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Seinen Namen hatte Chip von seinem Großvater erhalten, der die ganze Familie umgetauft hätte. Seine Tochter, Chips Mutter, nannte er »Suzu« anstatt Anna, Chips Vater (der die Idee blödsinnig fand) hieß für ihn »Mike«, nicht Jesus, und zu Peace sagte er »Willow«; aber sie sträubte sich wütend dagegen. »Nein! Nenn mich nicht so! Ich bin Peace! Ich bin Peace KD37T5002!«

Papa Jan war seltsam. Natürlich sah er seltsam aus. Schließlich hatten alle Großeltern ihre ausgeprägten Eigentümlichkeiten – wenn sie nicht ein paar Zentimeter zu groß oder zu klein waren, hatten sie zu helle oder zu dunkle Haut, große Ohren oder eine gebogene Nase. Papa Jan war größer und dunkler als normal, seine Augen waren groß und vorstehend, und in seinem grauen Haar hatte er zwei rötliche Stellen. Aber das wirklich Seltsame an ihm war nicht sein Aussehen, sondern das, was er sagte.

Er sprach immer sehr lebhaft und mit Begeisterung, und dennoch fühlte Chip, dass er alles gar nicht so meinte, sondern das Gegenteil ausdrücken wollte. Zum Beispiel über die Namen sagte er: »Herrlich! Wunderbar! Vier Namen für Jungen, vier für Mädchen! Da gibt es keine Probleme, und alle sind gleich! Schließlich würde ohnehin jeder seine Söhne nach Christus, Marx, Wood und Wei nennen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Chip.

»Natürlich!«, sagte Papa Jan. »Und wenn Uni vier Namen für Jungen austeilt, muss er auch vier für Mädchen austeilen, stimmt’s? Na also! Hör zu!« Er hielt Chip fest und kniete nieder, um von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu sprechen. Seine vorquellenden Augen blitzten, als wollte er gleich lachen. Es war ein Feiertag – Tag der Vereinigung oder Weis Geburtstag oder sonst etwas – und sie befanden sich auf dem Weg zum Festumzug. Chip war sieben. »Hör zu, Li RM35M26 – J449988WXYZ«, sagte Papa Jan, »ich werde dir etwas Fantastisches, Unglaubliches erzählen. Zu meiner Zeit – hörst du mir zu? –, zu meiner Zeit gab es allein für Jungen über zwanzig verschiedene Namen! Kannst du dir das vorstellen? Bei der Liebe zur Familie, es ist wahr! Es gab ›Jan‹ und ›John‹ und ›Amu‹ und ›Lev‹, ›Higa‹ und ›Mike‹ und ›Tonio‹! Und zur Zeit meines Vaters waren es noch mehr, vielleicht vierzig oder fünfzig! Ist das nicht lächerlich? So viele verschiedene Namen für Mitglieder, die alle genau gleich und austauschbar sind? Etwas Dümmeres hast du bestimmt noch nie gehört!«

Und Chip nickte, ganz verwirrt, weil er spürte, dass Papa Jan das Gegenteil meinte; dass es irgendwie nicht dumm war, allein für Jungen vierzig öder fünfzig verschiedene Namen zu haben.

»Schau sie dir an!«, sagte Papa Jan. Er nahm Chip bei der Hand und ging weiter mit ihm – durch den Park der Einheit zu Weis Geburtstagsparade. »Genau gleich! Ist das nicht wunderbar? Gleiche Haare, gleiche Augen, gleiche Haut, gleiche Figur; Jungen, Mädchen, alle gleich. Wie Erbsen in einem Topf. Ist das nicht schön? Ist das nicht toll?«

Chip wurde rot, blinzelte (nicht mit seinem grünen Auge, das die anderen nicht hatten) und fragte: »Was ist Erpsineimdopf?«

»Ich weiß nicht«, sagte Papa Jan. »Etwas, das Mitglieder aßen, bevor es Vollnahrungskuchen gab. Sharya hat immer so gesagt.«

Er war Konstruktionsleiter in EUR 55 131, zwanzig Kilometer entfernt von ’55 128, wo Chip und seine Familie lebten. Sonntags und feiertags fuhr er herüber und besuchte sie. Seine Frau Sharya war 135, im selben Jahr als Chip geboren wurde, bei einem Schiffsunglück ertrunken, und er hatte nicht wieder geheiratet.

Die anderen Großeltern von Chip, die Eltern seines Vaters, lebten in MEX 10 405, und er sah sie nur, wenn sie an Geburtstagen telefonierten. Sie waren auch seltsam, aber längst nicht so sehr wie Papa Jan.

