6

Er schloss die Tür hinter sich.

Bob schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Er sah Chip ärgerlich an. Sein Overall war teilweise offen. »Wo bist du gewesen, Li?«, fragte er.

»Unten in der Halle«, sagte Li. »Ich bin nach dem Foto-Klub noch einmal zurückgegangen – ich hatte meinen Bleistift dort liegen lassen – und bin plötzlich sehr müde geworden. Weil ich meine Behandlung zu spät bekommen habe, nehme ich an. Ich habe mich zum Ausruhen hingesetzt« – er lächelte – »und auf einmal ist es Morgen.«

Bob sah ihn immer noch ärgerlich an und schüttelte den Kopf. »Ich habe in der Halle nachgesehen«, sagte er, »und im Zimmer von Mary KK und in der Sporthalle und auf dem Grund des Schwimmbeckens.«

»Du musst mich verfehlt haben«, sagte Chip. »Ich war in der Ecke hinter ...«

»Ich habe die Halle abgesucht, Li«, sagte Bob. Er drückte seinen Overall zu und schüttelte verzweifelt den Kopf.

Chip ging von der Tür aus zum Badezimmer, langsam und in einem Bogen, der ihn von Bob weg führte. »Ich muss mal«, sagte er.

Er betrat das Badezimmer und machte seinen Overall auf und urinierte. Er versuchte, die außergewöhnliche Geistesklarheit wiederzufinden, die er zuvor besessen hatte. Wollte ihm denn keine Erklärung einfallen, die Bob zufriedenstellte oder wenigstens davon überzeugte, dass er es mit einer einmaligen Verfehlung zu tun hatte? Wieso war Bob eigentlich gekommen, und wie lange war er schon hier?

»Ich habe um halb zwölf angerufen«, sagte Bob, »und keine Antwort bekommen. Wo bist du in der Zwischenzeit gewesen?«

Chip schloss seinen Overall. »Ich bin ein bisschen herumspaziert«, sagte er mit lauter Stimme, damit Bob ihn im Zimmer hören konnte.

»Ohne Raster zu berühren?«, sagte Bob.

Christus und Wei.

»Das muss ich vergessen haben«, sagte er und drehte das Wasser auf und wusch sich die Finger. »Diese Zahnschmerzen sind schuld«, sagte er. »Sie sind schlimmer geworden. Mir tut schon der halbe Kopf weh.« Er trocknete sich die Finger ab und sah im Spiegel auf Bob, der auf dem Bett saß und seinen Blick erwiderte. »Ich konnte vor Schmerzen nicht einschlafen«, sagte er, »und da bin ich noch ein bisschen rausgegangen. Die Geschichte mit der Halle habe ich dir erzählt, weil ich weiß, dass ich direkt hinunter zum ...«

»Mich haben deine ›Zahnschmerzen‹ auch am Einschlafen gehindert«, sagte Bob. »Ich habe dich beim Fernsehen beobachtet. Du hast nervös und unnormal ausgesehen. Schließlich habe ich die NN des Mitglieds herausgesucht, das die Termine für die Zahnbehandlungen vergibt. Man hat dir einen Termin für Freitag angeboten, aber du hast gesagt, du bekämst deine Behandlung am Samstag.«

Chip legte das Handtuch weg und drehte sich um. Bob stand direkt vor ihm unter der Tür.

Der erste Gong erklang, und »Eine mächtige Familie« wurde gespielt. Bob sagte: »Es war alles eine Komödie, nicht wahr, Li – deine Erschöpfung im letzten Frühjahr, die Schläfrigkeit und die Überbehandlung.« Nach kurzer Pause nickte Chip. »Bruder«, sagte Bob. »Was hast du getan?«

Chip schwieg.

