2

Sie werden anfangen durchzudrehen, dachte Darcy. Doch solange sie in den Booten blieben, war es unwahrscheinlich, dass jemand verletzt würde. Früher oder später würde das Licht mit Sicherheit wieder angehen.

Es gab nur eine Taschenlampe, sofern nicht Toms noch funktionierte. Trotz des Gehwegs und der Geländer, die von der Anlegestelle zu den Aufzügen führten, würde es schwierig werden, die ganzen Leute durch die Dunkelheit zu geleiten. Der Weg war kurvig, abschüssig und von Stufen unterbrochen. Stürze waren fast unvermeidlich. Und was war mit Tom? Was, wenn er nicht aus eigener Kraft laufen konnte? Man würde ihn stützen oder sogar tragen müssen.

Das alles, um zwei Aufzüge zu erreichen, die ohnehin nicht funktionierten, ehe die Stromversorgung wiederhergestellt war. Und dann würde auch das Licht wieder angehen. Warum sollten sie also nicht einfach abwarten und erst den Rückweg antreten, wenn die Höhle wieder hell erleuchtet war?

Was, wenn das noch Stunden dauert?

Was, wenn es bis morgen dauert?

Was, wenn es niemals passiert?

Bei diesem Gedanken verkrampfte sich Darcys Magen, und sie begriff, dass alle in den Booten sich dasselbe fragten, dasselbe aufkommende Entsetzen empfanden.

Plötzlich fiel ihr Lynns Gruppe ein. Waren diese Leute auch hier unten eingeschlossen? Vermutlich nicht. Sie waren auf ihrem Rückweg an Darcy vorbeigekommen, eine ganze Weile vor dem Stromausfall.

Die Führungen waren so angesetzt, dass sie sich überlappten; jede dauerte eineinhalb Stunden. Lynns Gruppe sollte also ungefähr zur selben Zeit oben angekommen sein, als Darcy Elys Mauer erreicht hatte.

Es war wahrscheinlich knapp. Vielleicht hatten sie es geschafft, vielleicht auch nicht.

Eine Hand drückte ihren Unterarm. Sie sah zu Greg. »Selbst wenn wir hier unten festsitzen«, flüsterte er, »sollten wir doch pro forma am Plan festhalten. Das ist besser, als einfach hier zu warten und die Leute ihren Sorgen zu überlassen.«

»Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Aber wir können die Boote nicht an den Felszacken durchs Wasser ziehen wie auf dem Hinweg. Das ist im Hellen schon schwierig genug.«

»Sollen wir sie schleppen?«, schlug er vor.

»Sonst müssten alle durchs Wasser waten. Ich nehme dieses Boot und gehe vor. Bist du bereit für ein Bad, oder sollen wir nach Freiwilligen fragen?«

»Ich bin sowieso schon nass.«

»Danke.«

»Kein Problem.«

Darcy wandte sich den Passagieren zu. Viele redeten gedämpft miteinander. Das Kind, das vorhin laut geweint hatte, schluchzte nun leise. Die Gespräche klangen aus, als die Taschenlampe Darcys Gesicht beleuchtete.

»Tom scheint es schon viel besserzugehen. Ich möchte mich bei den Leuten bedanken, die ihre Jacken hergegeben haben, damit er nicht auskühlt. Ich bin sehr erfreut darüber, wie Sie sich alle angesichts dieser Situation, die bestimmt bald vorüber ist, verhalten haben. Während wir darauf warten, dass das Licht wieder angeht, werden Greg und ich zurück ins Wasser hüpfen und die Boote zur Anlegestelle schleppen. Ich bin sicher, Sie werden sich alle viel besser fühlen, wenn Sie erst trockenen Boden unter den Füßen haben.«

»Und dann?«, fragte jemand.

Ehe sie antworten konnte, sagte Greg: »Wir sollten Schritt für Schritt vorgehen, Leute.« Er klopfte Darcy auf den Rücken, dann sprang er aus dem Boot.