Die Schule machte Spaß, und Spielen machte Spaß. Auch Besuche im vV-Museum (mit vV wurde alles bezeichnet, was sich auf die Zeit vor der Vereinigung bezog) machten Spaß, obwohl manche der Ausstellungsstücke ein wenig gruselig waren – die »Speere« und »Gewehre« zum Beispiel, und die »Gefängniszelle« mit dem »Häftling«, der in seinem gestreiften Anzug auf der Pritsche saß und regungslos in ewiger Reue sein Gesicht verbarg. Chip schaute ihn jedes Mal an – wenn es sein musste, schlich er sich von der Klasse weg – und nachdem er ihn gesehen hatte, lief er immer schnell davon.

Eis und Spielzeug und Comicbücher machten auch Spaß. Einmal hatte Chip mit seinem Armband und dem Nummernschild eines Spielzeuges einen Versorgungszentrale-Raster berührt, und die Anzeigetafel hatte ein rotes »Nein« geblinkt. Da musste er sein Spielzeug, einen Baukasten, in den Rückgabe-Schacht legen. Er konnte nicht verstehen, warum Uni abgelehnt hatte, denn es war der richtige Tag, und das Spielzeug gehörte zur richtigen Sorte. »Es muss einen Grund geben, Kleiner«, sagte das Mitglied hinter ihm. »Geh nur zu deinem Berater und frage ihn.«

Das tat er, und es stellte sich heraus, dass ihm das Spielzeug nur für ein paar Tage, nicht endgültig, verweigert wurde, weil er irgendwo unartig mit einem Raster herumgespielt hatte. Er hatte ihn immer wieder mit seinem Armband berührt, und man hatte ihm beigebracht, dass er das nicht durfte. Sonst hatte das rote Nein immer nur aufgeleuchtet, wenn er ins falsche Klassenzimmer gehen wollte oder am falschen Tag ins Medizentrum kam; aber nun war ihm zum ersten Mal etwas abgeschlagen worden, das ihm viel bedeutete, und darüber war er gekränkt und traurig.

Geburtstage und das Christfest und das Marxfest und der Tag der Vereinigung und die Geburtstage von Wood und Wei machten Spaß, aber mehr noch seine Eingliederungstage, denn sie waren seltener. Das neue Glied in seinem Armband war glänzender als die anderen und blieb noch viele, viele Tage glänzend, und eines Tages dachte er wieder daran und schaute nach und sah nur noch alte Glieder – eines wie das andere und nicht mehr zu unterscheiden. Wie Erpsineimdopf.

Im Frühjahr 145, als Chip zehn war, wurde ihm und seinen Eltern und Peace die Reise nach EUR 00 001 zur Besichtigung von Uni gewährt. Die Fahrt von einer Wagenstation zur anderen dauerte über eine Stunde. Das war die längste Reise, an die Chip sich erinnern konnte, obwohl ihm seine Eltern erzählt hatten, er sei mit eineinhalb Jahren von MEX nach EUR geflogen und ein paar Monate später von EUR 20 140 nach ’55 128. Sie unternahmen den UniComp-Ausflug an einem Sonntag im April. Mit ihnen fuhren ein Ehepaar in den Fünfzigern (seltsam aussehende Großeltern eines anderen Kindes, beide heller als normal und die Frau mit ungleichmäßig geschnittenem Haar) und eine andere Familie mit einem Jungen und einem Mädchen, die ein Jahr älter als Chip und Peace waren. Der andere Vater fuhr den Wagen von der EUR 00 001-Ausfahrt zur Wagenstation bei UniComp. Es war ein komisches Gefühl, sich wieder langsam auf Rädern zu bewegen, nachdem man durch die Luft gebraust war.

Sie machten Fotos von UniComps weißem Marmordom: Er war weißer und viel schöner als auf Bildern oder im Fernsehen, und die schneebedeckten Berge dahinter erhabener, der See der Weltweiten Brüderlichkeit blauer und unendlicher. Und dann stellten sie sich in die Schlange vor dem Eingang, berührten den Zulassungs-Raster und betraten den blau-weißen, sanft geschwungenen Vorraum. Ein lächelndes Mitglied zeigte ihnen, wo die Schlange vor dem Aufzug stand. Sie reihten sich ein, und Papa Jan kam auf sie zu, strahlend vor Entzücken, weil sie so verwundert waren.

»Was tust du denn hier?«, fragte Chips Vater, als Papa Jan Chips Mutter küsste. Sie hatten ihm gesagt, dass sie die Erlaubnis zur Reise bekommen hatten, aber er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er selbst darum nachgesucht hatte.

