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Trotz ihrer Scham und Wut darüber, dass Kyle sie halb nackt gesehen hatte, war Darcy froh, die Jacke zu haben. Sie wärmte sie zumindest vom Hals bis zur Taille.

Sie begegnete Greg, kurz bevor sie den Steg erreicht hatte.

Wenn er derjenige gewesen wäre, der in der Grotte aufgetaucht wäre …

Offenbar bin ich schon wieder ziemlich munter, dachte sie und lächelte ihn an.

»Wie läuft’s?«, fragte sie.

»Nicht schlecht. Es ist ein Typ bei Tom, der sagt, er würde auf dem Rückweg bei ihm bleiben.«

»Okay, gut. Was hältst du davon, wenn du die Nachhut übernimmst und aufpasst, dass niemand verlorengeht?«

»Einverstanden.«

»Ich hole mir die andere Taschenlampe von Beth. Hier, du nimmst diese hier.« Sie reichte sie ihm. »Das ist die stärkere. Sie sollte gut genug sein, um allen einigermaßen zu leuchten.«

»Wir sollten die Leute durchzählen, ehe wir losgehen.«

Darcy nickte. Dann wandte sie sich zur Gruppe und bat um Aufmerksamkeit. »Wir machen uns gleich auf den Weg zu den Aufzügen«, sagte sie. »Aber ich möchte Ihnen zuerst noch ein paar Anweisungen geben. Die meisten von Ihnen haben Freunde oder Familie dabei. Ich möchte, dass Sie dicht bei den Leuten bleiben, mit denen Sie hergekommen sind. Fassen Sie sich an den Händen oder so, damit Sie sich nicht verlieren. Alle, die allein gekommen sind, mögen bitte vortreten, dann werden wir dafür sorgen, dass sie einen Partner bekommen.«

Einige Leute drängten sich nach vorn. Sie versammelten sich vor Darcy. Einer davon war Kyle. Vier andere sahen sich um, bildeten Paare und stellten sich ihren neuen Begleitern vor.

»Kann ich Ihr Partner sein?«, fragte Kyle Darcy.

»Dann würde jemand übrig bleiben«, erklärte sie. »Wer ist noch allein?«

Ein Mädchen hob die Hand.

Eine Blonde mit Pferdeschwanz. Sie sah aus wie fünfzehn oder sechzehn. Darcy fragte sich, was ein Mädchen in diesem Alter ohne ihre Eltern bei der Führung machte. »Wie heißt du?«, fragte sie.

»Paula Whitmore«, antwortete das Mädchen.

»Okay, Paula. Möchtest du dich mit diesem jungen Mann zusammentun?«

Sie sah Kyle an, lächelte und nickte. »Klar. Wenn er nichts dagegen hat.«

Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich bin Kyle.«

»Gut«, meinte Darcy. »Dann bleibt ihr beiden zusammen.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Paula mit Kyle zusammengesteckt hatte. Es kam ihr wie ein schmutziger Trick vor, nur um sich selbst den Idioten vom Hals zu schaffen. Verdammt, sagte sie sich, es ist doch ganz normal, die beiden ein Paar bilden zu lassen. Sie sind im gleichen Alter und alles. Und Paula hätte es ablehnen können. Vielleicht genießt sie es sogar, männliche Begleitung zu haben.

Darcy wandte ihre Aufmerksamkeit dem Rest der Gruppe zu. »Okay, gibt es jemanden, der nicht wenigstens einen Partner hat?« Niemand antwortete. »Sobald wir losgehen, möchte ich, dass jeder von Ihnen auf drei Dinge achtgibt. Erstens, bleiben Sie bei Ihrem Partner. Zweitens, halten Sie Anschluss an die Leute unmittelbar vor Ihnen. Wenn es zu dunkel ist, um sie zu sehen, legen Sie einem von ihnen die Hand auf den Rücken. Drittens, achten Sie auf die Leute hinter Ihnen. Lassen Sie sie nicht zurück. Wir haben es nicht eilig.

Mit je einer Taschenlampe an beiden Enden der Gruppe sollte es zumindest ein wenig Licht geben. Einige von Ihnen haben Streichhölzer, Feuerzeuge oder Kameras mit Blitzlicht. Falls nötig, benutzen Sie sie. Aber gehen Sie sparsam damit um. Für den Weg werden wir vermutlich eine Stunde brauchen, und wir wissen wirklich nicht, wie lange es noch dauert, bis die Stromversorgung wiederhergestellt ist und wir die Höhle verlassen können. Ich glaube, wir sollten versuchen, mit den Taschenlampen auszukommen und die Streichhölzer so aufzusparen, falls wir sie später brauchen.