»O Bruder«, sagte Bob und bückte sich, um sein Telecomp abzuschalten. Er klappte den Deckel zu und legte die Griffe um. »Wirst du mir verzeihen?«, fragte er. Er stellte das Telecomp auf und versuchte, den Tragriemen zwischen beiden Händen so aufzurichten, dass er stehen blieb. »Ich will dir etwas Komisches sagen: Ich habe eine eitle Ader. Wirklich! Nein, stimmt nicht: Ich hatte sie. Ich dachte, ich sei einer der zwei oder drei besten Berater im Haus. Was heißt im Haus? – In der Stadt! Wachsam, ein scharfer Beobachter und Menschenkenner ... Und nun kommt das raue Erwachen.« Endlich blieb der Tragriemen stehen, und Bob versetzte ihm einen Schlag, dass er wieder umfiel. »Du bist also nicht der einzige Kranke«, sagte er mit dünnem Lächeln zu Chip, »falls das ein Trost ist.«

»Ich bin nicht krank, Bob«, sagte Chip. »Ich bin gesünder als je zuvor in meinem ganzen Leben.«

Immer noch lächelnd sagte Bob: »Die Tatsachen sprechen aber nicht dafür.« Er nahm das Telecomp in die Hand und stand auf.

»Du kannst die Tatsachen nicht sehen«, sagte Chip. »Du bist durch deine Behandlungen betäubt.«

Bob winkte ihm mit dem Kopf und schritt auf die Tür zu. »Komm«, sagte er, »wir wollen zusehen, dass wir dich wieder in Ordnung bringen.«

Chip rührte sich nicht vom Fleck. Bob öffnete die Tür, blieb stehen und blickte zurück.

Chip sagte: »Ich bin völlig gesund.«

Bob streckte mitfühlend die Hand aus. »Komm mit, Li«, sagte er.

Nach kurzem Zögern ging Chip zu ihm. Bob nahm seinen Arm, und sie traten auf den Flur hinaus. Türen standen offen, und andere Mitglieder waren zu sehen, die ruhig miteinander sprachen oder hin und her gingen. Vier oder fünf hatten sich vor dem Anschlagbrett versammelt, um die Mitteilungen des Tages zu lesen.

»Bob«, sagte Chip, »ich möchte dir etwas sagen. Bitte, hör mir gut zu.«

»Höre ich nicht immer zu?«, sagte Bob.

»Ich möchte, dass du versuchst, deinen Geist etwas Neuem zu erschließen«, sagte Chip. »Weil du kein dummes Mitglied bist, weil du klug und gutherzig bist und mir helfen willst.«

Mary KK kam ihnen von der Rolltreppe her entgegen. In der Hand hielt sie ein Bündel Overalls und obenauf ein Stück Seife. Sie lächelte und sagte: »Hallo«, und zu Chip: »Wo warst du?«

»Er war in der Halle«, sagte Bob.

»Mitten in der Nacht?«, sagte Mary.

Chip nickte, und Bob sagte »Ja«, und sie gingen wieder auf die Rolltreppe zu. Bob ließ seine Hand leicht auf Chips Schulter liegen.

Sie fuhren nach unten.

»Ich weiß, du glaubst, dein Geist stünde schon allem offen, aber willst du versuchen, dir neue Dimensionen zu erschließen, mir zuzuhören und ein paar Minuten darüber nachzudenken – als wäre ich so gesund, wie ich sage?«

»Gut, Li, ich will es tun«, sagte Bob.

»Bob«, sagte Chip, »wir sind nicht frei. Keiner von uns. Kein einziges Mitglied der Familie.«

»Wie kann ich dir zuhören, als wärst du gesund«, sagte Bob, »wenn du so etwas sagst? Natürlich sind wir frei. Wir sind frei von Krieg und Begehrlichkeit und Hunger, frei von Verbrechen, Gewalt, Angriffslust, Ego –«

»Ja, ja, wir sind frei von allem Möglichen«, sagte Chip, »aber wir haben nicht die Freiheit, etwas zu tun. Siehst du das nicht ein, Bob? Von etwas frei zu sein, hat mit Freiheit überhaupt nichts zu tun.«

Bob runzelte die Stirn. »Was sollte einem denn freistehen?«, sagte er.

Sie verließen die Rolltreppe und gingen auf die nächste zu. »Sich seine eigene Klassifizierung auszusuchen, Kinder zu bekommen, wenn man will, zu gehen, wohin man will, und zu tun, was man will, Behandlungen abzulehnen, wenn man will ...«

Bob sagte nichts.

Sie traten auf die nächste Rolltreppe.