Darcy folgte ihm. Das Eintauchen ins kalte Wasser war ein Schock, doch es kam ihr nicht ganz so schlimm vor wie zuvor. Sie hielt sich am Dollbord fest. »Sie da mit der Taschenlampe?«

Die Frau sah sie an.

»Wie heißen Sie?«

»Beth.«

»Das haben Sie gut gemacht, Beth. Danke. Richten Sie die Lampe jetzt einfach nach vorn, damit ich sehen kann, wohin ich gehe.«

»Gut.«

Darcy watete vor das Boot. Sie umklammerte mit beiden Händen den Metallrand und lehnte sich zurück. Das Boot glitt träge auf sie zu. Sie ging rückwärts, und es wurde schneller. Als es sich ruhig durchs Wasser bewegte, lenkte sie es von der Höhlenwand weg.

Das kalte Wasser kletterte an ihr empor. Sie biss die Zähne zusammen, als es ihre Brüste umspülte.

Mach dir warme Gedanken, sagte sie sich.

Wenn du hier raus bist, kannst du in der Sonne braten. Niemand wird von dir erwarten, dass du heute noch eine Tour übernimmst. Du wirst den Nachmittag frei haben. Geh mit deiner Mutter zum Hotelpool und mach es dir in einem Liegestuhl bequem.

Falls du hier rauskommst. Falls es das Hotel noch gibt. Falls es deine Mutter noch gibt.

Verdammt, da oben ist nichts passiert!

Warum ist dann das Licht noch nicht wieder an?

»Wie läuft’s, Greg?«, rief sie, um sich nicht länger mit diesen beunruhigenden Gedankenspielen beschäftigen zu müssen.

»Kein Problem.«

Sie blickte über die Schulter. Der Strahl der Taschenlampe durchkreuzte die Dunkelheit und hinterließ ein paar Meter hinter ihr einen glänzenden Fleck auf dem Wasser. »Halten Sie sie höher, Beth.«

Das Licht hob sich. Fast am Ende der Reichweite des Strahls befand sich die Anlegestelle, eine hölzerne Plattform, die sich am hinteren Ende der Höhle entlangzog. Vielleicht zwanzig bis dreißig Meter entfernt.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Darcy.

»So lasset uns singen.« Das war Greg. Darcy lächelte. Ein paar Ausflügler lachten. Eine Frau in ihrem Boot begann tatsächlich, ein Lied anzustimmen: »O Darcy, zieh das Boot ans Ufer.« Weiteres Gelächter. Niemand stimmte in ihren Gesang ein, und nach dem ersten »Halleluja« klang ihre Stimme langsam aus.

Darcy trat ins Leere. Ihr anderer Fuß rutschte weg. Sie keuchte erschrocken auf und sank bis zum Kinn ins Wasser, bevor sie sich hochziehen konnte. Sie hielt sich am Boot fest. Es zog sie rückwärts mit sich. Sie spürte, wie ihre Beine unter dem Boot nach oben trieben und die Knie leicht gegen den Rumpf schlugen. Das Boot wurde langsamer. Eine Stimme vom anderen Ende sagte: »Passen Sie auf.«

»Was zum …?«, sagte Greg.

Darcys Boot wackelte und bekam einen kleinen Schub nach vorn.

»Alles klar?«, rief sie.

»Kein Problem.«

»Er wurde beinahe zerquetscht«, sagte eine Frau.

»Schon okay«, sagte Greg. »Gibt’s Probleme?«

»Ich hab nur den Boden unter den Füßen verloren.« Darcy ließ ihre Füße herabsinken. Sie fanden den steinigen Grund. »Jetzt ist wieder alles in Ordnung.« Darcy zog an dem Boot. Es bewegte sich langsam vorwärts. »Pass auf das Loch auf, Greg.«

»Klar. Ich hoffe, hier unten gibt’s keine Haie.«

»Wir sind hier die einzigen Wildtiere.«

»Ein beschissenes Komikerduo«, sagte eine Stimme.

