11

Kyle nahm ihren Koffer. Sein Vater hob Amys eingepackten Körper vom Bett und legte ihn sich wie ein Feuerwehrmann über die Schulter. »Noch eine Regel«, sagte Dad, als er mit seiner Last losging. »Achte darauf, dass die Augen nicht größer sind als der Magen. Bring keine um, die du nicht tragen kannst. Es ist nicht einfach, die Schlampen durch die Gegend zu schleppen.« Er trat durch die Öffnung, in der sich der Spiegel befunden hatte.

Kyle folgte ihm.

»Normalerweise«, sagte Dad, »würde ich sie hier auf dem Stuhl absetzen, während ich mich davon überzeuge, dass die Luft rein ist. Aber jetzt kannst du vorgehen und nachsehen.« Er nickte zur Tür des Lagerraums. »Wirf einen Blick in den Korridor und ins Treppenhaus. Zu dieser Nachtzeit läuft niemand durch die Gegend, aber Vorsicht macht sich bezahlt.«

Kyle stellte den Koffer ab und öffnete die Tür. Der lange, schwach beleuchtete Flur schien leer zu sein. Er trat hinaus und eilte die paar Meter zur Feuertür. Er stieß sie auf, sah die Treppe hinauf und hinunter, lauschte einen Augenblick und lief dann zurück zum Lagerraum. »Alles klar«, sagte er und hob den Koffer wieder auf.

Er hielt die Tür auf und war überrascht, mit welcher Geschwindigkeit sein Vater den frei einsehbaren Gang durchquerte. Kyle zog die Lagerraumtür zu, vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen war, und eilte zum Treppenhaus.

Dad war schon unten und drückte die Ausgangstür auf.

Bringt er sie nach draußen?

Er weiß, was er tut, sagte Kyle sich. Bestimmt.

Kyle stieg die vier Treppen hinab und folgte seinem Vater durch die Tür.

Der Cadillac stand dort, mit bereits geöffnetem Kofferraum.

Dad beugte sich vor. Der Körper rutschte von seinen Schultern und fiel in den Kofferraum. Das Auto wackelte ein wenig bei dem Aufprall. Sein Vater nahm ihm den Koffer ab und warf ihn neben dem Körper hinein. Dann klappte er den Deckel hinunter und drückte ihn nahezu geräuschlos ins Schloss.

Er lehnte sich gegen das Heck und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das war nicht so schwierig, oder?«

»Wir sind hier im Freien, wo uns jeder sehen kann«, flüsterte Kyle.

»Ach ja? Guck dich mal um.«

Kyle musste sich nicht umsehen; er war schon unzählige Male hier gewesen. Sie hatten den Körper aus der Feuertür am Ende des Ostflügels gebracht. Das Auto stand sehr dicht an der Tür, aber …

Dad zeigte auf das Hotel. »Keine Fenster auf dieser Seite«, sagte er. »Das war so geplant. Und da drüben Hecken.« Er wies auf das andere Ende der Einfahrt. Dann zeigte er auf die Reihen von dichten, hohen Büschen zu beiden Seiten. »Die versperren jedem die Sicht, der zufällig von vorn oder hinten durch die Einfahrt spaziert. Es scheint also nur so, als wären wir hier ungeschützt. Wenn uns jemand sehen kann, dann nur, wenn er genau über uns ist.«

»Was, wenn das passiert?«

»Bis jetzt ist es noch nie vorgekommen.«

»Aber …«

»Ich nehme an, wenn mich jemand sehen würde, würde ich ihn töten.«

Dad griff hinter seinen Rücken unter den herabhängenden Saum des Hemds und zog einen Revolver hervor. »Lebensversicherung.« Er steckte die Waffe zurück an ihren Platz. »Komm, lass uns weitermachen.«

Sie stiegen ins Auto. Dad ließ den Motor an und fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern, bis sie die erste Kurve hinter sich gelassen hatten. Zwischen ihnen und dem Hotel standen Bäume am Straßenrand. Die Scheinwerfer leuchteten auf und schnitten helle Tunnel in die Dunkelheit.

»Wohin fahren wir?«

»Nicht weit.«

»Hast du einen speziellen Ort, an dem …?«

»Sehr speziell.« Am Übergang für das Vieh bog Dad auf die unbefestigte Straße. Er stieg aus, entfernte das Schloss und die Kette vom Tor, schwang es auf und kam zurück. Langsam fuhr er weiter. »Du kennst doch die Geschichte von Elys Mauer«, sagte er.

