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Vor einer Woche, am Freitag, hatte Amy Lawson im Mordock-Hotel eingecheckt. Kyle sah sie zum ersten Mal, als sie zum Abendessen ins Restaurant kam. Es war seine Aufgabe, den Gästen Plätze zuzuweisen.

Amy kam allein. Sie schien ungefähr in Darcys Alter zu sein, war jedoch nicht annähernd so hübsch. Ihr Haar war lang und braun, nicht kurz und goldblond. Sie war ein Stückchen kleiner als Darcy, hatte größere Brüste und war auch um die Hüften herum fülliger. Unter dem Saum ihres Kleids ragten stämmige Waden hervor. Sie war eher kräftig als dick, doch Kyle gefiel Darcys schlanke Gestalt besser. Ihr Gesicht war jedoch sympathisch und wirkte ziemlich hübsch, als sie ihn anlächelte.

»Darf ich Sie an einen Tisch führen?«, fragte er.

»Bitte. Danke.« Ihre Augen verrieten die übliche Belustigung darüber, dass ein Junge in Kyles Alter als Platzanweiser fungierte. Er gab sich nicht die Mühe, es ihr zu erklären. Diese Frau würde wie alle einfach annehmen, dass er mit dem Inhaber verwandt war.

»Essen Sie allein?«

Sie nickte.

Kyle führte sie durch den Speisesaal zu einem Tisch für zwei Personen, von dem aus man einen schönen Blick auf die Gärten hatte. Er zog ihr einen Stuhl heraus. Sie verströmte einen intensiven süßlichen Geruch.

»Ich mag Ihr Parfüm«, log er.

Sie lächelte ihn über die Schulter an. »Danke. Es sind Rosenblüten.«

»Sehr schön.« Er war froh, dass Darcy nicht so ein widerliches Parfüm verwendete. Er hatte dicht neben ihr im Aufzug gestanden. Sie verströmte einen schwachen, frischen Duft, der ihn an eine Morgenbrise erinnerte.

»Es kommt gleich eine Kellnerin, um Ihre Bestellung aufzunehmen«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«

»Vielen Dank.«

Kyle kehrte auf seinen Posten am Eingang zurück und hoffte, Darcy würde auftauchen. Montagabend war sie mit der anderen Führerin, ihrer Zimmergenossin Lynn Maxwell, hereingekommen. Es versetzte ihm einen Stich, wenn er daran dachte, wie sie ausgesehen hatte, als sie ins Restaurant geschlendert war. Sie hatte ein ärmelloses weißes Kleid getragen, mit einem Blumenmuster, dessen Blau zu ihrer Augenfarbe passte. Ihre leicht getönte Haut hatte im Kontrast zu dem weißen Stoff goldbraun gewirkt, und das Kleid war beim Gehen um ihren Körper gewallt. Kyle hatte sich vorgestellt, er wäre darunter und könnte sehen, wie der luftige Stoff ihre Haut streichelte.

Seit Montag war Darcy nicht mehr im Restaurant gewesen. Kyle nahm an, dass sie an diesem Abend nur im Restaurant gegessen hatte, weil sie zum ersten Mal in dem Hotel war und ihren Einstand feierte. Er hatte herausgefunden, dass sie mit den anderen Führern in die Stadt ging. So lief das meistens. Die Angestellten bekamen ein Zimmer im Hotel gestellt, aber ihr Essen mussten sie selbst bezahlen, und das Cave Chalet war zu teuer. Ihr gesamtes Gehalt würde für die Mahlzeiten draufgehen, wenn sie nicht in die Stadt gingen und Hamburger oder Pizza oder was auch immer aßen.

Außerdem kamen die Führer gerne raus. Sie gingen nicht nur wegen des billigen Essens in die Stadt, sondern auch, um sich zu amüsieren. Aus ihren Gesprächen, denen er jahrelang gelauscht hatte, wusste Kyle, dass sie ins Kino und in Kneipen gingen. Manche versuchten, jemanden in der Stadt aufzureißen, wenn sie keine Affäre mit einem anderen Führer hatten.