»Passen Sie auf, was Sie sagen«, blaffte Darcy. »Es sind auch Kinder hier unten.«

»Und wenn schon.«

»Mister!«, ermahnte Darcy ihn.

»Leck mich doch.«

»Dad, hör auf.« Ein Kind. Darcy vermutete, es war der vierzehn oder fünfzehn Jahre alte Junge mit Brille und rotem Kapuzenpullover – der Junge, der während der Führung neben dem Mann mit dem mürrischen Gesicht gegangen war. Der Junge, an dessen Arm grob gezerrt worden war, nur weil er stehen bleiben und einen zweiten Blick auf den Indianergesicht-Felsen hatte werfen wollen.

Es mussten diese beiden sein.

»… so mit mir zu sprechen«, murmelte der Vater drohend.

»Aua, nicht.«

»Schluss jetzt dahinten, du Schnösel.« Die Stimme eines anderen Mannes.

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, alter Sack.«

»Hey!«, rief Darcy.

»Okay, Kumpel.« Greg. »Du bist der Typ mit der Peterbilt-Kappe und den Cowboystiefeln. Du nimmst dich jetzt sofort zusammen.«

Stille.

Es muss ein echter Schock für den Spinner sein, dachte Darcy, zu hören, wie ihn jemand beschreibt, der ihn im Dunklen nicht mal sehen kann.

Sie blickte erneut über die Schulter. Die Taschenlampe war noch immer auf die Anlegestelle gerichtet. »Wir sind gleich da«, sagte sie.

Nur noch ungefähr zehn Meter. Obwohl es nicht besonders anstrengend war, das Boot zu ziehen, spürte Darcy die ersten Schmerzen. Ihre Arme waren nur ein wenig schwer, doch die Rückenmuskeln – besonders an den Schulterblättern, aber auch weiter unten am Rückgrat – waren heiß, taten weh und fühlten sich an, als verknoteten sie sich. Ihre Hinterbacken schmerzten ebenfalls. Genau wie die Rückseiten ihrer Beine.

Das ist der Lauf der Dinge, dachte sie. Man wird einundzwanzig, und der Körper verabschiedet sich. Von da an geht es nur noch bergab.

Sie grinste.

Der widerliche Deke hatte sie nach der Party letzten Monat auf dem Parkplatz von Sam’s festgehalten und versucht, dem besoffenen Geburtstagskind einen Kuss abzuringen, und sie hatte ihn von Kopf bis Fuß vollgekotzt. Was er für ein Gesicht gezogen hatte! Dann hatte er selbst gereihert und sie verfehlt, weil sie zur Seite gesprungen war. Die Geschichte zirkulierte auf dem gesamten Campus. Man hatte begonnen, sie »Kübel-Darcy mit dem Kuss des Todes« zu nennen.

Gott sei Dank hatte das Semester kurz darauf geendet.

Im Herbst, dachte sie, wird das alles Geschichte sein.

Im Herbst könnte ich Geschichte sein.

Ihr Magen verkrampfte sich.

Uns passiert nichts.

Vergiss den Pool. Ich verbringe den Nachmittag lieber in der Badewanne, in so heißem Wasser, dass der Spiegel beschlägt. Dann gehe ich mit meiner Mutter in die Cocktailbar. Genehmige mir einen Doppelten. Alles, nur kein Bier. Vielleicht einen Mai Tai. Vielleicht wird Greg auch da sein.

Ich frage mich, wie er im Licht aussieht.

Er ist älter als ich, aber nicht viel. Unter dreißig.

Darcy musste ihn vor dem Stromausfall gesehen haben, aber sie konnte sich nicht erinnern. Sie überlegte, ob er allein unterwegs war.

Wahrscheinlich wird er sowieso abreisen, sobald wir hier raus sind. Das tun alle. Wenn Leute in dem Hotel übernachten, dann normalerweise vor der Führung. Nachdem sie die Höhle gesehen haben, fahren sie ab, entweder nach Hause oder zur nächsten Sehenswürdigkeit, die sie auf ihrer Reisekarte angekreuzt haben.