Wenn jemand unterwegs Probleme bekommt, soll er einfach rufen, dann bleiben wir sofort stehen. Noch Fragen?«

»Können wir uns nicht Fackeln basteln oder so?« Das war die Stimme des Jungen, der gefragt hatte, ob Elys Mauer als Damm fungierte.

»Ich schätze schon«, antwortete Darcy, »aber ich glaube, das wird nicht nötig sein. Die Taschenlampen sollten uns genug Licht spenden, bis wir bei den Aufzügen sind.«

»Gibt es hier unten Fledermäuse?«, fragte eine Frau hinten aus der Gruppe.

»Nein. Früher war die Höhle von Fledermäusen bewohnt, aber sie haben sich nicht lange gehalten, nachdem Ely Mordock den natürlichen Zugang verschlossen hat. Dasselbe gilt für Höhlenratten und andere Tiere. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, dass Sie hier unten irgendwelchen ekligen Viechern begegnen.«

»Gott sei Dank«, sagte die Frau.

»Sonst noch Fragen?«

»Sollen wir den ganzen Tag hier rumstehen?«

Greg ließ den Lichtstrahl über die Gruppe schweifen und fand das Gesicht des Typen mit der Peterbilt-Kappe. Der Mann blinzelte und drehte den Kopf zur Seite.

»Irgendwelche anderen Fragen?«, erkundigte sich Darcy. Als sich niemand meldete, sagte sie: »Tom sollte hier vorne gehen.«

Er trat langsam zu ihr, Jim und Beth Donner zu seinen Seiten. Darcy war froh zu sehen, dass sie ihn nicht stützen mussten. Ein Gürtel um seinen Kopf hielt die Stoffkompresse auf der Wunde.

»Ich gehe voran«, verkündete Darcy. »Greg übernimmt das Ende. Er hat eine Taschenlampe und wird alle im Blick behalten.«

»Die werden Sie brauchen«, sagte Beth und gab Darcy ihre Taschenlampe. Sie leuchtete nur ungefähr halb so hell wie Gregs, doch das sollte reichen.

Greg legte eine Hand auf Darcys Schulter; sie fühlte sich durch die Jacke groß und warm an. »Wenn du so weit bist«, sagte er leise. »Ich bleibe hier und zähle sie, wenn sie vorbeigehen.«

»Gut«, sagte sie und wandte sich den anderen zu. »Alle bereit?«

»Alle in Reih und Glied!«, rief der Junge, der wegen der Fackeln gefragt hatte. Darcy begann, ihn zu mögen.

Sie drehte sich um, hob die Taschenlampe über den Kopf, schwang sie nach unten und ging los. Die Holzplanken des Stegs knarrten unter ihren Füßen und ächzten, als die Gruppe sich hinter ihr in Bewegung setzte. Nach ein paar Schritten hatte sie den betonierten Gehweg erreicht.

Sie hielt den Strahl nach unten gerichtet und beleuchtete nur den Bereich vor ihren Füßen. Kurz darauf sah sie die Treppe zur Grotte zu ihrer Rechten. Die Begegnung mit Kyle drängte sich in ihre Gedanken. Sie spürte, wie sie errötete.

Der kleine Spinner denkt wahrscheinlich auch gerade daran.

Kyle, der die dunkle Gestalt Darcys durch die Lücke zwischen den drei Leuten vor sich beobachtete, sah, wie sie den Kopf wandte. Da drüben ist die Grotte, dachte er und verspürte eine warme Regung in den Lenden, als er sich an ihren Anblick erinnerte.

Sie hatte nichts außer ihrem Höschen getragen, und durch das hatte er hindurchsehen können.

Er war bis jetzt dreimal in ihrem Zimmer gewesen, und nun hatte er sie nackt gesehen. Der nächste Schritt war, sie zu nehmen.

Sie in Nummer 115 zu bringen.

Dad wird das nicht zulassen. Sie ist eine Führerin. Sie ist nicht wie Amy Lawson, jemand, den man einfach loswerden kann.

Es muss eine Möglichkeit geben.