Aber nicht Darcy. Kyle merkte an der Art, wie sie sich gegenüber den männlichen Führern benahm, dass sie keinen von ihnen ranlassen würde. Sie war freundlich zu allen, doch es gab niemanden, zu dem sie eine besondere Beziehung gehabt hätte.

Und sie würde sich auch nicht mit den Männern aus der Stadt einlassen.

Lynn wahrscheinlich schon. Aber Lynn war eine Schlampe.

Kyle bezweifelte, dass Darcy an diesem Abend auftauchen würde. Schon gar nicht am Freitag. Freitagabend gingen die Führer immer in die Stadt. Doch jedes Mal, wenn die Tür aufschwang, schlug sein Herz schneller, bis er sah, wer hereinkam.

Um acht Uhr hatte er jede Hoffnung aufgegeben.

Darcy war in die Stadt gegangen, klar, und würde wahrscheinlich bis Mitternacht oder noch länger ausbleiben.

Wie wär’s mit heute Nacht?, überlegte er. Er begann ein wenig zu zittern. Es war immer aufregend, mit dem Generalschlüssel in ein Gästezimmer zu gehen und sich umzusehen. Er war schon die ganze Woche in Versuchung gewesen, es bei Darcy zu probieren, doch er konnte das Restaurant nicht vor 20:30 Uhr verlassen, und danach hatte er Angst, dass die Führer aus der Stadt zurückkamen und ihn erwischten. Aber nun war Freitag. Er könnte es heute Nacht tun.

Ich mach’s! Ich werd’s tun!

Das Warten bis 20:30 Uhr wurde zur Qual. Sein Herz raste, der Mund war trocken, die feuchten Hände zitterten. Nur zweimal kamen neue Gäste zum Abendessen, und er war dankbar für die kurze Ablenkung von dem, was ihn erwartete.

Darcys Zimmer. Ihre Kleider. Ihre persönlichen Dinge. Das Bett, in dem sie schlief. Das Badezimmer, wo sie nackt in der Wanne gelegen hatte.

Er konnte es kaum noch aushalten.

Um zwanzig nach acht verließ er seinen Posten an der Tür und ging durch das Foyer zur Kassenkabine. »Minnie?«, sagte er mit leidender Stimme. Die dürre kleine Frau, die gerade einen Stapel Rechnungen durchblätterte, sah zu ihm auf. »Ich fühl mich nicht so besonders. Haben Sie was dagegen, wenn ich schon gehe? Es sind nur noch zehn Minuten, bis …«

»Du siehst wirklich ziemlich jämmerlich aus, Schätzchen. Geh ruhig. Von mir erfährt es dein Vater nicht.«

»Danke, Minnie.« Er ging langsam mit hängendem Kopf zur Tür und hielt sich den Bauch, damit es überzeugend wirkte.

Draußen richtete er sich auf. Nach der klimatisierten Luft im Restaurant fühlte sich der Abend warm an. Er atmete tief und bebend ein und ging über den Gehweg auf das Hotel zu. Sein Vater würde an der Rezeption sitzen, deshalb trat Kyle durch die Seitentür am Ende des Westflügels ein und trottete die Treppe zum ersten Stock hinauf. Der Gang war leer; seine Schritte wurden durch den dicken Teppich gedämpft. Als er auf halbem Weg an der Haupttreppe vorbeikam, sah er ein Paar in mittleren Jahren heraufkommen. Kyle ging langsamer. Er blickte zurück und sah sie oben ankommen und in die andere Richtung abbiegen.

An der Tür mit der Nummer 210 blickte er sich erneut um. Die beiden standen am anderen Ende des Korridors, und der Mann schloss eine Tür auf. Einen Augenblick später waren sie verschwunden.

Kyle lauschte. Durch die Tür drangen keine Geräusche. Nur um sicherzugehen, klopfte er trotzdem. Falls Darcy oder Lynn zur Tür kommen sollten, würde er sagen, sein Vater habe ihn losgeschickt, um Tom zu suchen, der ihn manchmal an der Rezeption ablöste. Wüssten sie vielleicht, wo Tom sein könnte?