Papa Jan küsste Chips Vater. »Ach, ich habe einfach beschlossen, euch zu überraschen – nur so«, sagte er. »Ich wollte meinem Freund hier« – er hatte Chip seine große Hand auf die Schulter gelegt – »ein bisschen mehr über UniComp erzählen, als er aus dem Ohreinsatz hört. Grüß dich, Chip.« Er beugte sich nieder und küsste Chip auf die Wange, und Chip – überrascht, dass Papa Jan seinetwegen gekommen war – erwiderte seinen Kuss und sagte: »Grüß dich, Papa Jan.«

»Guten Tag, Peace KD37T50002«, sagte Papa Jan feierlich und küsste Peace. Sie küsste ihn und sagte: »Guten Tag.«

»Wann hast du die Reise beantragt?«, fragte Chips Vater.

»Ein paar Tage nach euch«, sagte Papa Jan, ohne seine Hand von Chips Schultern zu nehmen. Die Wartenden rückten ein paar Meter weiter vor, und sie auch.

Chips Mutter sagte: »Aber du warst doch erst vor fünf oder sechs Jahren hier, nicht?«

»Uni weiß, wer ihn gebaut hat«, sagte Papa Jan. »Wir erhalten besondere Vergünstigungen.«

»Das stimmt nicht«, sagte Chips Vater. »Keiner erhält besondere Vergünstigungen.«

»Nun, auf jeden Fall bin ich hier«, sagte Papa Jan und wandte sein lächelndes Gesicht Chip zu. »Habe ich recht?«

»Ja«, sagte Chip und lächelte zu ihm hoch.

Papa Jan hatte als junger Mann geholfen, UniComp zu bauen, das war seine erste Aufgabe gewesen.

Der Aufzug fasste ungefähr dreißig Mitglieder, und anstelle von Musik hörte man in ihm eine Männerstimme – »Guten Tag, Brüder und Schwestern, willkommen auf dem Gelände von UniComp« – eine warme, freundliche Stimme, die Chip schon aus dem Fernsehen kannte. »Wie ihr wohl schon bemerkt habt, befinden wir uns in Bewegung«, sagte sie, »und fahren nun mit fünfundzwanzig Meter in der Sekunde abwärts. Es dauert kaum mehr als dreieinhalb Minuten, bis wir die fünf Kilometer in die Tiefen von UniComp zurückgelegt haben. Der Schacht, durch den wir hinabfahren ...« Die Stimme zählte statistische Angaben über die Größe von UniComps Gebäude und den Durchmesser seiner Mauern auf und berichtete, wie gut er gegen alle natürlichen und von Menschen erdachten Störungen gesichert war. Chip hatte das alles schon früher in der Schule und im Fernsehen gehört, aber hier, während er dieses Gebäude betrat und durch diese Mauern schritt, unmittelbar bevor er UniComp sah, klang es neu und aufregend. Er hörte aufmerksam zu und beobachtete die Sprechscheibe über der Aufzugtür. Papa Jans Hand lag immer noch auf seiner Schulter, wie um ihn zurückzuhalten. »Wir fahren jetzt nicht mehr so schnell«, sagte die Stimme. »Viel Spaß bei eurem Besuch!« Der Aufzug hielt sanft an, als sänke er auf ein Kissen, die Tür teilte sich und glitt nach beiden Seiten auseinander.

Sie kamen in einen anderen Vorraum, kleiner als der im Erdgeschoss. Auch hier ein lächelndes Mitglied in Hellblau und eine Schlange von Wartenden in Zweierreihen vor Doppeltüren, die zu einem schwach erleuchteten Flur führten.

»Jetzt sind wir da!«, rief Chip, und Papa Jan sagte zu ihm: »Wir müssen nicht alle zusammenbleiben.« Sie waren von Chips Eltern und Peace getrennt worden, die weiter vorn in der Schlange standen und fragend zu ihnen zurückblickten – Chips Eltern wenigstens, denn Peace war so klein, dass man sie nicht sehen konnte. Das Mitglied vor Chip drehte sich um und wollte sie vorbeilassen, aber Papa Jan sagte: »Nein, es ist schon gut so. Danke, Bruder.« Er winkte Chips Eltern zu und lächelte, und Chip machte es ihm nach. Chips Eltern lächelten zurück, dann drehten sie sich um und gingen weiter vorwärts.

Papa Jan blickte umher. Seine vorstehenden Augen glänzten, und er lächelte immer noch. Seine Nasenflügel blähten sich im Rhythmus seines Atems. »So«, sagte er, »jetzt wirst du endlich UniComp sehen. Aufgeregt?«

»Ja, sehr«, sagte Chip.

Sie bewegten sich in der Schlange voran.

»Kann ich dir nicht verdenken«, sagte Papa Jan. »Herrlich! Ein einmaliges Erlebnis, die Maschine zu sehen, die dich klassifizieren und dir deine Aufgaben zuweisen wird, die darüber entscheidet, wo du leben wirst und ob du das Mädchen, das du heiraten möchtest, heiraten darfst oder nicht – und wenn ja, ob ihr Kinder bekommt oder nicht, und wie sie heißen sollen, falls ihr welche bekommt. Natürlich bist du aufgeregt, wer wäre es nicht?«

Chip sah Papa Jan verstört an.