»Die Behandlungen betäuben uns wirklich, Bob«, sagte Chip. »Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Sie enthalten Bestandteile, die uns ›bescheiden und gut‹ machen – wie in dem Abzählvers, weißt du. Ich bin jetzt seit einem halben Jahr unterbehandelt« – der zweite Gong ertönte – »und ich bin wacher und lebendiger als je zuvor. Ich denke klarer und empfinde tiefer. Ich schlafe vier- oder fünfmal in der Woche mit einer Frau. Würdest du das für möglich halten?«

»Nein«, sagte Bob. Er sah auf sein Telecomp, das auf dem Handlauf neben ihm hochfuhr.

»Es ist wahr«, sagte Chip. »Jetzt bist du fester als je von meiner Krankheit überzeugt, nicht wahr? Bei der Liebe zur Familie, ich bin nicht krank. Und wie ich sind viele andere – Tausende, vielleicht Millionen. Es gibt Inseln auf der ganzen Welt, möglicherweise sogar Städte auf dem Festland« – sie befanden sich auf dem Weg zur nächsten Rolltreppe – »wo Menschen in echter Freiheit leben. Ich habe eine Liste der Inseln in der Tasche. Sie erscheinen nicht auf Landkarten, weil Uni nicht will, dass wir von ihnen wissen; weil sie gegen die Familie verteidigt werden und die Menschen dort sich keiner Behandlung unterwerfen lassen. Nun, du willst mir helfen, nicht wahr? Wirklich helfen?«

Sie traten auf die nächste Rolltreppe. Bob sah ihn besorgt an. »Christus und Wei«, sagte er, »kannst du daran zweifeln, Bruder?«

»Nun gut«, sagte Chip, »dann will ich dir sagen, was du für mich tun sollst: Wenn wir in den Behandlungsraum kommen, sag Uni, ich sei gesund; ich sei in der Halle eingeschlafen, wie ich es dir erzählt habe. Erwähne nichts davon, dass ich keine Raster berührt und Zahnschmerzen erfunden habe. Lass mir einfach die Behandlung geben, die ich gestern erhalten hätte, ja?«

»Und das würde dir helfen?«, fragte Bob.

»Ja«, sagte Chip. »Ich weiß, du glaubst es nicht, aber ich bitte dich als meinen Freund und Bruder, zu – zu respektieren, was ich denke und fühle. Ich werde mich irgendwie auf eine dieser Inseln absetzen und der Familie in keiner Weise schaden. Was mir die Familie geschenkt hat, habe ich durch meine Arbeit wieder zurückerstattet; und überhaupt habe ich gar nicht darum gebeten. Ich hatte keine andere Wahl, als anzunehmen.«

Sie schritten auf die nächste Rolltreppe zu.

»Schön«, sagte Bob, als sie abwärtsfuhren, »ich habe dir zugehört, Li, nun wirst du mir zuhören.« Seine Hand schloss sich ein klein wenig fester um Chips Ellbogen. »Du bist sehr, sehr krank«, sagte er, »und zwar ausschließlich durch meine Schuld, und das ist ein schreckliches Gefühl für mich. Es gibt keine Inseln, die nicht auf Landkarten verzeichnet sind, und Behandlungen stumpfen uns nicht ab, und wenn wir die Art von ›Freiheit‹ hätten, die dir vorschwebt, gäbe es Unruhe und Übervölkerung und Begierde und Verbrechen und Krieg. Ja, ich werde dir helfen, Bruder. Ich werde Uni alles erzählen, und du wirst geheilt werden und mir dankbar sein.«

Sie gingen zur nächsten Rolltreppe und stellten sich darauf. Dritter Stock – Medizentrum stand unten auf dem Schild. Ein Mitglied, das ihnen auf der Rolltreppe nach oben entgegenkam, lächelte und sagte: »Guten Morgen, Bob.«

Bob nickte ihm zu.