Das Mädchen neben Kyle stolperte plötzlich und packte seinen Arm. Als sie sich wieder gefangen hatte, ließ sie ihn los und murmelte: »Entschuldigung.«

»Kein Problem«, sagte Kyle.

»Ich bin manchmal ein furchtbarer Trampel.«

»Vielleicht solltest du meine Hand nehmen«, sagte er so höflich, als arbeitete er im Chalet.

Sie legte ihre Hand in seine. Sie fühlte sich warm an. Kyle betrachtete das Mädchen. Er konnte nicht viel erkennen, nur dass sie eine Brille trug. Aber er erinnerte sich, wie sie aussah. Obwohl er während der Führung größtenteils Darcy beobachtet hatte, hatte er sich auch alle anderen weiblichen Wesen angesehen. Dieses hatte einen blonden Pferdeschwanz und war trotz der Brille irgendwie hübsch. Sie trug eine weiße Bluse, eine offene weiße Strickjacke, einen karierten Faltenrock und Kniestrümpfe. Kyle erinnerte sich, dass sie für ihre schlanke Gestalt große Brüste hatte.

Jetzt bemerkte er, dass sie gut roch. Nicht frisch wie Darcy oder blumig wie Amy. Ein Duft, der ihn an Zuckerwatte denken ließ.

»Woher kommst du?«, fragte sie.

»Ach, ich wohne hier in der Gegend.« Er beschloss, ihr nicht zu erzählen, dass seinem Vater das Hotel gehörte. »Und du?«

»Ich bin aus Santa Monica in Kalifornien.«

»Das ist ganz schön weit weg von hier.«

»Wir besuchen meinen Onkel in Albany. Den Bruder meines Vaters. Wir haben ein Auto gemietet, damit wir ein paar Tage lang die Gegend erkunden können.«

»Du und deine Eltern?«

»Nur mein Vater und ich. Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben.«

»Oh, das tut mir leid.« Es tat ihm nicht leid. Er kannte ihre Mutter ja nicht einmal. Doch es schien das zu sein, was man in so einer Situation sagen musste.

Sie drückte seine Hand. »Schon gut. Was ist mit dir?«

»Meine ist mit jemandem durchgebrannt.«

»Dann lebst du bei deinem Vater, genau wie ich.«

»Du lebst bei meinem Vater?«

Sie lachte leise. »Blödmann.«

»Was machst du ohne ihn hier unten?«

»Er ist klaustrophobisch.«

»Das soll wohl ein Witz sein.«

»Nein, im Ernst.« Kyle fand, sie klang, als grinste sie.

»Und er hat dich zu einer Höhle gebracht?«

»Tja, ich habe im Reiseführer darüber gelesen und gesagt, dass es toll klingt. Und jetzt bin ich hier. Er scheißt sich wahrscheinlich gerade in die Hose, wenn du mir die Ausdrucksweise verzeihst.«

»Was heißt hier Ausdrucksweise, Scheißen ist ein natürlicher Vorgang.«

Sie kicherte, und der verschwommene Umriss ihrer rechten Hand schoss nach oben, um ihren Mund zu bedecken. Als er sich wieder senkte, sagte sie: »Du bist echt schräg, Kyle.«

»Ich bin nicht schräg. Scheißen ist ein normales Wort. Das gab’s schon zu Chaucers Zeiten. Die Vergangenheitsform lautet schiss. Er schiss sich in die Hose.«

Sie unterdrückte ein erneutes Kichern und stieß ihn mit der Schulter an. »Du bist schrecklich.«

Die Frau gleich vor ihnen, die an Toms Seite ging, warf einen Blick über die Schulter. Sie sagte nichts. Dann sah sie wieder nach vorn.

Kyle zeigte ihr den Mittelfinger.

Paula stieß ihn ein weiteres Mal an.

Das ist nicht schlecht, dachte er. Sie mag mich. Vielleicht kann ich sie ein bisschen begrapschen, ehe wir hier rauskommen.

Carol Marsh zuckte zusammen, als Helen den Arm um ihren Rücken legte.

»Du zitterst wie Espenlaub«, sagte Helen.

»Ich friere halt.«

»Du hättest auf mich hören sollen. Ich habe dich gewarnt, dass es hier unten kühl sein würde.«

Ja, Helen hatte sie gewarnt. Helen hatte jede Menge guter Ratschläge auf Lager. Sie war sechsunddreißig, nur fünf Jahre älter als Carol, aber sie behandelte Carol wie ein Kind. Zu viele Jahre im Klassenzimmer mit Kindern, denen es an gesundem Menschenverstand mangelte.