Papa Jan klopfte ihm, immer noch lächelnd, den Rücken, als sie in den Flur eintraten. »Jetzt schau!«, sagte er. »Sieh dir die Ausstellung an, sieh dir Uni an, sieh dir alles an, denn dazu ist es da!«

Genau wie in einem Museum gab es einen Ständer mit Ohreinsätzen. Chip nahm einen und legte ihn an. Papa Jans merkwürdiges Benehmen machte ihn nervös, und er bedauerte, dass er nicht weiter vorne bei seinen Eltern und Peace war. Papa Jan steckte sich auch einen Einsatz ins Ohr. »Ich bin gespannt, was ich für interessante Neuigkeiten hören werde«, sagte er und lachte vor sich hin. Chip wandte sich von ihm ab. Seine Nervosität und Unruhe fiel von ihm ab, als er vor einer Wand stand, auf der tausend winzige, blitzende Lichter funkelten und strahlten. Die Stimme aus dem Aufzug sprach ihm ins Ohr und erzählte ihm, was die Lichter zeigten: Wie UniComp über sein weltumspannendes Relais-Netz die Mikrowellen-Impulse all der unzähligen Raster und Telecomps und telekontrollierten Apparate empfing und die Impulse auswertete und seine Antwort-Impulse zu dem Relais-Netz und den anfragenden Stellen zurückstrahlte.

Ja, er war aufgeregt. Was konnte schneller, klüger und allgegenwärtiger sein als Uni?

Die nächste Wandfläche zeigte, wie die Gedächtnisspeicher funktionierten. Ein Lichtstrahl flackerte über ein kreuz und quer von Linien durchzogenes Metallrechteck, sodass manche Teile erleuchtet wurden und andere im Dunkeln blieben. Die Stimme sprach von Elektronenstrahlen und besonders leitungsfähigen Stromnetzen, von geladenen und ungeladenen Abschnitten, die zu Ja-oder-Nein-Trägern für verschiedene Einzelinformationen wurden. Wurde UniComp eine Frage gestellt, so ertastete er die entsprechenden Informationen, sagte die Stimme ...

Er verstand es nicht, aber dadurch wurde es noch wunderbarer, dass Uni alles Wissenswerte auf so magische, un-verständliche Weise wusste!

Die nächste Fläche bestand nicht aus einer Wand, sondern aus Glas – und da war UniComp: eine Doppelreihe verschiedenfarbiger Metallkörper, wie Behandlungsapparate, nur kleiner und niedriger. Die einen waren rosa, die anderen braun und orange, und dazwischen standen in dem rosig erleuchteten Raum zehn oder zwölf Mitglieder in blassblauen Overalls. Sie lächelten und schwatzten miteinander, während sie Zähler und Skalen auf den mehr als dreißig Anlagen ablasen und die Ergebnisse auf hübsche hellblaue Plastiktafeln schrieben. An der gegenüberliegenden Wand sah man ein Kreuz und eine Sichel aus Gold und eine Uhr, die 11.08 12. Apr. 145 J.V. anzeigte. Musik drang in Chips Ohren und wurde lauter: Ein riesiges Orchester spielte »Empor, empor«, so bewegend und majestätisch, dass Chip vor Stolz und Glück Tränen in die Augen schossen.

Stundenlang hätte er hierbleiben und die geschäftigen, fröhlichen Mitglieder und diese imposanten, leuchtenden Gedächtnisspeicher betrachten und den Klängen von »Empor, empor« und dann von »Eine einzige mächtige Familie« lauschen können; aber die Musik wurde leiser (als aus 11.10 11.11 wurde), und die Stimme erinnerte ihn freundlich, voll Rücksicht auf seine Gefühle, an die anderen Mitglieder, die warteten, und forderte ihn auf, bitte zur nächsten Sehenswürdigkeit weiter hinten im Flur zu gehen. Widerwillig wandte er sich von UniComps Glaswand ab. Andere Mitglieder wischten sich die Augen und lächelten und nickten. Er lächelte ihnen zu, und sie erwiderten sein Lächeln.

Papa Jan packte ihn am Arm und zog ihn über den Flur zu einer von Rastern bewachten Tür. »Na, hat es dir gefallen?«, fragte er.

Chip nickte.

»Das ist nicht Uni«, sagte Papa Jan.

Chip sah ihn an.