Chip sagte: »Ich will nicht geheilt werden.«

»Das beweist, dass du es nötig hast«, sagte Bob. »Entspanne dich und vertraue mir, Li. Nein, warum, zum Hass, solltest du? Dann vertraue Uni! Wirst du das tun? Vertraue den Mitgliedern, die Uni programmiert haben.«

Nach kurzem Zögern sagte Chip: »Ja, ich tue es.«

»Ich fühle mich ganz elend«, sagte Bob, und Chip drehte sich zu ihm und schlug seine Hand weg. Bob sah ihn bestürzt an, und Chip legte beide Hände auf Bobs Rücken und stieß ihn nach vorn. In der Bewegung drehte Chip sich, umklammerte den Handlauf – er hörte Bob fallen und sein Telecomp klappern – und stieg hinüber auf das Rollband, das zwischen den Treppen nach oben führte. Als er darauf stand, bewegte es sich nicht mehr. Nun kroch er zur Seite, hielt sich mit Fingern und Knien an metallenen Kanten fest, streckte die Hände aus, suchte den Handlauf der nach oben führenden Rolltreppe, erwischte ihn, schwang sich hinüber und ließ sich in die Schlucht der steilen Stufen aus summendem Metall fallen. Er kam schnell wieder auf die Füße – »Haltet ihn auf«, rief Bob unter ihm – und rannte nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Mitglied im Rot-Kreuz-Overall oben neben der Treppe drehte sich um. »Was machst –«, und Chip packte ihn – ein älteres, großäugiges Mitglied – bei den Schultern, drückte ihn zur Seite und stieß ihn weg.

Er rannte den Flur entlang. Jemand rief: »Haltet ihn!«, und andere Mitglieder schrien: »Fangt dieses Mitglied! Er ist krank, haltet ihn auf!« Vor ihm war der Speisesaal, und die Mitglieder drehten sich um, weil sie sehen wollten, was los war. Er schrie: »Haltet dieses Mitglied!«, rannte auf sie zu und zeigte mit dem Finger irgendwohin. »Haltet ihn!«, und schon war er an ihnen vorüber. »Da drin ist ein krankes Mitglied!«, sagte er, indem er sich durch die anderen auf dem Flur und an dem Raster vorbeidrängte. »Er braucht Hilfe! Da drin! Schnell!«

Im Speisesaal sah er sich um und lief seitlich durch eine Drehtür in den Raum hinter der Essenausgabe. Er verlangsamte sein Tempo, versuchte ruhiger zu atmen, ging schnell an Mitgliedern vorbei, die Berge von Kuchen auf Fließbänder legten, vorbei an anderen, die Teepulver in Stahltonnen kippten. Er entdeckte einen Teewagen voll Schachteln mit der Aufschrift Servietten, packte ihn am Griff, drehte den Wagen um und schob ihn vor sich her, an zwei Mitgliedern vorbei, die im Stehen aßen, und zwei anderen, die Kuchen aus einem beschädigten Karton nahmen.

Vor sich sah er eine Tür, auf der Ausgang stand und die zu einer der Ecktreppen führte. Er schob den Wagen darauf zu, hörte laute Stimmen hinter sich. Er rammte den Teewagen gegen die Tür, drückte sie auf und zog den Wagen auf den Treppenabsatz hinaus, schloss die Tür und stemmte den Handgriff des Teewagens dagegen. Rückwärts ging er zwei Stufen hinab, zog den Wagen seitlich neben sich und quetschte ihn zwischen die Tür und den Geländerpfosten. Ein schwarzes Rad drehte sich in der Luft.

Er eilte die Treppen hinunter.

Er musste aus dem Gebäude hinauskommen, auf die Gehwege und Plätze. Er würde zum Museum gehen – es war noch nicht geöffnet – und sich in dem Lagerraum oder hinter dem Warmwasserbehälter verstecken, bis morgen Nacht Lilac und die anderen kämen. Er hätte ein paar Kuchen mitnehmen sollen. Warum hatte er nicht daran gedacht? Hass!

Er verließ die Treppe im Erdgeschoss und ging schnell den Korridor entlang, nickte einem näher kommenden Mitglied zu. Sie sah auf seine Beine und biss sich besorgt auf die Lippen. Er schaute an sich hinunter und blieb stehen. Sein Overall war an den Knien zerrissen, und sein rechtes Knie aufgeschürft. Kleine Blutstropfen standen auf seiner Haut. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte das Mitglied.

»Ich bin gerade auf dem Weg zum Medizentrum«, sagte er. »Danke, Schwester.« Er ging weiter. Es gab nichts, was er tun konnte. Er musste das Risiko auf sich nehmen. Draußen, wenn er von dem Gebäude entfernt war, würde er sich ein Stück Stoff um das Knie binden und den Overall in Ordnung bringen, so gut es ging. Jetzt, da er es wusste, begann das Knie zu stechen. Er ging schneller.