Niemand kam zur Tür.

Er griff mit einer zitternden Hand in die Tasche seiner Stoffhose und zog das Schlüsselmäppchen heraus. Die Schlüssel klimperten laut in der Stille, als er den richtigen suchte. Schließlich fand er ihn. Er schob ihn ins Schloss, drehte den Knauf und öffnete vorsichtig die Tür.

Er sah niemanden, doch er ließ die Tür offen, während er so weit hineinschlich, dass er durch die Nische zu seiner Linken blicken konnte. Niemand im Bad.

Die Mädels waren unterwegs.

Er ging zurück zur Tür und schloss sie.

Ich bin drin!

Er lehnte sich gegen die Tür und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.

Die Vorhänge am anderen Ende des Zimmers standen offen. Die bewaldeten Hügel in der Ferne lagen dunkel in der Abenddämmerung. Wenn Kyle keine Zeit vergeudete, würde er fertig werden, ohne das Licht einschalten zu müssen – außer in der Nische und im Bad, wo es keine Fenster gab.

Er trocknete seine verschwitzten Hände an der Hose und stieß sich von der Tür ab. In der Nische hingen an einer Seite Kleider. Die würde er sich später ansehen. Genau wie das Bad. Er ging weiter.

Beide Betten waren gemacht, allerdings ein bisschen zerknittert. Auf dem näher stehenden Bett lagen Kleider verstreut: eine blaue Hose, deren Beine über die Kante hingen, eine weiße Bluse, die zu einem Haufen zusammengeknüllt war, ein weißer BH. Die Hose war weit an der Taille. Der BH hatte breite Träger und riesige Körbchen. Lynns. Das musste also Lynns Bett sein.

Wegen des unterschiedlichen Körperbaus der Frauen fiel es Kyle nicht schwer herauszufinden, in welcher der eingebauten Kommoden Darcys Kleider lagen. Die unterste Schublade enthielt Pullover, ein Sweatshirt und ein paar dicke Blusen. Alles war ordentlich gefaltet. Er hob die Sachen an, betrachtete sie, holte jedoch nichts heraus.

Die mittlere Schublade war interessanter. Dort fand er Slips, Strumpfhosen, ein paar T-Shirts, eine ausgebleichte blaue Shorts und ein hellgelbes Kleid. Er nahm das Kleid heraus und ließ es auseinanderfallen. Es war ein Nachthemd. Es hatte an beiden Seiten Schlitze. Kyle hielt es sich vor die Brust. Er war kleiner als Darcy. Bei ihr würde es die Oberschenkel nur teilweise bedecken, und die offenen Seiten würden die Haut bis zur Hüfte entblößen. Er sah vor sich, wie sie es trug und der dünne Stoff ihre Kurven betonte. Er stellte sich vor, wie es beim Gehen über den Brüsten wackelte. Wenn sie sich bückte, würde ihr Hintern herausragen, und wenn sie sich nach etwas Hohem streckte, würde sich das Nachthemd heben, und er könnte ihre Oberschenkel sehen.

Bei diesen Gedanken bekam Kyle eine Erektion.

Er faltete das Nachthemd wieder zusammen und legte es sorgfältig zurück in die Schublade. Zufrieden stellte er fest, dass es genauso aussah wie vorher, schloss die Schublade und öffnete die oberste.

Darin lagen Höschen, Büstenhalter, Socken und Badebekleidung.

Ein hellblauer Badeanzug, der den Rücken frei ließ, und ein weißer Stringbikini. Keines der beiden Kleidungsstücke hatte Flecken, und sie rochen sauber. Kyle vermutete, dass Darcy sie frisch gewaschen eingepackt und den Hotelpool noch nicht benutzt hatte. Er war ein paarmal an ihren freien Tagen, mittwochs und donnerstags, in der Hoffnung dort gewesen, sie zu sehen. Jetzt wusste er, dass er sie nicht verpasst hatte. Er würde den Pool im Auge behalten. Früher oder später würde sie dort auftauchen.