Papa Jan zog Chips Ohreinsatz heraus. »Das ist nicht UniComp«, flüsterte er grimmig. »Die sind nicht echt, die rosaroten und orangefarbenen Kästchen da drin! Das sind Attrappen für die Familienmitglieder, die hierher kommen und sie anschauen und denen dabei ganz warm ums Herz wird!« Seine Augen quollen hervor, und kleine Tropfen seines Speichels flogen Chip auf Nase und Wangen. »Da unten ist er!«, sagte er. »Unter diesem Stockwerk sind noch drei weitere, und da ist er! Willst du ihn sehen? Willst du den echten UniComp sehen?«

Chip konnte ihn nur anstarren.

»Willst du, Chip?«, fragte Papa Jan. »Willst du ihn sehen? Ich kann ihn dir zeigen!«

Chip nickte.

Papa Jan ließ seinen Arm los und richtete sich ganz gerade auf. Er blickte umher und lächelte. »Gut«, sagte er, »gehen wir hier entlang.« Er nahm Chip bei der Schulter und schob ihn vor sich her in die Richtung, aus der sie gekommen waren, vorbei an der Glaswand, vor der sich die Mitglieder stauten, und den flackernden Lichtstrahlen der Gedächtnisspeicher und der funkelnden Wand der Mini-Lichter und – »Entschuldige bitte« – durch die Reihe der hereinkommenden Mitglieder und einen anderen, dunkleren und weniger belebten Teil des Flurs, wo ein riesiges zerbrochenes Telecomp schief von der Wand hing und zwei blaue Tragbahren mit Kissen und gefalteten Decken nebeneinander standen. In der Ecke war eine Tür mit einem Raster daneben, aber als sie in seine Nähe kamen, drückte Papa Jan Chips Arm herunter.

»Der Raster«, sagte Chip.

»Nein«, sagte Papa Jan.

»Sollten wir hier nicht ...«

»Ja.«

Chip sah Papa Jan an, und Papa Jan schob ihn an dem Raster vorbei, riss die Tür auf, schubste ihn hinein und kam ihm nach. Dann drückte er die Tür, viel zu hastig, wieder zu, und ihr Schließmechanismus quietschte.

Chip starrte ihn zitternd an.

»Ist schon gut«, sagte Papa Jan streng, und dann nahm er, gar nicht streng, sondern freundlich, Chips Kopf in beide Hände und sagte: »Alles ist in Ordnung. Es wird dir nichts geschehen. Ich habe es schon oft getan.«

»Wir haben nicht gefragt«, sagte Chip, immer noch zitternd.

»Das ist ganz in Ordnung«, sagte Papa Jan. »Schau, wem gehört denn UniComp?«

»Gehören?«

»Für wen ist er da?«

»Für – die ganze Familie.«

»Und du bist ein Mitglied der Familie, nicht wahr?«

»Ja ...«

»Nun, dann ist er zum Teil dein Computer, oder nicht? Er gehört dir, nicht umgekehrt. Du gehörst nicht ihm

»Nein, wir sollen um alles bitten!«, sagte Chip.

»Bitte Chip, vertraue mir«, sagte Papa Jan, »und überlege dir einmal Folgendes: Der Computer hätte es doch ganz einfach so einrichten können, dass man an einem Raster gar nicht vorbeigehen kann, ohne vorher zu fragen. UniComp hat auf eine solche Sperre verzichtet, und da UniComp alles weiß, hat er sicher auch dafür seine Gründe. Warum sollen wir diese Möglichkeit nicht einmal nützen? Wir werden ja nichts wegnehmen, nicht einmal etwas anfassen. Wir wollen nur schauen. Deshalb bin ich heute hierhergekommen: um dir den echten UniComp zu zeigen. Du willst ihn doch sehen, nicht wahr?«

Nach kurzem Schweigen sagte Chip: »Ja.«

»Dann mache dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.«

Papa Jan sah Chip beruhigend in die Augen, und dann ließ er seinen Kopf los und nahm seine Hand.

Sie standen auf einem Treppenabsatz. Stufen führten in die Tiefe. Sie schritten vier oder fünf Stufen hinab, der Kälte entgegen, da blieb Papa Jan stehen und hielt auch Chip zurück. »Bleib hier«, sagte er, »ich bin in zwei Sekunden wieder da. Rühr dich nicht von der Stelle.«

Chip beobachtete ängstlich, wie Papa Jan zurück zu dem Treppenabsatz ging und dann schnell durch die Tür, die sich hinter ihm schloss.

Chip begann wieder zu zittern. Er war an einem Raster vorbeigegangen, ohne ihn zu berühren, und nun stand er allein auf einer eiskalten Treppe – und Uni wusste nicht, wo er war!

Die Tür öffnete sich von Neuem, und Papa Jan kam wieder herein, mit blauen Decken über dem Arm. »Es ist sehr kalt«, sagte er.