Ich werde ihn nicht gehen lassen, dachte sie. Nicht, ehe ich ihm wenigstens einen Drink spendiert habe.

Vielleicht hat er seine Frau dabei.

Ich spendiere ihr auch einen Drink. Wir müssen es einfach feiern, wenn wir aus diesem Schlamassel rauskommen.

Und wir werden aus diesem Schlamassel rauskommen.

Darcy blickte weiter hinter sich. Ein paar Meter vor der Anlegestelle ließ sie ihre Hände über den Rand des Boots wandern, trat um den Bug herum und schob. »Vorsicht dahinten«, sagte sie. »Wir werden langsamer.«

Das Boot glitt vor ihr vorbei. Sie befand sich zwischen der Längsseite und dem Steg. Als es zum Stillstand kam, packte sie mit beiden Händen das Dollbord und lehnte sich nach hinten. Ihre Rückenmuskeln brannten vor Anstrengung. Das Boot bewegte sich langsam auf sie zu.

Ein Mann im Bug, der neben Beth saß, Darcy an Bord geholfen und als Erster seine Jacke Tom angeboten hatte, sprang heraus und landete auf dem Steg. Beth leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Darcy beobachtete ihn, während sie an dem Boot zog. Er eilte über die Planken, setzte sich schnell rechts von ihr hin und streckte die Beine aus.

Darcy ließ das Dollbord los. Sie drehte sich um. Das Boot stieß ihr gegen den Rücken, doch sie musste nun nicht mehr befürchten, gegen den Steg gequetscht zu werden. Der Mann hielt das Boot mit den Füßen auf Abstand, während sie sich hochstemmte und herauskletterte.

Sie knieten nebeneinander auf dem Steg, zogen an den ausgestreckten Armen der Passagiere, um das Boot näher heranzuholen, packten dann das Dollbord und brachten es längsseits.

»Alle sitzen bleiben!«, sagte Darcy atemlos. »Warten Sie, bis beide Boote sicher am Steg liegen.«

Beth und zwei andere Touristen ignorierten die Anweisung und sprangen heraus. Auch egal, dachte Darcy. Beth leuchtete dem Mann und der Frau, die sich weiter hinten auf den Steg knieten und nach dem Boot griffen. Sobald sie es gepackt hatten, lief Beth nach vorn und richtete die Lampe auf Gregs Boot.

Greg watete auf die andere Seite und schob das Boot dicht genug heran, damit Darcy und der Mann es übernehmen konnten. Sie zogen es an den Steg, und drei Passagiere, unter ihnen Kyle Mordock, sprangen heraus und begannen, es an den Pollern zu vertäuen.

Als Darcy aufstand, sah sie Greg im Halbdunkel am anderen Ende des Boots aus dem Wasser klettern. Sie ging zu ihm.

»So weit, so gut«, sagte er.

»Ich gebe dir einen Drink aus, wenn wir hier raus sind«, sagte sie.

»Eine schöne heiße Tasse Kaffee.« Er zog sein Sweatshirt aus, hielt es auf Armlänge vor sich und begann, es auszuwringen. Sein Oberkörper war nur ein heller, verschwommener Fleck über der dunklen Jeans, doch Darcy sah, dass Greg vor Kälte die Schultern hochzog. Sie hörte Wasser auf die Bretter plätschern. »Willst du nicht zurückgehen und die Gruppe vorbereiten?«, schlug er vor. »Ich bin in einer Minute bei dir.«

»Klar.« Sie nahm an, dass er seine Hose auswringen wollte.

Er drehte sich um und ging weiter in die Dunkelheit hinein.

Darcys eigene Kleider waren durchnässt und kalt. Sie dachte an die Grotte am anderen Ende des Stegs.

Sie wandte sich den Booten zu. Die Passagiere stiegen bereits aus. Sie bahnte sich einen Weg durch sie hindurch. »Greg und ich wollen uns ein paar Minuten ausruhen und trocknen. Dann werden wir zusammen zu den Aufzügen wandern. In der Zwischenzeit bleiben Sie bitte alle hier und versuchen, nicht ins Wasser zu fallen.«

Ein paar Leute lachten.