Hinten in der Eingangshalle blieb er stehen und sah auf die Rolltreppen, die links und rechts von ihm nach unten glitten, und auf die vier von Rastern bewachten Glastüren vor ihm, hinter denen der sonnige Gehweg aufleuchtete. Alles wirkte ganz normal, das Murmeln der Stimmen war leise und verriet keine Erregung.

Er schritt auf die Türen zu, in normalem Tempo, den Blick geradeaus gerichtet. Er würde seinen Raster-Trick anwenden – das Knie entschuldigte sein Stolpern, falls jemand aufmerksam wurde – und wenn er erst draußen war – Die Musik setzte aus, und eine Frauenstimme erklang aus dem Lautsprecher: »Entschuldigung, würde bitte jeder einen Moment genau da bleiben, wo er ist. Bitte rührt euch nicht von der Stelle!«

Er blieb in der Mitte der Empfangshalle stehen.

Alle blieben stehen, blickten sich fragend um und warteten. Nur die Mitglieder auf den Rolltreppen bewegten sich noch, und dann standen auch sie still und schauten auf ihre Füße. Ein Mitglied ging ein paar Stufen hinunter. »Nicht bewegen!«, riefen ihr mehrere Mitglieder zu, und sie blieb stehen und wurde rot.

Er regte sich nicht und schaute auf die riesigen Gesichter aus buntem Glas über den Türen: Christus und Marx mit Bart, Wood ohne Haare, Wei lächelnd und schlitzäugig. Etwas rann sein Schienbein hinab: ein Tropfen Blut.

»Brüder, Schwestern«, sagte die Frauenstimme, »ein unerwarteter Notfall ist eingetreten. Ein krankes, ein schwerkrankes Mitglied befindet sich im Haus. Er hat sich aggressiv verhalten und ist seinem Berater davongelaufen« – die Mitglieder holten tief Luft – »und jeder von uns wird gebraucht, damit er gefunden wird und so schnell wie möglich in den Behandlungsraum gebracht werden kann.«

»Ja«, sagte ein Mitglied hinter Chip, und ein anderes fragte: »Was sollen wir tun?«

»Vermutlich hält er sich irgendwo unterhalb des vierten Stocks auf«, sagte die Frau. »Ein siebenundzwanzigjähriger –« Eine Stimme sprach mit ihr, eine Männerstimme, schnell und undeutlich. Ein Mitglied, das gerade auf die nächstgelegene Rolltreppe zugegangen war, schaute auf Chips Knie. Chip sah auf das Bild von Wood. »Er wird vermutlich versuchen, das Gebäude zu verlassen«, sagte die Frau. »Deshalb stellen sich bitte jeweils die zwei Mitglieder, die einem Ausgang am nächsten sind, davor und versperren ihn. Sonst rührt sich niemand! Nur die zwei Mitglieder bei jedem Ausgang!«

Die Mitglieder in der Nähe der Türen sahen einander an, und je zwei traten vor und stellten sich verlegen Seite an Seite neben die Raster. »Eine schreckliche Geschichte!«, sagte jemand. Das Mitglied, das auf Chips Knie geschaut hatte, sah ihm nun ins Gesicht. Chip erwiderte den Blick des Mannes – er war ungefähr vierzig –, und dieser wandte sich ab.

»Das gesuchte Mitglied«, sagte eine Männerstimme im Lautsprecher, »ist ein siebenundzwanzigjähriger Mann mit der NN Li RM35M4419. Ich wiederhole: Li, RM, 35M, 4419. Wir wollen zunächst unsere Nachbarn überprüfen und dann die Stockwerke absuchen, auf denen wir uns befinden. Einen Augenblick bitte, einen Augenblick bitte, UniComp sagt, das Mitglied sei der einzige Li RM im Gebäude. Wir können also den Rest der NN vergessen. Wir brauchen nur nach einem Li RM zu suchen. Li RM. Schaut auf die Armbänder der Mitglieder in eurer Nähe. Wir suchen Li RM. Achtet darauf, dass jedes Mitglied in eurem Gesichtskreis von wenigstens einem anderen Mitglied kontrolliert wird. Mitglieder, die sich in ihren Zimmern befinden, kommen jetzt bitte auf die Flure! Li RM! Wir suchen Li RM!«