»Klar.«

»Tja, das ist völliger Schwachsinn. Elizabeth ist in keine Spalte gefallen. Ely hat rausgefunden, dass sie mit ihrem Handwerker, einem Mann namens Arnold Winston, rumgevögelt hat. Also hat er, nachdem die Aufzüge eingebaut waren, den natürlichen Zugang verschlossen und sie in die Höhle gebracht. Er hat sie dort festgebunden. Danach hat er Elys Mauer gebaut. Er hat sie gesund und munter im hinteren Bereich der Höhle eingeschlossen.«

»Wahnsinn«, murmelte Kyle.

»Hast du jemals Das Fass Amontillado gelesen?«

»Klar«, sagte Kyle.

»Also, Ely war ein großer Fan von Poe. Es hat ihn irrsinnig gereizt, seine lüsterne Schlampe einzumauern.«

Der Wagen hielt in der Mitte einer Baumgruppe. Dad löschte die Scheinwerfer und drückte den Knopf am Armaturenbrett, um den Kofferraum zu öffnen. »Komm«, sagte er.

Sie gingen zum Kofferraum. Dad reichte Kyle den Koffer. Er zog den Körper heraus und schwang ihn sich über die Schulter.

Seite an Seite gingen sie durch die Bäume. Kyle hörte den fernen Schrei einer Eule. Die einzigen anderen Geräusche waren das Knirschen ihrer Schuhe auf dem Waldboden und ihr schnaufender Atem. Die Bäume schirmten den Großteil des Mondlichts ab, nur ein paar helle Flecke durchbrachen die Dunkelheit.

Schließlich blieb Dad neben einer Ansammlung von Steinen stehen. Er beugte sich vor. Amys Körper fiel zu Boden. Dad lehnte sich gegen einen Felsen und seufzte. »Stell den Koffer ab und komm her«, sagte er.

Kyle setzte ihn ab. Als er sich der verschwommenen Gestalt seines Vaters näherte, sah er, wie dieser einen Arm durch die Luft schwang und mit dem Daumen nach hinten zeigte, als wollte er trampen. »Sie dir das mal an, aber pass auf, wo du hintrittst.«

Kyle ging vorsichtig um den Felsen herum. Er sah einen schmalen schwarzen Streifen auf dem dunklen Boden. »Ich weiß nicht … Was ist das?«

»Der Schacht, mein Junge, der Schacht.«

Kyle schüttelte den Kopf.

»Es ist ein Erdloch. Eine natürliche Öffnung, die direkt in den verschlossenen Teil der Höhle hinabführt. Weißt du, was Ely getan hat, nachdem er Elizabeth da unten eingemauert hatte? Er hat Arnold unter einem Vorwand hierhergelockt, ihm eins über den Schädel gezogen und ihn in den Schacht geworfen. Elys Vorstellung von Gerechtigkeit. Seine Frau wollte Arnold, jetzt konnte sie ihn haben. Für immer.«

»Wow«, sagte Kyle. »Er hat’s ihnen gezeigt, oder?«

»Vielleicht sogar besser, als er dachte.«

»Was meinst du damit?«

Kyles Vater stieß ein leises Lachen aus. Ein seltsames Lachen, bei dem Kyle eine Gänsehaut über den Rücken kroch.

»Sie sind nicht gestorben. Keiner von beiden. Der Schacht führt bis ganz nach unten, aber nicht gerade, sonst wäre Arnold bei dem Sturz umgekommen. Es ist eher wie eine Rutsche, zumindest teilweise. Ein paar Tage, nachdem Ely ihn reingeworfen hat, kommt er zurück und ruft in das Loch, nur für den Fall, dass Elizabeth nah genug ist, um ihn zu hören. Und sie antwortet. Beide antworten. Sie betteln darum, dass er sie rauslässt. Was macht Ely also? Er beginnt, ihnen Essen zu bringen und es in den Schacht zu werfen. Nicht viel. Gerade genug, damit sie nicht verhungern. Er will, dass sie am Leben bleiben, verstehst du? Lebendig, aber für immer da unten eingeschlossen. In der Dunkelheit. In der Kälte. Zusammen.« Wieder stieß Dad dieses seltsame, beängstigende Lachen aus.

»Er brachte ihnen echte Delikatessen. Zuerst Essensreste. Knochen. Manchmal rohes Fleisch. Immer, wenn er kam, warteten sie am Ende des Schachts. Er hat sie gequält. Er hat gerufen: ›Habt ihr Hunger da unten?‹ Sie haben ihn um Essen angefleht, und er hat sie dazu gebracht, ›Bitte, bitte‹ zu sagen. Er hat wirklich eine ganz schöne Nummer mit ihnen abgezogen. Ich zeige dir sein Tagebuch. Es ist ziemlich lustig.

