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Er wusch sich, besprühte die Quetschungen an seiner Hand und einige Schnittwunden im Gesicht und zog einen Paplon-Overall an. Während er ihn zumachte, sah er sich im Raum um. Er hatte vorgehabt, den Bettüberwurf mitzunehmen, damit Lilac sich Kleider daraus nähen konnte, und ein kleines Bild oder etwas Ähnliches als Geschenk für Julia. Aber jetzt hatte er keine Lust mehr dazu. Er steckte Zigaretten und die Pistole in seine Tasche. Die Tür ging auf, und er zog die Pistole wieder hervor. Deirdre starrte ihn an wie eine Wahnsinnige.

Er steckte die Pistole in die Tasche zurück.

Deirdre kam herein und schloss die Tür hinter sich. »Du warst es«, sagte sie.

Er nickte.

»Weißt du, was du getan hast?«

»Was du nicht getan hast«, sagte er. »Was du, als du hierher kamst, vorhattest und dir selbst ausgeredet hast.«

»Ich kam hierher, um ihn anzuhalten, damit er neu programmiert werden könnte«, sagte sie, »nicht um ihn völlig zu zerstören.«

»Er wurde neu programmiert, erinnerst du dich?«, sagte er. »Und wenn ich ihn angehalten und eine echte Neuprogrammierung erzwungen hätte – ich weiß zwar nicht wie, aber nehmen wir es einmal an –, wäre früher oder später alles wieder beim Alten gewesen. Derselbe Wei. Oder ein neuer – ich. ›Es macht Freude, ihn zu besitzen!‹ Das waren seine letzten Worte. Alles Übrige war reine Selbsttäuschung.«

Sie blickte wütend zur Seite und sah ihm dann wieder ins Gesicht. »Das ganze Gebäude wird einstürzen«, sagte sie.

»Ich merke nicht, dass der Fußboden bebt«, sagte er.

»Alle machen sich aus dem Staub. Die Belüftung könnte aussetzen, und wir sind von Strahlen bedroht.«

»Ich hatte nicht vor zu bleiben«, sagte er.

Sie öffnete die Tür und sah ihn an und ging.

Er ging hinter ihr hinaus. Programmierer rannten in beiden Richtungen durch den Flur und schleppten Bilder, Stapel von Kissenbezügen, Diktiergeräte und Lampen hin und her. (»Wei war drinnen! Er ist tot!« »Bleib weg von der Küche, da geht’s drunter und drüber!«) Er ging in ihrer Mitte. Die Wände waren kahl bis auf einige große, leere Bilderrahmen. (»Sirri sagt, Chip sei es gewesen, nicht die Neuen!« – »– vor fünfundzwanzig Jahren: ›Vereinige die Inseln, wir haben genug Programmierer‹, aber er hat meinen Egoismus gerügt!«)

Die Rolltreppen waren in Betrieb. Er fuhr zum obersten Geschoss hinauf und ging durch die halb offene Stahltür in das Badezimmer, wo der Junge und die Frau gewesen waren. Sie waren verschwunden.

Er ging ein Stockwerk tiefer. Programmierer und Mitglieder mit Bildern und Bündeln unter dem Arm drängten sich in den Raum, der zum Tunnel führte. Er mischte sich unter die wimmelnde Menge. Die Tür vorne war geschlossen, musste aber teilweise hochgezogen gewesen sein, denn alle bewegten sich langsam vorwärts. (»Schnell!« »Geh doch weiter, los!« »Oh, Christus und Wei!«)

Chip wurde am Arm gepackt, und Madhir, der ein gefülltes Tischtuch gegen die Brust drückte, starrte ihn an. »Warst du es?«, fragte er.

»Ja«, sagte Chip.

Madhir riss die Augen auf, zitterte, lief rot an. »Du Irrer!«, schrie er. »Wahnsinniger! Wahnsinniger!«

Chip schüttelte seinen Arm ab und drehte sich um und ging weiter vorwärts.

»Hier ist er!«, schrie Madhir. »Chip! Er war es! Er hat es getan! Hier ist er! Hier! Er hat es getan!«

Chip rückte mit der Menge vor, den Blick auf die Stahltür gerichtet, die Pistole in der Tasche fest in der Hand. (»Du Bruderfeind, bist du verrückt?« »Er ist wahnsinnig, er ist wahnsinnig!«)

Sie gingen durch den Tunnel, erst schnell, dann langsam, ein endloser Zug dunkler, schwer beladener Gestalten. Hier und da am Weg brannten Lampen und erleuchteten ein Stück schimmerndes Plastikgewölbe.