Sie benahm sich so, seit Carol an der George-Washington-Grundschule angefangen hatte. An Carols erstem Arbeitstag hatte die erfahrenere Lehrerin sie unter ihre Fittiche genommen. Und sie seitdem dort behalten.

Das gluckenhafte Benehmen hatte sie bis zu dieser Reise nie besonders gestört. Doch Tag für Tag und Nacht für Nacht mit Helen zusammen zu sein hatte schließlich dazu geführt, dass sie dieses Gebaren als nervig und erdrückend empfand.

Mittlerweile, am fünften Tag ihres Urlaubs, standen ihr die ständigen Ratschläge und die damit verbundene Unterstellung, sie sei nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, bis zum Hals.

Als Helen an diesem Morgen im Hotelzimmer gesagt hatte: »Damit gehst du nicht auf die Führung«, hatte sie entgegnet: »Ich wüsste nicht, was daran falsch sein sollte.«

Es ging um ein gelbes Strandkleid.

»Also, zieh wenigstens einen Pullover über. Du willst dir doch keine Erkältung holen.«

»Es sind über dreißig Grad draußen.«

»Wir werden fünfzig Meter unter der Erde in einer kühlen, feuchten Höhle sein. Und im Reiseführer steht … Warte, ich hole ihn.« Sie wird mir eine Unterrichtsstunde erteilen. Helen fand das Büchlein, schlug es bei einer Karte auf, auf der sie ihren derzeitigen Aufenthaltsort eingezeichnet hatte, und las vor: »›Obwohl die Mordock-Höhle aufgrund ihres ungewöhnlichen Lüftungssystems, durch das Luft von der Oberfläche hereingeblasen wird, im Sommer wärmer ist als viele vergleichbare Höhlen, ist es doch kühl dort unten. Wer bei der Führung nicht frieren möchte, sollte einen Pullover oder eine dünne Jacke tragen.‹«

»Ich glaub, ich werd’s überleben«, sagte Carol.

»Tja, du musst es natürlich selber wissen.«

»Stimmt.«

Jetzt wünschte Carol, sie hätte sich für ihre kleine Rebellion ein anderes Thema gesucht. Die Kühle in der Höhle hatte sich eine Weile gut angefühlt, doch schon bald hatte sie sie gestört. Seit das Licht ausgegangen war, zitterte sie. Sie vermutete, dass es weniger an der Temperatur lag als an ihrer Angst. Was auch immer der Grund war, wärmere Kleider hätten jedenfalls geholfen.

Ihr Strandkleid verbarg nicht viel. Es war kurz und ärmellos und vorn und hinten tief ausgeschnitten. Der Stoff war so leicht, dass er um sie herum zu schweben und ihre Haut kaum zu berühren schien. Er war luftdurchlässig. Herrlich, wenn es heiß war. Nicht so toll hier unten.

Helens Arm fühlte sich auf ihrem Rücken warm und gut an. Sie legte ihren Arm um Helen.

Spürte, wie dick ihr Pullover mit Zopfmuster war.

Ob sie ihn mir wohl für ein paar Minuten überlassen würde?

Ich frage sie auf keinen Fall, sagte Carol sich.

Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir hier raus sind.

Sie blickte auf. Von hinten fiel Licht auf die Schultern und Köpfe der Leute vor ihr. Der Schein beleuchtete auch die glatten grauen Höhlenwände zu ihrer Rechten. Sie sah eine geriffelte Tropfsteinwand, über die ihre Führerin, Darcy, auf dem Hinweg gesprochen hatte.

Wir haben schon über die Hälfte des Weges zu den Aufzügen geschafft, bemerkte sie.

Helen schien sich plötzlich zu versteifen. Ihre Hand drückte fester gegen Carols Seite.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Carol.

»Wir … wir sind doch nicht hier drin gefangen?«

»Nein, natürlich nicht. Bald sind wir wieder draußen.«

»Vielleicht müssen sie einen Elektriker aus der Stadt holen. Das kann eine Weile dauern.«

»Sie lassen uns nicht hier unten, Helen.«

»Ich weiß. In spätestens ein paar Stunden sind wir bestimmt wieder draußen.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Carol ihr zu. »Ich glaube wirklich nicht, dass da oben etwas Schlimmes passiert ist.«

»Ein Kurzschluss oder so etwas in der Art.«

»Ist es zu fassen, dass dieser Idiot gemeint hat, es könnte einen Atomschlag gegeben haben?«

»Ich vermute, das ist eine Möglichkeit. Die Möglichkeit besteht immer

»Aber es ist völlig abwegig«, sagte Carol. »Es ist schon schlimm genug, ohne irgendwelche Katastrophen an die Wand zu malen.«

Helen tätschelte ihre Seite.