Chip wandte sich einem Mitglied in seiner Nähe zu, ergriff seine Hand und schaute auf sein Armband. »Zeig mir deines«, sagte das Mitglied. Chip hob das Handgelenk, drehte sich um und ging zu einem anderen Mitglied. »Ich habe es nicht gesehen«, sagte das Mitglied. Chip nahm die Hand des anderen Mitglieds. Das erste Mitglied berührte ihn am Arm und sagte: »Bruder, ich habe nichts gesehen.«

Er lief auf die Türen zu. Er wurde am Arm gepackt und herumgerissen – von dem Mitglied, das ihn angestarrt hatte. Er ballte seine Hand zur Faust und schlug dem Mitglied ins Gesicht und riss sich los.

Mitglieder schrien. »Er ist es!«, riefen sie. »Da ist er! Helft ihm!« »Haltet ihn auf!«

Er rannte zu einer Tür und versetzte einem der dort stehenden Mitglieder einen Faustschlag. Das zweite Mitglied ergriff seinen Arm und sagte ihm ins Ohr: »Bruder, Bruder.« Sein anderer Arm wurde von anderen Mitgliedern festgehalten, seine Brust von hinten umklammert.

»Wir suchen Li RM«, sagte der Mann in der Sprechanlage. »Es könnte sein, dass er aggressiv wird, wenn wir ihn finden, aber wir dürfen keine Angst haben. Er ist auf unsere Hilfe und unser Verständnis angewiesen.«

»Finger weg!«, schrie er und versuchte sich von den Armen zu befreien, die ihn festhielten.

»Helft ihm!«, riefen Mitglieder. »Bringt ihn zum Behandlungsraum!« »Helft ihm!«

»Lasst mich in Ruhe!«, schrie er. »Ich will keine Hilfe! Lasst mich in Ruhe, ihr Bruderhasser!«

Er wurde von keuchenden, zitternden Mitgliedern über Rolltreppenstufen nach oben geschleift. Ein Mitglied hatte Tränen in den Augen. »Schön ruhig«, sagten sie, »wir helfen dir. Es wird alles gut werden, wir helfen dir.« Er trat um sich, und seine Beine wurden gepackt und festgehalten.

»Ich will keine Hilfe!«, schrie er. »Ich will in Ruhe gelassen werden! Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich bin nicht krank!«

Er wurde an Mitgliedern vorbeigezerrt, die sich die Ohren zuhielten und mit entsetztem Blick die Hände auf den Mund pressten.

»Du bist krank«, sagte Chip zu dem Mitglied, dem er ins Gesicht geschlagen hatte. Blut sickerte ihm aus den Nasenlöchern; Nase und Backen waren geschwollen. Er hatte Chips Arm fest im Griff. »Du bist von Drogen betäubt«, sagte Chip zu ihm. »Du bist tot! Du bist ein toter Mann! Du bist tot

»Pst, wir lieben dich, wir helfen dir«, sagte das Mitglied. »Christus und Wei, lasst mich los!«

Er wurde weitere Stufen hinaufgezerrt.

»Man hat ihn gefunden«, sagte der Mann im Lautsprecher. »Li RM ist gefunden, Mitglieder. Er wird gerade zum Medizentrum gebracht. Lasst mich das noch einmal sagen: Li RM ist gefunden und wird soeben zum Medizentrum gebracht. Der Ausnahmezustand ist beendet, Brüder und Schwestern, und ihr könnt wieder in euren Beschäftigungen fortfahren. Danke! Danke für eure Hilfe und Mitarbeit. Ich danke euch im Namen der Familie und im Namen Li RMs.«

Er wurde den Flur des Medizentrums entlang geschleppt.

Musik setzte ein, mitten in einer Melodie.

»Ihr seid alle tot«, sagte er. »Die ganze Familie ist tot. Uni lebt, nur Uni. Aber es gibt Inseln, wo Menschen leben! Schaut euch die Landkarten an, die Landkarte im vV-Museum!«

Er wurde in den Behandlungsraum gezerrt. Bob war da, blass und schwitzend, mit einer blutenden Schnittwunde über der Augenbraue. Er drückte hektisch die Tasten seines Telecomps, das ein Mädchen in einem blauen Kittel für ihn hielt.