Chip sah Deirdre an der Seite des Tunnels sitzen. Sie blickte ihn mit steinerner Miene an. Er schritt weiter, die Pistole an der Seite.

Vor dem Tunnel saßen und lagen sie auf der Lichtung, rauchten und aßen und redeten durcheinander, wühlten in ihren Bündeln, tauschten Gabeln gegen Zigaretten.

Chip sah vier oder fünf Tragbahren auf dem Boden. Ein Mitglied mit einer Lampe in der Hand stand daneben, andere Mitglieder knieten davor.

Er steckte die Pistole in die Tasche und ging hinüber. Auf zwei der Bahren lagen der Junge und die Frau, mit verbundenen Köpfen und geschlossenen Augen. Ihre Brust hob und senkte sich unter den Decken. Auf zwei anderen Bahren befanden sich Mitglieder, und auf der fünften lag Barlow, der Leiter des Ernährungsausschusses. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus wie tot. Rosen kniete neben ihm und klebte ihm durch den aufgeschnittenen Overall etwas auf die Brust.

»Geht es ihnen gut?«, fragte Chip.

»Den anderen ja«, sagte Rosen. »Barlow hat einen Herzanfall gehabt.« Er sah auf zu Chip. »Sie sagen, Wei sei drinnen gewesen«, sagte er.

»Stimmt«, sagte Chip.

»Bist du sicher?«

»Ja«, sagte Chip. »Er ist tot.«

»Es ist schwer zu glauben«, sagte Rosen. Er schüttelte den Kopf und nahm einem Mitglied ein kleines Etwas aus der Hand und drückte es in das, was er Barlow auf die Brust geklebt hatte.

Chip sah einen Augenblick lang zu, dann ging er zum Eingang der Lichtung hinüber, setzte sich mit dem Rücken gegen einen Stein und zündete eine Zigarette an. Er streifte seine Sandalen ab und rauchte und beobachtete, wie Mitglieder und Programmierer aus dem Tunnel kamen und Sitzplätze suchten. Karl kam mit einem Gemälde und einem Bündel heraus.

Ein Mitglied kam auf Chip zu. Er zog die Pistole aus der Tasche und hielt sie im Schoß.

»Bist du Chip?«, fragte das Mitglied. Es war der ältere der zwei Männer, die am Abend gekommen waren.

»Ja«, sagte Chip.

Der Mann setzte sich neben ihn. Er war ungefähr fünfzig, sehr dunkel, und hatte ein vorspringendes Kinn. »Ein paar von ihnen wollen dich umlegen«, sagte er.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Chip. »Ich verschwinde in einer Sekunde.«

»Ich heiße Luis«, sagte der Mann.

»Grüß dich«, sagte Chip.

Sie schüttelten sich die Hand.

»Wo gehst du hin?«, fragte Luis.

»Zurück auf die Insel, von der ich gekommen bin«, sagte Chip. »Freiheits-Insel. Mallorca. Myorca. Du weißt nicht zufällig, wie man einen Hubschrauber fliegt, oder?«

»Nein«, sagte Luis, »aber es dürfte nicht allzu schwierig sein, es herauszufinden.«

»Die Landung macht mir Kopfzerbrechen«, sagte Chip.

»Lande im Wasser.«

»Ich möchte aber eigentlich den Hubschrauber nicht verlieren. Vorausgesetzt ich finde einen. Willst du eine Zigarette?«

»Nein, danke«, sagte Luis.

Sie schwiegen einen Augenblick. Chip zog an seiner Zigarette und sah nach oben. »Christus und Wei, richtige Sterne«, sagte er. »Da unten hatten sie falsche.«

»Wirklich?«, sagte Luis.