Sie gingen schweigend weiter.

Carol vergaß die Kälte. Sie kämpfte gegen ein schreckliches Verlustgefühl an. Warum eigentlich?, dachte sie. Es gab bestimmt keinen verfluchten Atomkrieg. Wahrscheinlich.

Und selbst wenn, ich habe keine Familie. Wenn alle ausgelöscht würden, würde ich ein paar Freunde verlieren. Helen ist vermutlich meine beste Freundin, und sie ist mit mir hier unten sicher aufgehoben.

Ist das nicht schön? Niemanden, den man verlieren kann. Keinen Ehemann, nicht mal einen Liebhaber. Kein Kind. Du bist einunddreißig, und du hast nichts. Du hast es mit Derek verbockt, du hast es mit David verbockt. Du wolltest deinen Freiraum.

Du wirst allen Freiraum haben, den du dir vorstellen kannst, wenn die Welt dem Erdboden gleichgemacht wurde.

»Carol?«

»Was?«, fragte sie, froh darüber, aus diesen Gedanken gerissen zu werden.

»Ich habe mein Insulin im Hotelzimmer gelassen.«

»Sind wir gleich da?«

Wayne Phillips sah zu seiner Tochter hinab. Katie ging zwischen ihm und Jean und hielt ihre Hände.

»Wo?«, fragte Wayne.

»Stell dich nicht blöd, Daddy. Am Aufzug.«

»Es dauert noch eine Viertelstunde oder so, glaube ich. Wenn die Monster uns nicht holen.«

Katie riss ihre Hand los und boxte ihn gegen die Hüfte. »Mommy, sag Daddy, er soll aufhören. Er redet von Monstern.«

»Wirklich, Wayne. Ich finde nicht, dass das der richtige Zeitpunkt für so etwas ist.«

»Du hast recht. Außerdem habe ich noch keine gesehen. Bis jetzt.«

»Daddy!«

»Er hat Monster im Kopf«, sagte Jean.

»Und das ist auch gut so«, erklärte er, »sonst könnten wir uns diesen herrlichen Urlaub nämlich nicht leisten.« Es war ein gutes Gefühl, an die 7500 Dollar zu denken, die sie gerade erhalten hatten, die erste Hälfte des Vorschusses von 15000 Dollar für seinen neuen Roman Die im Dunkel lauern. Die zweite Hälfte war bei der Veröffentlichung fällig, spätestens jedoch in neun Monaten.

»Daraus mache ich auf jeden Fall ein Buch«, sagte er. »Was für eine großartige Prämisse. Vierzig Leute, eingeschlossen in einer Höhle.«

»Haben wir nicht einen Film von Irwin Allen gesehen, der so ähnlich war?«, fragte Jean.

»Das war ein Katastrophenfilm. Bei mir wird es Horror. Da ist etwas Grauenhaftes in der Höhle. Etwas, das sich in der Dunkelheit anschleicht und …«

»Hör auf, Daddy. Ich finde das nicht lustig.«

»Ich will dir keine Angst einjagen«, beschwerte er sich. »Ich denke nur laut.«

»Mir wäre lieber, du würdest still denken.«

Sieben Jahre alt, dachte er, und sie kommandiert bereits Männer herum.

Sie hat Angst.

Sie liebt Gruselgeschichten und Horrorfilme, aber das hier geht ihr an die Nieren. Das ist die Wirklichkeit. Keine Zombies oder Verrückten oder angreifenden Außerirdischen (noch nicht), aber wir sind an einem Ort, der diesen Wesen wirklich gefallen könnte, und das weiß sie.

Und ich auch.

Es ist niemand außer uns hier unten, sagte sich Wayne.

Und plötzlich erinnerte er sich an die Tonmenschen aus einer der Flash-Gordon-Serien, die er sich im Fernsehen angesehen hatte. Sie kamen in der gleichen Geschichte vor wie die Waldmenschen, dieses verrückte Volk mit den wilden Frisuren, das sich durch die Bäume schwang und entweder Flash oder Happy mit einem Pfeil aus den seltsamen kleinen Armbrüsten erwischte.