Die meisten BHs waren weiß und an der Oberseite der Körbchen mit Spitzen besetzt, die Träger dünn und mit zwei Verschlüssen am Rücken. Doch einer war schwarz und trägerlos. Er war an der Unterseite versteift, sodass er die Brüste von unten halten und die Oberseiten frei lassen würde. Die anderen beiden BHs waren hauchdünne formlose Dinger. Einer war rosa, der andere blau. Sie wurden mit einem Haken und einer Öse zwischen den Körbchen geschlossen. Als Kyle sie hochhielt, konnte er hindurchblicken, und der zarte Stoff fühlte sich an seinem Gesicht glatt an. Der rosafarbene roch schwach nach Darcy – dieser frische Morgenduft wie von einer Brise, die durch den Wald wehte.

Kyle beugte sich vor, damit seine Erektion nicht mehr so stark gegen die Hose drückte.

Er legte die BHs zurück.

Er sah die Stapel bunter Höschen an.

Er atmete schwer, keuchte. Er war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn er jetzt nicht aufhörte, würde er seine Hose beschmutzen.

Er schloss die Schublade.

Ich komme zurück, dachte er. Ein anderes Mal. Dann sehe ich mir den Rest an.

Auf dem Weg zur Tür warf er einen Blick ins Bad. Er wollte unbedingt die Wanne sehen. Darcy war nackt, wenn sie darin lag.

Nächstes Mal, sagte er sich. Nächstes Mal sehe ich mir alles an.

Jetzt musste er raus, bevor er explodierte.

Er stand im Korridor und zog gerade die Tür hinter sich zu, als der Klang von Stimmen ihn dazu brachte, den Kopf zu drehen.

Aus dem Aufzug neben der Haupttreppe trat ein älteres Paar. Und sein Vater.

Dad trug Koffer in beiden Händen.

Er sah zu Kyle, dann wandte er sich ab und führte das Paar zum Westflügel.

Kyle fühlte sich elend. Er ging durch die Feuertür, setzte sich auf eine Stufe, beugte sich vor und umklammerte die Knie.

Was soll ich jetzt tun? Er hat mich gesehen. Scheiße, oh, Scheiße.

Was hast du in dem Zimmer getrieben?

Vielleicht hat er mich gar nicht gesehen.

Er hat mich direkt angeblickt. Vielleicht vergisst er es.

Unwahrscheinlich. Ich muss mir eine Ausrede ausdenken. Darcy hat aus der Stadt angerufen und gesagt, sie könne ihre Brieftasche nicht finden, und ich solle in ihrem Zimmer nachsehen? Das würde nicht funktionieren. Wie hätte ich den Anruf annehmen können? Dad war in der Telefonzentrale.

Dad weiß nicht, warum ich hier war. Er könnte glauben, dass ich etwas stehlen wollte. Das wäre jedenfalls besser als die Wahrheit. Aber vielleicht errät er die Wahrheit.

Ich muss mir eine Geschichte ausdenken!

Wie wäre es, wenn ich sagen würde, ich sei draußen hinter dem Haus gewesen und hätte gedacht, es stünde jemand am Fenster? Ich habe gewusst, dass Darcy und Lynn nicht zu Hause waren, und überlegt, jemand sei eingebrochen, deshalb wäre ich hochgegangen, um nachzusehen.

Okay? Das ist nicht schlecht. Gut, so mache ich es. Er könnte es glauben.

Das Beste wäre, sofort zu Dad zu gehen. Ihm die Geschichte zu erzählen. Das würde ich nämlich tun, wenn ich wirklich jemanden am Fenster gesehen hätte.

Kyle saß auf der Treppe, unfähig, sich zu rühren.

Dad wird das niemals glauben. Es hat noch nie geklappt, ihn anzulügen. Er hat immer die Wahrheit erraten. Als wäre er ein Gedankenleser oder so. Er wird wissen, was ich da drin getan habe. Er wird glauben, ich sei ein Perverser.