Die Bank in dem vorderen Boot, auf der Tom gelegen hatte, war leer. Sie entdeckte ihn auf dem Steg, gestützt von dem Mann, der ihr mit den Booten geholfen hatte. Sein Kopf hing herab. Er drückte immer noch das Taschentuch auf die Wunde. »Wie geht es dir, Tom?«

»Ich glaub, ich werd’s überleben«, murmelte er.

»Danke für die Hilfe«, sagte sie zu dem anderen Mann. »Sind Sie Beths Mann?«

Er nickte. »Ich heiße Jim. Jim Donner.«

»Sie waren eine große Hilfe, Jim. Und Beth auch. Das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Hey, wir müssen hier gemeinsam durch.«

»Können Sie sich um Tom kümmern, bis ich zurück bin?«

»Klar.«

Sie griff nach der Taschenlampe, die an Toms Gürtel hing, zog sie ab und drückte den Schalter. Ein weißer Strahl schoss heraus. Die Helligkeit machte ihr bewusst, wie schwach und gelblich das Licht der anderen Lampe geworden war.

Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte Darcy sich, dass ihr niemand folgte, dann eilte sie über die Bretter zum Betonweg. Ein paar Meter weiter stieß sie auf die steinernen Stufen, lief hinauf und betrat die Grotte.

Als Darcy die Grotte vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie die Ausmaße eines kleinen runden Kämmerchens gehabt. Nun war sie ein wenig größer. Neben dem Eingang stand eine Schubkarre mit Kalksteinklumpen, die aus den Wänden geschlagen worden waren. Eine Spitzhacke lehnte an der Seite der Schubkarre.

Cubby Wales, Ethan Mordocks Handwerker, war unter der Woche hier gewesen und hatte die Grotte erweitert. Wenn sie groß genug war, wollte Ethan dort eine Chemietoilette für die Besucher einbauen.

Schade, dass heute Samstag ist, dachte Darcy. Es wäre schön, einen einsatzfähigen Mitarbeiter dabeizuhaben.

Sie legte die Taschenlampe auf den Steinhaufen in der Schubkarre, sodass der Strahl von ihr weg wies. Der Lichtkegel breitete sich auf der Seitenwand aus und erleuchtete die kleine Nische.

So schnell es ging, zog sie Schuhe und Socken aus. Der Boden war rau unter ihren nackten Füßen, deshalb breitete sie ihre Jacke aus und stellte sich darauf. Sie stand mit dem Rücken zum Eingang, während sie die restlichen Kleider ablegte. Obwohl die Klamotten nass und klamm waren, fühlte sie sich ohne sie noch schlechter. Die kalte Luft der Höhle schien in ihre feuchte Haut zu dringen. Sie bekam eine Gänsehaut, und die Brustwarzen wurden hart und schmerzten. Ihre Kiefermuskeln taten ebenfalls weh, weil sie die ganze Zeit über die Zähne aufeinanderbiss.

Eine Weile stand sie leicht vorgebeugt und zitternd da, die Beine zusammengepresst, um sich zu wärmen, und rieb mit den Händen hektisch über ihre genoppte Haut. Es schien nicht viel zu helfen.

Mit einer steifen Hand nahm sie ihr Höschen vom Griff der Schubkarre, knüllte es zusammen und drückte. Wasser rann durch ihre Finger. Als sie keinen Tropfen mehr aus dem dünnen Soff wringen konnte, schüttelte sie ihn auseinander. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, während sie in das Höschen stieg, und zog es schließlich hoch. Es war feucht, aber viel angenehmer als vorher. Der enge Sitz fühlte sich gut an.

Aber nicht gut genug. Sie zitterte immer noch vor Kälte, als sie sich vorbeugte und ihre Hose von der Schubkarre nahm. Mühsam zog sie den Gürtel aus den nassen Schlaufen, leerte die Taschen und warf ihre Börse mit dem Wechselgeld, Schlüssel, Kamm und Taschentuch auf die Jacke unter ihren Füßen.