In Decken gehüllt, gingen sie zusammen den Korridor entlang, der gerade breit genug für zwei war. Die Stahlwände wurden nach vorne immer enger, bis sie in der Ferne auf eine Querwand stießen. Oben wölbten sie sich zu einer strahlend weißen Decke von einem halben Meter Breite.

Eigentlich waren es gar keine Wände, sondern Reihen von riesigen Stahlblöcken, die, von Kältenebeln umwogt, nebeneinander standen und auf der Vorderseite in Augenhöhe schwarze Nummern trugen: H 46, H 48 auf der einen Seite des Korridors, H 49, H 51 auf der anderen. Dieser Korridor war nur einer von mehr als zwanzig schmalen Gängen zwischen Reihen von Stahlblöcken, die Rücken an Rücken standen. Vier etwas breitere Quergänge unterteilten die Reihen in regelmäßigen Abständen.

Als sie den Gang entlangschritten, bildete ihr Atem vor Mund und Nase weiße Wölkchen, und zwischen ihren Füßen bewegten sich verschwommene Schatten. Außer den Geräuschen, die sie selbst machten – dem Paplon-Knistern ihrer Overalls und dem Klappern ihrer Sandalen – und deren Echo war nichts zu hören.

»Na?«, sagte Papa Jan.

Chip zog die Decke enger um sich. »Es ist nicht so nett wie oben«, sagte er.

»Nein«, sagte Papa Jan. »Hier unten gibt es keine hübschen jungen Mitglieder mit Federhaltern und Schreibblöcken. Kein warmes Licht und keine freundlichen rosaroten Maschinen. Hier ist es immer leer. Leer und kalt und leblos. Hässlich!«

Sie standen an der Kreuzung zweier Gänge, die sich zwischen dem Stahl in die eine und die andere, in eine dritte und vierte Richtung erstreckten.

Papa Jan schüttelte den Kopf und machte ein finsteres Gesicht. »Es ist falsch«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum und wie, aber es ist falsch. Tote Pläne toter Mitglieder. Tote Ideen, tote Beschlüsse.«

»Warum ist es so kalt?«, fragte Chip, seinem Atem nachblickend.

»Weil es tot ist«, sagte Papa Jan. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich weiß nicht. Sie funktionieren nicht, wenn sie nicht eiskalt sind. Ich weiß es nicht. Ich wusste nur, wie man die Dinger an den richtigen Platz befördert, ohne sie kaputt zu machen.«

Sie schritten Seite an Seite durch einen anderen Gang. R 20, R 22, R 24.

»Wie viele sind es?«, fragte Chip.

»Zwölfhundertundvierzig in diesem Stockwerk, zwölfhundertundvierzig in dem Geschoss darunter. Und die sind nur für jetzt. Hinter dieser Ostwand ist noch einmal doppelt so viel Raum bereitgestellt für die Zeit, wenn sich die Familie vergrößert. Weitere Schächte und ein weiteres Belüftungssystem ... alles schon fix und fertig ...«

Sie stiegen in das nächsttiefere Stockwerk hinab. Dort war alles genau wie oben, nur dass an zwei der Kreuzungen stählerne Pfeiler standen und die Gedächtnisspeicher rote Zahlen trugen anstatt schwarze. Sie gingen an J 65, J 63, J 61 vorbei. »Die größte Aufgabe aller Zeiten: Einen Computer zu schaffen, der die fünf alten überflüssig macht. Als ich in deinem Alter war, wurden jeden Abend die neuesten Meldungen darüber gesendet. Ich rechnete mir aus, dass es noch nicht zu spät für mich wäre, daran mitzuwirken, wenn ich zwanzig sein würde, vorausgesetzt, ich käme in die richtige Klassifizierung. Also habe ich darum gebeten.«

»Du hast darum gebeten?«

»Genau das«, sagte Papa Jan lächelnd und nickte. »Damals war das nichts Unerhörtes. Ich habe meine Beraterin gebeten, Uni zu fragen – na ja, es war nicht Uni, sondern EuroComp – jedenfalls habe ich sie gebeten zu fragen, und sie hat es getan, und Christus, Marx, Wood und Wei, es hat geklappt – 042 C, Bauarbeiter dritter Klasse. Erster Einsatz hier.« Er sah sich mit lebhaftem Blick um, immer noch lächelnd. »Sie wollten diese Riesenklötze einzeln in die Schächte hinablassen«, sagte er und lachte. »Ich habe eine ganze Nacht nicht geschlafen und ausgetüftelt, dass die Arbeit acht Monate früher beendet sein könnte, wenn wir einen Tunnel von der anderen Seite des Bergs der Liebe« – er zeigte mit dem Daumen über die Schulter – »graben und sie auf Rädern einfahren. EuroComp war auf diese einfache Idee nicht gekommen, oder vielleicht legte er auch keinen Wert darauf, dass ihm sein Gedächtnis so schnell abgezapft wurde.« Er lachte wieder.