Ich sage besser gar nichts, beschloss Kyle. Dann kriege ich wenigstens keinen Ärger, weil ich gelogen habe. Ich warte einfach ab, was passiert. Warte ab, was er mich fragt.

Schließlich stand Kyle auf und stieg die Treppe hinunter. Er schlüpfte durch die Metalltür. Benommen und zittrig ging er zur Lobby.

Bitte, dachte er, lass Dad nicht dort sein.

Kyles Vater saß hinter dem Rezeptionspult und sah zu ihm auf, als er sich näherte. Sonst war niemand in der Lobby.

»Hattest du etwas in Nummer 210 zu erledigen, junger Mann?«

»Darcy wollte sich ein paar von meinen Höhlenforschungsbüchern ausleihen«, sagte er und wunderte sich, woher dieser Einfall gekommen war. »Ich habe sie nur hochgebracht und ihr hingelegt.«

Er nickte.

Er hat es geglaubt!

»Viel los im Chalet heute Abend?«

»Ungefähr wie immer«, sagte Kyle. »Es war ziemlich voll.«

»Das freut mich.«

»Ich geh ein bisschen Fernseh gucken, okay?«

»Geh nur. Ich sag dir Bescheid, wenn ich dich brauche.«

Kyle trat um das Rezeptionspult herum und öffnete die Tür zu ihren Räumen. Er ging direkt in sein Zimmer und schloss sich ein. Sofort zog er zwei Höhlenforschungsbücher aus dem Regal und versteckte sie in der Lücke hinter den anderen Bänden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sein Vater nachsehen würde, doch wenn man sich eine Geschichte ausdachte, musste man auch dafür sorgen, dass die Einzelheiten stimmten.

Nachdem er die Bücher versteckt hatte, fühlte sich Kyle viel besser.

Er schaltete den Fernseher ein und setzte sich mitten aufs Bett.

Er war zu unruhig, um die Sendungen zu verfolgen. Manchmal sorgte er sich, dass Dad die Wahrheit herausfand. (Er wird es herausfinden. Nein, wird er nicht. Was, wenn er Darcy wegen der Bücher fragt? Was, wenn er es einfach weiß?) Zwischenzeitlich überwand er die Sorgen und versetzte sich zurück in Darcys Zimmer. Dann nahm er ihre Sachen aus den Schubladen, betrachtete sie und berührte sie und roch daran und träumte davon, wie sie an Darcy aussehen würden.

Später am Abend, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, saß er aufgestützt im Bett, starrte auf den Fernseher und dachte an das nächste Mal.

Beim nächsten Mal würde er sich vielleicht ausziehen. Vielleicht würde er ein paar ihrer Kleider anprobieren. (Würde sie es bemerken, wenn er eines ihrer Höschen stahl?) Vielleicht würde er sich auf ihr Bett legen, sich nackt auf dem Laken rekeln, auf dem sie schlief. Im Bad würde er vielleicht ein Handtuch finden, mit dem Darcy sich nach dem Duschen oder Baden abgetrocknet hatte. Es könnte noch feucht sein. Ein Handtuch, das ihren Körper überall abgerieben hatte.

Jemand rüttelte Kyle an der Schulter. Er wachte erschrocken auf und drehte sich auf den Rücken. Sein Vater beugte sich über das Bett, das Gesicht grau im flackernden Licht des Fernsehers. Es war Sendeschluss, und auf dem Bildschirm war nur noch Schnee zu sehen. Kyle warf einen Blick auf die Digitaluhr auf seinem Nachttisch. Zwei Uhr sechsunddreißig.

»Was ist los?«, murmelte er.

Sein Herz schlug schneller. Ihm war klar, was los war. Dad wusste, dass er nicht in Darcys Zimmer gewesen war, um ihr die Bücher zu bringen.

»Zieh dich an und komm mit«, flüsterte sein Vater.

Das war seltsam; wenn Dad ihm eine Tracht Prügel verpassen oder auch nur eine Standpauke halten wollte, würde er es doch an Ort und Stelle tun, oder? Vielleicht hatte er sich eine andere Strafe ausgedacht.