»Bob«, sagte Chip, »tu mir einen Gefallen, ja? Schau dir die Landkarte im vV-Museum an. Die Landkarte von 1951!«

Er wurde zu einem blau beleuchteten Behandlungsapparat geschleift. Er krallte sich an dem Rand der Öffnung fest, aber sein Daumen wurde zurückgebogen und seine Hand mit Gewalt in die Öffnung gedrückt, sein Ärmel hochgeschoben und sein ganzer Arm bis zur Schulter hineingezwängt.

Jemand strich ihm beruhigend über die Wange – es war Bob, der zitternd sagte: »Es wird alles wieder gut werden, Li. Vertraue Uni.« Das Blut aus der Schnittwunde strömte in drei feinen Rinnsalen in die Haare seiner Augenbrauen.

Chips Armband wurde von dem Raster erfasst, sein Arm von der Infusionssscheibe berührt. Er presste die Augen zu. »Ich lasse mich nicht töten!«, dachte er. »Ich lasse mich nicht töten! Ich werde die Inseln vergessen! Ich werde Lilac nicht vergessen! Ich lasse mich nicht töten! Ich lasse mich nicht töten!« Er öffnete die Augen, und Bob lächelte ihn an. Ein hautfarbener Pflasterstreifen war über seine Augenbrauen geklebt. »Sie haben drei Uhr gesagt, und drei Uhr haben sie auch gemeint!«, sagte er. »Wovon sprichst du?«, fragte Chip. Er lag in einem Bett, und Bob saß daneben.

»Die Ärzte haben gesagt, dann würdest du aufwachen«, sagte Bob. »Um drei Uhr. Und jetzt ist es genau drei, nicht zwei Uhr neunundfünfzig und nicht drei Uhr eins. Es ist zum Fürchten, wie schlau diese Mitglieder sind.«

»Wo bin ich?«, fragte Chip. »Im Haupt-Medizentrum.«

Und dann fiel es ihm ein – alles, was er gedacht und gesagt und – das war das Schlimmste! – getan hatte. »Oh, Christus«, sagte er. »Oh, Marx. Oh, Christus und Wei.«

»Nimm’s nicht tragisch, Li«, sagte Bob und berührte seine Hand.

»Bob«, sagte er, »oh, Christus und Wei, Bob, ich – ich habe dich die Rolltreppe –«

»– hinuntergestoßen«, sagte Bob. »Das hast du wahrhaftig getan, Bruder. So überrascht war ich noch nie im Leben. Aber es geht mir trotzdem gut.« Er tippte auf das Pflaster über seiner Augenbraue. »Alles zugeheilt und so gut wie neu – bis in ein oder zwei Tagen auf jeden Fall.«

»Ich habe ein Mitglied geschlagen! Mit meiner Hand!«

»Er hat es auch gut überstanden«, sagte Bob. »Zwei sind von ihm.« Er zeigte auf eine Vase mit roten Rosen neben dem Bett. »Und zwei von Mary KK und zwei von den Mitgliedern in deiner Abteilung.«

Er sah die Rosen der Mitglieder an, die er geschlagen und betrogen und verraten hatte, und Tränen traten ihm in die Augen, und er begann zu zittern.

»Na na, komm, reg dich nicht auf«, sagte Bob.

Aber Christus und Wei, er dachte nur an sich selbst! »Hör zu, Bob«, sagte er, drehte sich zu ihm und stützte sich auf einem Ellbogen hoch. Mit den Händen wischte er sich die Augen.

»Nimm’s nicht tragisch«, sagte Bob.

»Bob, es gibt noch andere«, sagte er, »die ebenso krank sind, wie ich es war! Wir müssen sie suchen und ihnen helfen!«

»Das wissen wir.« »Da ist ein Mitglied namens ›Lilac‹, Anna SG38P2823, und ein andres –«

»Wissen wir, wissen wir«, sagte Bob. »Ihnen allen ist schon geholfen worden.«

»Wirklich?«

Bob nickte. »Du wurdest verhört, während du bewusstlos warst«, sagte er. »Es ist Montag. Montagnachmittag. Sie sind bereits ausfindig gemacht und geheilt worden – Anna SG und Anna PY, die du ›Snowflake‹ genannt hast, und Yin GU, ›Sparrow‹.«

»Und King«, sagte Chip. »Jesus HL. Er ist direkt hier in diesem Gebäude, er ist –«

»Nein«, sagte Bob kopfschüttelnd. »Nein, bei ihm sind wir zu spät gekommen. Er – er ist tot!«

»Tot?«

Bob nickte. »Er hat sich erhängt«, sagte er.