Großer Gott, dachte Wayne, ich habe die Waldmenschen verwendet.

Sie waren als die Kroten in seinem zweiten Roman aufgetaucht. Bis jetzt war ihm die Verbindung noch nie aufgefallen.

Wie wär’s also mit den Tonmenschen?, fragte er sich. Sie waren genauso beängstigend wie diese Irren in den Bäumen. Irgendwie ähnelten sie Mumien. Sie waren in den Wänden der Höhlen. Man konnte sie nicht sehen. Sie waren einfach Teil des Steins (oder Tons), bis sie beschlossen, sich zu bewegen, und dann lösten sie sich irgendwie heraus und taumelten herum.

Sehr ähnlich wie Mumien. Vielleicht waren sie deshalb so unheimlich. Und weil sie überall sein konnten. Man lehnte sich gegen eine Höhlenwand, um sich auszuruhen, und vielleicht lehnte man sich gegen einen von ihnen, und ehe man sich versah, packte er einen.

Es stellte sich heraus, dass sie gute Menschen waren, erinnerte sich Wayne. In Ton verwandelt zu werden war die Strafe dafür, dass man etwas verbockte. Es war nicht Mings Werk. Irgendeine Frau. Eine böse Königin oder Prinzessin.

Ziemlich weit hergeholt. Damit konnte man vielleicht 1938 oder wann immer durchkommen, aber nicht heutzutage.

Trotzdem war es eine gruselige Idee.

Überall um uns herum. In den Wänden. Nachdem wir vorbeigegangen sind, materialisieren sie sich – graue, missgestaltete Kreaturen der Höhle. Sie sind gebeugt. Sie torkeln eher, als zu laufen. Und sie beginnen, sich anzuschleichen.

Etwas schnappte Waynes Hand. Er zuckte zusammen und sog scharf die Luft ein.

Es war Katie.

Sie lachte.

»Du hast mich zu Tode erschreckt«, flüsterte er.

Katie lachte noch lauter.

Er wusste, dass es für Katie eine der wahren Freuden des Lebens war, ihrem Dad einen schönen Schrecken einzujagen, selbst wenn es aus Versehen geschah (wie dieses Mal). Es stand auf derselben Stufe, wie über Popel, Kotze, Ärsche und Fürze zu reden.

Bei derartigen Vorlieben, dachte er, wird es noch so weit kommen, dass sie lieber Stephen King liest als die Bücher ihres guten alten Vaters.

Wayne bemerkte, dass das Paar vor ihm seine Unterhaltung fortsetzte – und seine geflüsterten Worte wahrscheinlich nicht hören würde. »Du hast mich so erschreckt, dass ich, glaube ich, ein Loch in meine Unterhose gesprengt habe.«

»Hast du sie in eine Hershey-Schokoladenfabrik verwandelt?«, fragte Katie.

»Wo hast du denn so was gelesen?«

»Sie hat dir zugehört, Schatz«, verkündete Jean.

»Ich stehe mehr auf Nestlé.«

Calvin Fargo hatte vor langer Zeit den Überblick verloren, wie viele Knochen er sich schon gebrochen hatte, doch im Augenblick hatte er das Gefühl, er könnte sie problemlos zählen, wenn er Lust dazu hätte. Jeder der alten Brüche schrie nach Aufmerksamkeit. Daran war die feuchte Kälte schuld.

Calvin war über dreißig Jahre lang Stuntman gewesen, hatte einen großen Teil der Zeit im Sattel verbracht und in über hundert Filmen ins Gras gebissen. Er war von Pferden und Rindern niedergetrampelt, von Postkutschen und Buggys (und in einem Remake von Ben Hur von einem Streitwagen) überfahren worden und von Balkonen, Dächern und Klippen gefallen. Insgesamt hatte er sich mehr Brüche zugezogen, als ein Mensch Knochen hat.

Der handgeschnitzte Gehstock aus Mesquite-Holz mit dem Messingknauf in Form eines Pferdekopfs war ein Scherzgeschenk zu seinem fünfzigsten Geburtstag gewesen. Auch wenn er damals ziemlich kaputt gewesen war, hatte er noch ohne Hilfe eines Stocks herumlaufen können. Doch das Geschenk kam von Yakima Canutt, der nicht nur sein alter Kumpel, sondern auch einer der größten Stuntmen aller Zeiten war, deshalb hielt Calvin den Stock in Ehren und nahm ihn überall mit hin – auch wenn er ihn nicht brauchte.

