er. »Ich gehe vor. Bleib hinter mir und halte dich an meinem Gürtel fest.« Kyle ließ Paulas Arm los, und ihre Finger schoben sich unter seinen Gürtel. Er bückte sich, ertastete die Felsen vor sich und begann, die Böschung zu erklimmen. Mit der Schulter stieß er gegen irgendetwas, wahrscheinlich gegen einen der Stalagmiten, die er oft auf dieser Seite des Flusses gesehen hatte. Er ging darum herum.

Kyle hatte schon tausendmal über den Fluss Styx geblickt und diese Seite auch schon bei mehreren Gelegenheiten erkundet. Er wusste, dass die Gegend mit Tropfsteinen übersät war und wunderbare Verstecke bot, doch er konnte sich nicht an die Details erinnern, und die Dunkelheit nahm ihm die Orientierung.

Er tastete sich voran wie ein Blinder, der durch ein Labyrinth taumelte.

Und trat auf etwas Weiches.

Er bückte sich, strich über die kühle Stoffoberfläche und begriff, worum es sich handelte. »Hier liegt eine Decke«, sagte er.

»Mein Gott.«

Auf allen vieren kroch er auf die Decke, die einmal gefaltet war, sodass sie doppelt lag. Sie schien ungefähr einen Meter breit und knapp zwei Meter lang zu sein. Als er am anderen Ende ankam, stieß seine tastende Hand gegen eine glatte, federnde Erhebung, die er zunächst für ein Kissen hielt. Kyle erkundete sie mit den Fingern – und stellte fest, dass es sich um einen Schlafsack in einer Stoffhülle handeln musste. Er hob ihn hoch und hörte das gedämpfte Klirren von Glas. Als er nach unten griff, fand er eine Flasche. Sie war schwer. Flüssigkeit schwappte darin. Er drehte den Verschluss auf und schnüffelte daran. Der beißende Geruch von Alkohol. Obwohl er sich damit nicht gut auskannte, vermutete er, dass in der Flasche Scotch oder Bourbon war.

»Ganz nett«, flüsterte Paula hinter ihm.

»Hier ist ein Schlafsack.«

»Du machst Witze.«

»Und eine Flasche Schnaps.«

»Echt?«

Er drehte sich auf den Knien um und streckte die Flasche in ihre Richtung.

»Ich kann es riechen«, sagte Paula.

»Nimm einen Schluck. Davon wird dir warm.«

»Ich weiß nicht.«

»Ich verrate es niemandem.«

»Wo kommt das her?«

»Es lag hier.«

»Ist das dein Zeug?«

»Natürlich nicht.«

»Du hast uns direkt hierhergeführt.«

»Und darüber bin ich froh. Aber die Sachen gehören mir nicht. Ich wusste nicht, dass sie hier liegen.«

»Wenn sie dir nicht gehören, woher kommen sie dann?«

»Gott, ich weiß es nicht. Jemand muss … Vielleicht ist es ein Liebesnest.« Kyle wandte den Kopf und sah nur Schwärze. Er streckte den Arm aus. Gleich neben der Decke war eine Steinwand, die ihm die Sicht blockierte. Als er sich erhob, sah er die fernen Gestalten vor dem Licht der Feuer in den Aufzügen. »Das ist toll«, sagte er. Er setzte sich wieder. »Ich glaube, ich probiere mal.«

»Vielleicht solltest du das lieber lassen. Wenn du nicht weißt, wem es gehört …«

»Es muss von jemandem sein, der hier arbeitet. Vielleicht Tom. Vielleicht geht er manchmal mit einer der Führerinnen hierher.« Darcy?, fragte er sich. War sie mit Tom hier gewesen, versteckt hinter den Felsen, hatte Schnaps getrunken und mit ihm gebumst?

Er stellte sich vor, wie sie nackt in dem Schlafsack lag, sich wand und stöhnte, aber nicht mit Tom. Es war Kyle, der bei ihr war, ihre Brüste knetete und tief in ihre feuchte Wärme stieß.

Vielleicht schlichen sie sich nachts hier herunter. Oder sie versteckten sich sogar tagsüber hier, während die Touristen vorbeigeführt wurden.

Aber nicht Darcy.

Wahrscheinlich Lynn. Lynn und Tom.

Lynn war so eine Schlampe, der würde er alles zutrauen.

»Ist das nicht unhygienisch?«, fragte Paula.

»Nein.« Er hob die Flasche an die Lippen und kippte sie. Es dauerte einen Augenblick, bis die Flüssigkeit seinen Mund erreichte, woraus er schloss, dass die Flasche zu drei Vierteln gefüllt war. Er nippte daran. Ja, irgendein Whisky. Er schluckte, und Wärme breitete sich in ihm aus. Mit einem leichten Schaudern sagte er: »Gut. Probier mal.«

Er hielt ihr die Flasche entgegen und spürte, wie sie ihm aus der Hand genommen wurde. Es erklang ein leises gluckerndes Geräusch, dann ein »Wow«.

»Schmeckt’s dir?«

»Ist okay.«

»Sollen wir uns in den Schlafsack legen?«

Sie schwieg ein paar Sekunden. »Ich weiß nicht. Lieber nicht.«

»Ich packe ihn trotzdem aus. Wir können uns draufsetzen.«

»Gut.«

Er öffnete die Verschlussschnur, zog den Schlafsack heraus und breitete ihn auf der Decke aus.

Sie setzten sich darauf, Seite an Seite in der Dunkelheit. Kyle legte einen Arm um Paulas Rücken. Sie schmiegte sich an ihn. Er hörte, wie sie einen weiteren Schluck trank. Dann stieß sie ihm die Flasche leicht gegen die Brust. Er nahm sie und trank ebenfalls.

»Wäre das nicht was«, flüsterte Paula, »wenn wir beide uns besaufen würden? Dann würden wir völlig neben der Spur hier rauswanken.«

»Klingt nach einer guten Idee.«

»Das war nur ein Scherz.«

»Warst du schon mal betrunken?«

»Nein. Und du?«

»Ich auch nicht«, sagte Kyle. »Aber ich finde, das ist eine gute Gelegenheit, es auszuprobieren.«

»Ich weiß nicht. Du würdest doch nicht versuchen, irgendeinen Blödsinn mit mir anzustellen, oder?«

»Nein. Versprochen. Kein Blödsinn. Großes Ehrenwort.«