Sie verdrehte ein langes blaues Hosenbein zu einem dünnen Knüppel, und Wasser plätscherte auf ihre Füße. Dann nahm sie das andere Hosenbein, begann, es auszuwringen …

… und zuckte zusammen, als sie ein leises Knirschen hinter sich hörte. Ein Schritt? Sie wirbelte herum.

Kyle stand im Eingang.

Sie riss die Hose hoch, um ihre Brüste zu bedecken. »Verdammt!«, schimpfte sie. »Raus hier!«

In dem schwachen Licht der Taschenlampe sah sie, wie Kyle ein schmallippiges Grinsen aufsetzte. »Ich dachte, Sie könnten das gebrauchen«, sagte er und streckte ihr seine Jacke entgegen. »Die ist trocken«, fügte er hinzu.

»Danke.« Ihre Stimme bebte. Sie klemmte die Hose mit dem Unterarm an ihre Brüste und nahm mit der anderen Hand die Jacke.

»Mal sehen, ob sie passt«, sagte er.

»Da bin ich sicher.«

»Ach, kommen Sie.«

»Du hast mich schon gesehen, Kyle.«

»Nicht absichtlich. Ich bin nur gekommen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.«

»Und das weiß ich zu schätzen. Jetzt geh bitte zurück. Ich bin in einer Minute bei euch.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Möchten Sie meine Hose?«

Darcy schüttelte den Kopf. »Die Jacke reicht. Danke.« Eigentlich wollte sie ihn erneut bitten zu gehen, doch dann fragte sie stattdessen: »Hast du irgendeine Idee, was mit dem Licht passiert sein könnte?«

»Vielleicht hat es jemand ausgeschaltet.«

Auf diesen Gedanken war sie noch gar nicht gekommen. Sie war von Beginn an davon ausgegangen, dass das Licht wegen eines Stromausfalls erloschen war. Wenn es nur ausgeschaltet worden war, könnten die Aufzüge noch funktionieren.

»Gut, dass ich dich gefragt habe«, murmelte sie.

»Aber ich glaub nicht, dass es daran liegt«, sagte Kyle. »Ich glaube, es sind die Generatoren. Ich meine, wer würde denn das Licht ausschalten?«

Darcy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Jedenfalls, danke noch mal für die Jacke. Bis gleich.«

Er wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Seine Schritte wurden leiser.

Würde mich nicht überraschen, dachte Darcy, wenn er sich zurückschleicht, um noch einen Blick zu riskieren.

Verrückter kleiner Widerling.

Nimm’s ihm nicht übel, dachte sie. Er hat mir die Jacke gebracht.

Das war nur eine Ausrede, weil er mich anglotzen wollte. Ich hätte wissen müssen, dass er so was macht.

Sie drehte sich mit dem Rücken zum Eingang, klemmte die Jeans zwischen die Beine und schlüpfte in die Jacke. Es war ein Anorak aus Synthetik, der sich schwerelos anfühlte. Das Material schmiegte sich glatt und kühl an die Haut. Darcy beugte sich mit gesenktem Kopf vor, um sehen zu können, wie ihre zitternden Hände sich mit dem Reißverschluss abmühten. Und bemerkte, dass das feuchte Höschen an ihr klebte wie eine durchsichtige Haut.

Sie fühlte sich elend.

Der Mistkerl hätte auch nicht mehr gesehen, wenn ich nackt gewesen wäre, dachte sie.

Scheiß auf ihn!

Schließlich schaffte sie es, den Reißverschluss einzufädeln. Sie zog den Verschluss hoch.

Und seufzte kurz darauf erleichtert, als sie spürte, wie die Jacke ihre Körperwärme speicherte.

Zumindest habe ich so die Jacke bekommen, sagte sie sich. Obwohl ich lieber gefroren hätte, als von dem kleinen Scheißer von Kopf bis Fuß begafft zu werden.