Er hörte auf zu lachen, und Chip bemerkte zum ersten Mal, dass sein Haar jetzt ganz grau war. Die rötlichen Stellen, die er vor ein paar Jahren gehabt hatte, waren völlig verschwunden.

»Und hier sind sie«, sagte er, »alle am richtigen Platz, durch meinen Tunnel heruntergerollt, und sie werden acht Monate länger als ursprünglich vorgesehen funktionieren.« Er blickte im Vorübergehen auf die Speicher, als wären sie ihm zuwider.

Chip fragte: »Magst du UniComp nicht?«

Papa Jan schwieg einen Augenblick. »Nein«, sagte er und räusperte sich. »Du kannst nicht mit ihm diskutieren, du kannst ihm nichts erklären ...«

»Aber er weiß doch alles«, sagte Chip. »Was gibt es da zu erklären oder zu diskutieren?«

Sie trennten sich, weil ein Stahlpfeiler im Weg stand, und trafen wieder zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte Papa Jan. »Ich weiß nicht.« Er ging mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn, in seine Decke gehüllt. »Sag mal«, fragte er, »gibt es eine Klassifizierung, die dir lieber wäre als jede andere? Eine Aufgabe, auf die du besonders hoffst?«

Chip sah Papa Jan unsicher an und zuckte die Achseln. »Nein«, sagte er. »Ich will die Klassifizierung, die ich erhalte, in die ich passe, und die Aufgabe, für die mich die Familie braucht. Es gibt ohnehin nur eine Aufgabe. Zur Ausbreitung der ...«

»Zur Ausbreitung der Familie durch das Weltall beizutragen«, sagte Papa Jan. »Ich weiß. Durch das vereinigte UniComp-Universum. Komm, gehen wir wieder nach oben. Ich halte die mörderische Kälte nicht mehr lange aus.«

Verlegen fragte Chip: »Ist da nicht noch ein Stockwerk? Du sagtest, dort ...« »Unmöglich«, sagte Papa Jan. »Dort sind Raster, und Mitglieder würden sehen, dass wir sie nicht berühren, und uns ›zu Hilfe‹ eilen. Etwas Besonderes gibt es da sowieso nicht zu sehen, nur die Empfänger-und Sendegeräte und die Gefrieranlage.«

Sie gingen zu den Treppen. Chip fühlte sich niedergeschlagen. Aus irgendeinem Grund war Papa Jan von ihm enttäuscht, und – schlimmer noch – es stimmte etwas nicht mit ihm, denn er wollte mit Uni streiten und hatte keine Raster berührt und böse Reden geführt. »Du solltest deinem Berater erzählen, dass du mit Uni streiten willst«, sagte Chip, als sie die Treppen hochstiegen.

»Ich will nicht mit Uni streiten«, sagte Papa Jan. »Ich möchte nur mit ihm streiten können, falls ich Lust dazu habe.«

Da kam Chip überhaupt nicht mehr mit. »Du solltest es deinem Berater auf jeden Fall sagen. Vielleicht bekommst du eine Extrabehandlung.«

»Vielleicht«, sagte Papa Jan, und nach einer kurzen Pause: »Gut, ich sage es ihm.«

»Uni weiß alles über alles«, sagte Chip.

Sie stiegen die zweite Treppe empor, und auf dem Absatz vor dem Ausstellungsflur blieben sie stehen und falteten ihre Decken. Papa Jan war zuerst fertig. Er sah Chip zu, wie er seine faltete.

»Da«, sagte Chip und drückte ihm das blaue Bündel gegen die Brust.

»Weißt du, warum ich dir den Namen ›Chip‹ – ›Span‹ – gegeben habe?«, fragte Papa Jan.

»Nein«, sagte Chip.

»Es gibt eine alte Redensart, ›ein Span vom alten Holz.‹ Das heißt, dass ein Kind wie seine Eltern oder seine Großeltern ist.«

»Aha.«

»Damit meine ich nicht, dass du deinem Vater oder gar mir gleichst«, sagte Papa Jan. »Ich meine, du gleichst meinem Großvater. Wegen deinem Auge. Er hatte auch ein grünes Auge.«

Chip trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Wenn Papa Jan nur endlich aufhörte zu reden, damit sie wieder hinausgehen könnten, wohin sie gehörten.