Heute war er sehr froh, über dieses Hilfsmittel verfügen zu können.

Doch der Stock reichte aus. Er konnte ganz sicher darauf verzichten, dass auch noch Mavis versuchte, ihn zu stützen.

»Lass meinen Arm los, Süße«, sagte er, als er bemerkte, dass sie sich nicht einfach nur untergehakt hatte, sondern daran zog. »Ich brauche keine Frau, die an mir rumzupft.«

»Sei nicht so ein Chauvinist, Schätzchen.«

»Ich kann mich wirklich glücklich schätzen«, sagte er. »Ich bin der einzige Mann in diesem Land, der mit einem Mädel verheiratet ist, das immer noch spricht wie aus einer Ausgabe des Cosmopolitan aus den Sechzigern.«

»Ach, hör auf, dich zu beschweren.«

»Dann hör du auf, an meinen Gliedern zu zerren.« Sie stützte ihn nicht länger, ließ jedoch die Hand auf seinem Ellbogen liegen. »Vielen Dank.«

»Hochmut kommt vor dem Fall.«

»Zum Teufel, jetzt fängt sie mit der Bibel an!«

Er hörte Mavis leise kichern. »Du alter Kauz. Ich weiß nicht, wie ich es mit dir aushalte.«

»Weil ich der schärfste Stecher nördlich des Rio Grande bin, deshalb.«

»Pssst. Sonst hört dich noch jemand.«

»Sollen sie doch. Sprich wahr und beschäme den Teufel, wenn du schon so versessen auf Sprichworte bist, während du gerade mal keine Männer als Chauvis beschimpfst.«

»Du bist wirklich streitsüchtig heute.«

»Diese Pfeife hat mich einen alten Sack genannt.«

»Tja, du hättest dich nicht einmischen sollen.«

»Das konnte man sich doch nicht länger anhören, wie dieser Hurensohn seinen Jungen schikaniert hat. Er kann verdammt froh sein, dass ich ihn mir nicht vorgeknöpft habe.«

»Vergiss das ganz schnell wieder, dir irgendjemanden vorzuknöpfen, Calvin Fargo.«

»Er hat kein Recht, den Jungen so zu behandeln. Die eigenen Kinder, das ist doch das Beste, was man im Leben …«

»Vielen Dank auch.«

»Außer natürlich ein gutes Pferd, alte Stiefel, einen warmen Platz zum Scheißen und eine enge …«

»Wage es bloß nicht, dieses Wort in der Öffentlichkeit auszusprechen.«

Er lachte. »Zum Teufel, Süße, ich wollte dich nur mit einbeziehen, sonst nichts.«

Mavis drückte seinen Arm. »Dein Kompliment wird gebührend gewürdigt. Aber posaune es nicht in die ganze Welt hinaus.«

Der Gehweg endete, und Darcy trat auf den Steinboden des Bereichs, der »Kathedrale« genannt wurde. Sie hob ihre Taschenlampe. Der Strahl war nicht stark genug, um das andere Ende der Kammer zu erreichen, doch sie wusste, dass die Aufzüge sich gleich dort drüben in der Dunkelheit befanden.

Die Kathedrale schien leer zu sein.

»Hallo?«, rief sie.

Keine Antwort.

Lynn und ihre Gruppe hatten es also vor dem Stromausfall nach oben geschafft. Glück gehabt.

Wir haben auch ziemliches Glück gehabt, dachte sie.

Sie konnte kaum glauben, dass die Wanderung so reibungslos verlaufen war. Niemand hatte um Hilfe gerufen. Offenbar war niemand gestolpert oder vom Weg abgekommen oder in Panik geraten.

Sie wandte sich um und ging zurück. Gregs Lampe war wie ein Signalfeuer, er hielt sie hoch und leuchtete auf die Touristen hinab, ließ den Strahl von links nach rechts, von oben nach unten wandern.

»Wir haben es geschafft!«, rief Darcy.

Ihre Verkündigung wurde mit gedämpftem Applaus, einigen Jubelrufen und einem Pfiff quittiert.

Darcy drehte sich wieder nach vorn und entdeckte die Aufzugstüren am verblassenden Rand des Lichtscheins. Sie ging darauf zu.