»Wirklich.«

Luis sah zu den Programmierern hinüber. Er schüttelte den Kopf. »Sie reden, als ob die Familie am Morgen sterben würde«, sagte er. »Aber sie stirbt nicht. Sie wird geboren.«

»Aber in eine Menge Schwierigkeiten hineingeboren«, sagte Chip. »Sie haben schon angefangen. Flugzeuge sind abgestürzt ...«

Luis sah ihn an und sagte: »Mitglieder, die sterben sollten, sind nicht gestorben ...«

Nach kurzem Schweigen sagte Chip: »Ja. Ich danke dir, dass du mich daran erinnert hast.«

Luis sagte: »Natürlich wird es Schwierigkeiten geben. Aber in jeder Stadt leben Mitglieder – die Unterbehandelten, die ›Kampf Uni‹ auf die Mauern schreiben –, die dafür sorgen, dass alles erst einmal weitergeht. Und schließlich wird es besser werden. Lebende Menschen!«

»Es wird interessanter werden, das ist sicher«, sagte Chip.

»Du wirst doch nicht auf deiner Insel bleiben, nicht wahr?«, fragte Luis.

»Ich weiß nicht«, sagte Chip. »Weiter habe ich noch nicht gedacht.«

»Du kommst zurück«, sagte Luis. »Die Familie braucht Mitglieder wie dich!«

»Wirklich?«, fragte Chip. »Ich habe mir da unten ein Auge auswechseln lassen, und ich bin nicht sicher, ob ich es nur getan habe, um Wei zu täuschen.« Er drückte seine Zigarette aus und stand auf. Programmierer sahen sich nach ihm um. Er richtete die Pistole auf sie, und sie wandten sich schnell ab.

Luis stand ebenfalls auf. »Ich freue mich, dass die Bomben funktioniert haben«, sagte er lächelnd. »Ich habe sie gemacht.«

»Sie haben hervorragend funktioniert«, sagte Chip. »Werfen und – bumm!«

»Gut«, sagte Luis. »Hör zu, ich weiß nichts von einem Auge, du landest auf dem Land und kommst in ein paar Wochen zurück.«

»Ich werde sehen«, sagte Chip. »Leb wohl.«

»Leb wohl, Bruder«, sagte Luis.

Chip drehte sich um und verließ die Lichtung und ging über den felsigen Abhang dem Parkgelände entgegen.

Er flog über Straßen, wo vereinzelte Wagen im Zickzack langsam an stillstehenden Kolonnen vorbeifuhren; dem Fluss der Freiheit entlang, wo Lastkähne blindlings gegen das Ufer stießen; über Städte hinweg, wo Einschienenbahn-Wagen bewegungslos auf den Schienen klebten, während Hubschrauber über einigen von ihnen kreisten.

Als er im Umgang mit dem Hubschrauber sicherer wurde, flog er tiefer, sah auf Plätze, wo Mitglieder durcheinander wimmelten und sich zusammenscharten, fegte über Fabriken hinweg, in denen die Fließbänder stillstanden, flog über Baustellen, auf denen sich, von einem oder zwei Mitgliedern abgesehen, nichts rührte, und wieder über den Fluss, vorbei an einer Gruppe von Mitgliedern, die einen Lastkahn am Ufer vertäuten, ihn bestiegen und zu Chip hinaufsahen.

Er folgte dem Fluss bis zum Meer und setzte im Tiefflug zu seiner Überquerung an. Er dachte an Lilac und Jan, sah, wie Lilac sich entgeistert am Spülstein umdrehte (er hätte den Bettüberwurf mitnehmen sollen. Warum hatte er es nicht getan?). Aber würde sie noch in dem Raum sein? Hatte Lilac vielleicht einen anderen geheiratet, weil sie glaubte, er sei gefasst und behandelt worden und komme nicht mehr zurück? – Nein, niemals! Warum nicht? Nahezu neun Monate war er weg gewesen. Nein, sie würde es nicht tun. Sie –

Tropfen einer klaren Flüssigkeit fielen auf das Plastikvorderteil des Hubschraubers und streiften ihn an der Seite. Wahrscheinlich ist oben etwas leck, dachte Chip; aber dann sah er, dass der Himmel grau geworden war, grau auf beiden Seiten und vorne noch dunkler grau, wie der Himmel auf manchen vV-Bildern. Regen war es, was auf den Hubschrauber fiel.

Regen! Bei Tag! Er flog mit einer Hand und zog mit einer Fingerspitze auf der Innenseite des Plastikverdecks die Spuren der Regentropfen auf der Außenseite nach.

Regen bei Tag! Christus und Wei, wie merkwürdig! Und wie lästig! Aber es war auch etwas Angenehmes daran, etwas Natürliches.

Er legte die Hand zurück auf den Hebel – Wir wollen nicht zu optimistisch werden, Bruder – und flog lächelnd geradeaus.

Ende