Vielleicht soll ich Darcy gegenübertreten! Um diese Uhrzeit?

»Wohin gehen wir?«

»Tu, was ich sage.«

Dad klang nicht wütend, doch Kyle hörte ein Beben in seiner Stimme. Hatte er vor irgendwas Angst? War er aufgeregt?

Kyle stieg aus dem Bett. Seine Kleider hingen über einem Stuhl. Mit dem Rücken zu seinem Vater ließ er die Schlafanzughose hinunter und zog Boxershorts an. Er begann, in die gute Hose zu steigen, die er bei der Arbeit im Chalet getragen hatte.

»Nicht die«, sagte Dad. »Zieh was Altes an.«

Warum?

Kyle fragte nicht. Er ging zum Wandschrank und schlüpfte in eine Jeans und ein altes Hemd. Dann zog er Socken und Turnschuhe an.

Dad ging voraus. In der verlassenen Lobby war das Licht gedimmt. Das Hotel war still. Kyle hatte das Gefühl, das Gebäude selbst schliefe.

Dad sagte nichts.

Sie gingen den Korridor des Ostflügels entlang, vorbei an der Tür von Nummer 115, dem letzten Gästezimmer.

Wir gehen zur Treppe, dachte Kyle. Er bringt mich wirklich hinauf zu Darcys Zimmer.

Doch Dad blieb an der allerletzten Tür des Korridors stehen. Sie trug keine Nummer. Kyle hatte früher einmal versucht, sie zu öffnen. Es war die einzige Tür im ganzen Hotel, die sich nicht mit dem Generalschlüssel aufschließen ließ.

Dad hatte ihm vor langer Zeit und mehr als einmal erklärt, es handele sich um einen Lagerraum.

Er will mich einschließen!

Wenn du dich so gerne in Zimmer schleichst, dann kannst du ja mal eine Weile hier drin bleiben.

Dad zog ein ledernes Schlüsselmäppchen aus der Tasche. Es war jenes, das Kyle ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er klappte es auf. An einem der Metallclips hingen zwei gleiche Schlüssel, einer davon glänzte und wirkte neu. Er zog den neuen Schlüssel ab und hielt ihn Kyle vor die Augen. Im schwachen Licht leuchtete er golden.

»Den habe ich an deinem fünfzehnten Geburtstag für dich machen lassen«, flüsterte er, noch immer mit dieser angespannten Stimme. »Aber ich habe ihn behalten, bis ich sicher war, dass du bereit bist.«

»Bereit wozu?« Kyle wischte seine verschwitzten Hände an der Jeans ab.

»Als ich gesehen habe, wie du gestern Abend aus dem Zimmer gekommen bist, wurde mir klar, dass es Zeit ist.«

»Ich habe nichts gemacht.«

»Ach, ich kann mir gut vorstellen, was du getan hast. Das habe ich früher selber gemacht. Dann, eines Tages, hat mein Vater mir einen dieser Schlüssel gegeben.« Er reichte Kyle den nagelneuen Schlüssel. »Los, schließ auf.«

Kyles Hand zitterte so stark, dass der Schlüssel über die Oberfläche des Schlosses kratzte. Sein Vater nahm seine Hand, hielt sie ruhig und führte den Schlüssel ein. Kyle drehte ihn. Er öffnete die Tür.

Er konnte einen Blick auf rote Vorhänge und einen bequemen Stuhl werfen. Dann schob Dad ihn hinein und schloss die Tür.

Das kleine Zimmer war dunkel, bis auf einen schwachen Schein, der an den Rändern der Vorhänge hereindrang. Eine Hand auf Kyles Schulter dirigierte ihn, drehte ihn um.

»Jetzt schrei nicht oder so«, flüsterte Dad.

Lautlos glitten die Vorhänge auseinander.

In Kyles Kopf drehte sich alles. Sein Herz hämmerte. Er stieß die Luft aus.