Jedenfalls ist er eines Tages rausgefahren und hat eine Katze gefunden, die von einem Auto überfahren wurde. Er hat sie von der Straße gekratzt und ihnen gebracht. Er wusste, dass sie sie essen würden. Sie mussten sie essen, sonst wären sie verhungert. Als sie merkten, was er ihnen runtergeworfen hatte, schrien sie und brüllten Flüche. Tja, das hat Ely wirklich gereizt. Deshalb hat er angefangen, ihnen alle möglichen ekligen Dinge zu bringen. Er jagte Schlangen und Eidechsen und warf sie in das Loch. Er fing Ratten und servierte sie ihnen zum Abendessen. Manchmal warf er ihnen einen Laib Brot hinab, aber vorher pisste er darauf. Er hat sogar Hunde erschossen und sie verwesen lassen, ehe er sie ihnen vorwarf.«

»Hat er das wirklich alles getan?«, fragte Kyle. Ihm war ein wenig übel, doch zugleich bewunderte er Ely für die Mühen, die er auf sich genommen hatte, um seine Rache auszukosten.

»Allerdings«, sagte Dad. »Und er hat jede Minute davon genossen. Nach einer Weile haben Elizabeth und Arnold jedoch einen anderen Ton angeschlagen. Sie haben aufgehört, ›Bitte, bitte‹ zu sagen.« Dad lachte. Kyle konnte nicht anders, er fiel ein.

Schließlich wischte sich Dad über die Augen und seufzte. »Jedenfalls wurde es ein bisschen unheimlich. Er hörte sie da unten lachen. Und sie riefen ihm zu, er solle näher kommen. Sie sagten, sie hätten etwas für ihn.«

»Wollten sie, dass er in das Loch fiel?«, fragte Kyle.

»Klar.«

»Das klingt, als wären sie durchgedreht.«

»Total verrückt. Aber Ely kam weiter vorbei und brachte ihnen Sachen. Dann tauchte eines Tages eine hübsche junge Frau im Hotel auf. Sie hatte sich auf der Straße rumgetrieben, war pleite und fragte nach einem Platz für die Nacht. Ely lebte mittlerweile seit ein paar Monaten ohne seine Frau und war ziemlich geil. Also ist er mit seinem Generalschlüssel in der Nacht in das Zimmer des Mädchens eingedrungen und über sie hergefallen. Sie hat versucht, ihn abzuwehren. Schließlich hat er sie erwürgt. Als er mit ihr fertig war, hat er sie hier rausgebracht und ins Loch geworfen.«

»Und sie haben sie gegessen?«, fragte Kyle. »Fing es so an?«

»Ja. Es wurde Ely zur Gewohnheit. Und als sein Sohn, dein Großvater, alt genug war, um die Angelegenheit genießen zu können, wurde er eingeführt, hielt die Sache am Laufen und gab sie mir weiter.«

Kyle schüttelte den Kopf. »Aber sie müssen gestorben sein. Elizabeth und Arnold. Ich meine, das ist ungefähr sechzig Jahre her, oder …«

»Vermutlich schon«, sagte Dad. Er stand auf und trat um den Stein herum. Auf allen vieren kniete er sich über das Loch. »Essen ist fertig!«, rief er. »Hallo! Zimmerservice!«

Leise Geräusche schwebten herauf. Stöhnen, Kichern, Stimmen.

Kyle erschauderte. Es fühlte sich an, als kröchen ihm Spinnen durchs Haar.

Die kaum hörbaren Stimmen redeten unverständliches Zeug. Doch sie klangen fröhlich.

Kyle sah seinen Vater an und schüttelte den Kopf.

»Ich komme ein paarmal pro Woche hier raus«, sagte Dad. »Bringe ihnen eine Kleinigkeit. Und lausche. Ich vermute, da unten sind sechs bis acht von ihnen. Manchmal habe ich Babys schreien hören.«

Kyle kroch rückwärts von dem Loch weg und konnte die Geräusche nicht mehr hören.

Dad stand auf. Er bürstete sich die Knie ab. »Komm, wir schicken Amy auf die Reise.«

Er hob sie hoch, trug sie zur schwarzen Öffnung und warf sie hinein. Die Müllsäcke knisterten und knackten. Es rumpelte und pochte leise. Dann herrschte Stille.

»Den Koffer auch«, sagte Dad. »Damit die Leute was Anständiges zum Anziehen haben.«

Kyle warf den Koffer in das Loch und lauschte, wie er hinunterrutschte.

Sein Vater ging in die Hocke, legte die Hände trichterförmig vor den Mund und rief in die Dunkelheit: »Haut rein, Leute! Solange es noch warm ist!«