Darcy zitterte immer noch, als sie ihre Hose zu Ende auswrang. Doch es lag nicht an der Kälte – sie zitterte vor Wut und Scham.

Schlimm genug, dass er meine Brüste gesehen hat.

Vielleicht hat er das andere gar nicht bemerkt.

Extrem unwahrscheinlich. Er ist klein, und er stand unter mir. Er konnte alles gut sehen.

Sie stieg in ihre Hose und zog sie hoch. Nachdem sie die Sachen zurück in die Taschen gestopft hatte, zog sie den Gürtel durch die Schlaufen und schloss die Schnalle. Sie wrang das Wasser aus den Socken, zog sie an und schlüpfte in die Schuhe.

Es war ein gutes Gefühl, wieder angezogen zu sein. Von der Hüfte abwärts war sie nass und fror, doch die Jacke spendete genügend Wärme, um die Unannehmlichkeit zu verringern.

Sie überlegte, was sie mit den übrigen Kleidern tun sollte. Auf keinen Fall wollte sie sie anziehen. Sie hätte den BH und die Bluse in die Jacke wickeln und die Sachen mitnehmen können, doch das schien ihr zu umständlich. Ich hole sie einfach beim nächsten Mal ab, wenn ich hier unten bin, überlegte sie und hängte die Jacke über den Schubkarrengriff.

Als Kyle die Stufen hinabgestiegen war, ging er noch ein paar Schritte weiter, damit Darcy glaubte, er würde sich entfernen. Die Touristen waren nach wie vor am Steg versammelt. Ihre Körper hielten den Großteil des Lichts der anderen Taschenlampe ab. Er beobachtete sie, bis er sicher war, dass niemand in seine Richtung kam, dann drehte er sich um und ging langsam auf leisen Sohlen zurück.

Er blieb am Fuß der sechs Steinstufen stehen und sah zu Darcy hinauf.

Sie hatte die Jacke an und stand mit dem Rücken zu ihm. Ihr Kopf war gesenkt, und sie schien zu versuchen, den Reißverschluss zu schließen. Die Jacke war nicht lang genug, um ihre Hüften zu bedecken. Über dem knappen, tief sitzenden Höschen blieb ein Streifen nackter Haut frei.

Obwohl ihr Rücken im Schatten lag, konnte er die dunkle geschwungene Linie erahnen, die sich zwischen ihre Hinterbacken zog.

Sie zog den Reißverschluss hoch und begann, ihre Hose auszuwringen.

Kyle starrte die langen schlanken Beine unterhalb der weichen Rundungen ihres Hinterns an.

Er wünschte, sie würde die Jacke ausziehen und ihm einen neuerlichen Blick auf ihre Vorderseite gewähren. Mehr als alles wollte er noch einmal ihre Brüste sehen. Als sie sich vorhin umgedreht hatte, hatte er sie einen Augenblick lang im Hellen erblickt. Sie waren blass gewesen, mit aufgerichteten Nippeln. Dann hatte Darcy sie bedeckt, und ihre Vorderseite hatte im Schatten gelegen.

Es könnte sein, dass sie die Jacke noch einmal auszieht, sagte er sich. Vielleicht will sie den BH und die Bluse wieder anziehen. Aber dazu muss sie sich nicht umdrehen.

Trotzdem könnte es sich lohnen zu bleiben. Wenn sie sich nur ein wenig zur Seite drehte, würde er zumindest einen Blick erhaschen.

Amy Lawson konnte Darcy nicht das Wasser reichen.

Sie gehört dir, hatte Dad gesagt.

Was, wenn er mit Darcy das Gleiche tun könnte wie mit Amy?

Kyle hatte schon oft daran gedacht, doch jetzt war es fast zu viel für ihn.

Er rieb sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen. Sein Herz hämmerte. Die Erektion, die hart gegen seine Jeans drückte, fühlte sich an, als stünde sie kurz vor der Explosion.

Mit Darcy das Gleiche tun, was er mit Amy getan hatte.

Sie in Zimmer 115 bringen.

Danach würde man sie entsorgen müssen. Aber das war okay.