Chip starrte ihn an.

»An der Dusche, mit einem Streifen von einem Bettlaken«, sagte Bob.

»Oh, Christus und Wei«, sagte Chip und sank auf die Kissen zurück. Krankheit, Krankheit, und er war ein Teil davon gewesen.

»Die anderen sind aber alle wohlauf«, sagte Bob, seine Hand tätschelnd. »Und du wirst auch wieder ganz gesund werden. Du kommst in ein Rehabilitierungszentrum, Bruder. Du bekommst eine ganze Woche Erholungsurlaub, vielleicht sogar noch mehr ...«

»Bob, ich schäme mich so furchtbar ...«

»Ach, komm«, sagte Bob, »wenn du gefallen wärst und einen Knöchel gebrochen hättest, würdest du dich doch auch nicht schämen! Das ist dasselbe. Wenn sich jemand schämen müsste, dann wäre ich es.«

»Ich habe dich belogen

»Ich habe mich belügen lassen«, sagte Bob. »Schau, eigentlich trifft keinen eine Schuld. Das wirst du bald einsehen.« Er bückte sich, hob einen Reisetornister auf und öffnete ihn auf seinem Schoß. »Das ist deiner«, sagte er. »Wenn ich etwas vergessen habe, sag’s mir. Mundstück, Schere, Fotos, NN-Bücher, ein Pferdebild, dein ...«

»Das ist krankhaft«, sagte er. »Ich will es nicht. Wirf es weg!«

»Das Bild?«

Bob zog es aus dem Tornister und betrachtete es. »Es ist gut gemacht«, sagte er. »Nicht naturgetreu, aber – irgendwie hübsch.«

»Es ist krankhaft«, sagte Chip. »Ein krankes Mitglied hat es gezeichnet. Wirf es weg!«

»Wie du meinst«, sagte Bob. Er stellte den Tornister auf das Bett und ging quer durch den Raum zum Müllschlucker und steckte das Bild hinein.

»Es gibt Inseln, die voll von kranken Mitgliedern sind«, sagte Chip. »Überall in der Welt.«

»Ich weiß«, sagte Bob. »Du hast es uns gesagt.«

»Warum können wir ihnen nicht helfen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Bob, »aber Uni weiß es. Ich habe es dir schon einmal gesagt, Li: vertraue Uni.«

»Das werde ich tun«, sagte er, »ganz bestimmt!«, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen.

Ein Mitglied im Rot-Kreuz-Overall kam herein. »Wie fühlen wir uns denn?«, fragte er. Chip sah ihn an.

»Er ist ziemlich fertig«, sagte Bob.

»Das war zu erwarten«, sagte das Mitglied. »Aber keine Sorge, wir kriegen ihn schon wieder hoch.« Er kam herüber und nahm Chips Handgelenk.

»Li, ich muss jetzt gehen«, sagte Bob.

»Gut«, sagte Chip.

Bob kam zu ihm und küsste ihn auf die Wange. »Falls du nicht mehr hierher zurückgeschickt wirst – leb wohl, Bruder«, sagte er.

»Leb wohl, Bob«, sagte Chip. »Danke. Ich danke dir für alles.«

»Danke Uni«, sagte Bob, drückte ihm die Hand und lächelte. Er nickte dem Rot-Kreuz-Mitglied zu und ging.

Das Mitglied zog eine Spritze aus der Tasche und machte sie fertig zur Injektion. »Du wirst dich im Handumdrehen wieder völlig normal fühlen«, sagte er.

Chip blieb still liegen und schloss die Augen. Mit einer Hand wischte er sich die Tränen ab, während das Mitglied ihm den Ärmel hochschob. »Ich war so krank«, sagte er. »Ich war so krank.«

»Pst, nicht daran denken«, sagte das Mitglied und verabreichte ihm vorsichtig die Spitze. »Das lohnt sich nicht. Du wirst ganz bald wieder gesund sein.«