Er stand einen halben Meter vor einem Fenster – oder eigentlich keinem richtigen Fenster. Es musste ein Einwegspiegel sein. Ein Ganzkörperspiegel wie an den Badezimmertüren der anderen Zimmer. Dieser befand sich jedoch offensichtlich nicht an einer Badezimmertür. Er war in die Wand eingebaut.

Auf der anderen Seite des Glases befand sich ein Gästezimmer.

Zimmer 115.

Darin brannte Licht.

Auf dem Bett lag die Frau, die er im Chalet an den Tisch geleitet hatte, die mit dem Rosenblütenparfüm.

Die Bettdecken lagen in einem Haufen auf dem Boden, und sie wand sich auf dem Laken.

»Sie heißt Amy«, sagte Dad. »Amy Lawson.«

Sie war nackt.

Ein breiter Streifen weißen Klebebands verschloss ihren Mund. Die Hände waren mit Wäscheleine gefesselt und über ihrem Kopf an das schmiedeeiserne Bettgestell gebunden. Die Beine waren weit gespreizt und an den Knöcheln an den Ecken des Gestells befestigt.

Kyle starrte sie an. Er hatte noch nie eine echte nackte Frau gesehen. Bilder in Zeitschriften, aber nie in natura.

Es war besser als alles, was er sich jemals vorgestellt hatte.

Und durch ihre Bemühungen, sich zu befreien, wurde es sogar noch besser. Sie rüttelte, wand sich, bäumte sich auf, zerrte an der Schnur. Ihre großen Brüste hüpften und wackelten. Die Haut glänzte vor Schweiß. Sie war dunkel und schimmernd von der Sonne und dort makellos weiß, wo der Bikini die Sonnenstrahlen abgehalten hatte. An Brüsten und Schultern und Hüften hatte sie gerötete Flecke. Das muss Dad gemacht haben, dachte Kyle.

Sein Vater hatte mit Sicherheit auch ihr Gesicht so zugerichtet. Sie hatte ein paar ordentliche Schläge abbekommen. Eine Wange war rot und aufgedunsen, und ein Auge war fast zugeschwollen.

»Ich stecke immer die hübschesten Mädels in Nummer 115«, flüsterte Dad. »Manchmal nur zum Ansehen. Diese ist allein angereist. Wenn sie das tun, dann bekommen sie manchmal die Behandlung. Wie findest du das?«

»Toll«, flüsterte Kyle.

Er glotzte die sich windende Frau an und konnte kaum atmen. In seiner Jeans fühlte er sich eingezwängt, sein steifer Penis drohte zu ejakulieren. Es war dasselbe Gefühl wie in Darcys Zimmer, kurz bevor er hinausgestürmt war.

Doch der Druck ließ etwas nach, als sein Vater ihn zur Seite schob. Dad ging kurz in die Hocke, dann stand er wieder auf und öffnete zwei Riegel an der Oberseite des Rahmens des Spiegels. Gleich unter den Riegeln befanden sich zwei metallene Handgriffe. Dad packte sie und hob den Spiegel heraus. Er trat damit über die dreißig Zentimeter hohe Mauer in das Gästezimmer hinein.

»Komm rein«, sagte er.

Amy stieß ein leises Wimmern aus.

Kyle trat in das Zimmer.

Sie hörte auf, sich zu winden. Sie beobachtete ihn aus aufgerissenen Augen.

Sein Vater lehnte den Spiegel an die Wand neben dem Durchgang zum Geheimzimmer. Dann legte er Kyle eine Hand auf die Schulter. »Sie gehört dir, mein Sohn. Ich bin in einer Stunde zurück.«

Dad ging durch die normale Tür hinaus.

Kyle starrte den nackten, verschwitzten Körper an.

Das kann nicht wirklich geschehen, dachte er. Er hatte das Gefühl, sein Vater hätte ihn bei der Hand genommen und in einen Traum geleitet – einen aufregenden, erotischen Traum, der zu schön war, um wahr zu sein.

Das ist kein Traum, sagte er sich.

Ich bin wirklich hier.

Und ich habe eine Stunde Zeit.

So schnell er konnte, zog Kyle sich aus.