»Ich weiß, du sprichst nicht gern darüber«, sagte Papa Jan, »aber du brauchst dich nicht dafür zu schämen. Es ist gar nicht so schrecklich, ein bisschen anders als alle anderen zu sein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verschieden Mitglieder früher waren. Dein Ur-Urgroßvater war ein sehr tapferer und tüchtiger Mann. Er hieß Hanno Rybeck – Namen und Nummer waren damals getrennt –, und er war ein Kosmonaut, der die erste Marskolonie errichten half. Also schäme dich nicht, weil du sein Auge hast. Heute kämpfen sie gegen die Gene – entschuldige, dass ich so daherrede –, aber vielleicht haben sie bei dir ein paar nicht erwischt, vielleicht hast du nicht nur ein grünes Auge, sondern auch ein wenig vom Mut und der Tüchtigkeit meines Großvaters mitbekommen.«

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, drehte sich aber noch einmal um und sah Chip an. »Versuche, dir etwas zu wünschen, Chip«, sagte er. »Versuche es einen oder zwei Tage vor deiner nächsten Behandlung. Dann ist es am leichtesten, sich etwas zu wünschen und sich Gedanken zu machen ...«

Chips Eltern und Peace warteten schon auf sie, als sie in der Eingangshalle im Erdgeschoss aus dem Lift traten. »Wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte Chips Vater, und Peace, die einen orangeroten (nicht echten) Miniatur-Gedächtnisspeicher in der Hand hatte, sagte: »Wir haben so lange gewartet«

»Wir haben uns Uni angesehen«, sagte Papa Jan.

Chips Vater fragte: »Die ganze Zeit?«

»Jawohl.«

»Ihr hättet weitergehen und anderen Mitgliedern Platz machen müssen.«

»Ihr schon, Mike«, sagte Papa Jan lächelnd. »Mein Ohreinsatz sagte: »Jan, alter Freund, schön, dich zu sehen! Du und dein Enkel, ihr könnt bleiben und schauen, so lange ihr wollt!«

Chips Vater wandte sich ab, ohne zu lächeln.

Sie gingen in die Kantine und beantragten Kuchen und Cola – nur Papa Jan nicht, denn er hatte keinen Hunger – und nahmen alles mit auf das Picknickgelände hinter dem Dom. Papa Jan zeigte Chip den Berg der Liebe und erzählte ihm mehr darüber, wie der Tunnel gegraben wurde. Chips Vater war ganz erstaunt, als er davon hörte – ein Tunnel, um sechsunddreißig gar nicht so große Gedächtnisspeicher einzufahren. Papa Jan erzählte ihm, dass es tiefer unten noch mehr Speicher gab, aber er sagte nicht wie viele und auch nicht, wie groß und kalt und leblos sie waren. Auch Chip sagte nichts. Es war ein eigenartiges Gefühl, dass er und Papa Jan etwas wussten und den anderen nichts davon sagten. Dadurch wurden sie verschieden von den anderen und einander gleich, wenigstens ein bisschen ...

Nach dem Essen gingen sie zur Wagenstation und reihten sich in die Schlange der Wartenden ein. Papa Jan blieb bei ihnen, bis sie dicht vor den Rastern standen, und ging dann. Er sagte, er wolle noch warten und mit zwei Freunden aus Riverbend zurückfahren, die Uni später am Tag besuchten. »Riverbend« war seine Bezeichnung für L55 131, wo er wohnte.

Als Chip das nächste Mal zu Bob NE, seinem Berater, kam, erzählte er ihm von Papa Jan; dass er Uni nicht leiden konnte und mit ihm streiten und ihm alles Mögliche erklären wollte.

Bob sagte lächelnd: »Bei Leuten, die so alt sind wie dein Großvater, kommt das manchmal vor, Li, aber das ist kein Grund zur Beunruhigung.«

»Kannst du es nicht Uni sagen?«, fragte Chip. »Vielleicht könnte Papa Jan eine Extrabehandlung bekommen, oder eine stärkere.«

»Li«, sagte Bob und beugte sich über seinen Schreibtisch vor, »die verschiedenen chemischen Stoffe, die wir bei unseren Behandlungen bekommen, sind sehr kostbar und schwierig herzustellen. Wenn ältere Mitglieder so viel bekämen, wie sie manchmal brauchen, bliebe vielleicht für die jungen Mitglieder nicht genug übrig, und die sind für die Familie wirklich wichtiger. Und um genug Chemikalien für alle herzustellen, müssten wir womöglich die wichtigeren Aufgaben vernachlässigen. Uni weiß, was zu tun ist, wie viel es von allem gibt und wie viel jeder davon braucht. Dein Großvater ist nicht wirklich unglücklich, das verspreche ich dir; nur ein bisschen schrullig. Wenn wir über fünfzig sind, wird es uns ebenso ergehen.«

Chip sagte: »Er benutzt dieses Wort: ›K-Punkt-Punkt-Punkt-Punkt-Punkt-n‹.«

»Auch das kommt manchmal bei älteren Mitgliedern vor«, sagte Bob. »Sie denken sich nichts dabei. Ein Wort als solches ist nicht ›schmutzig‹; nur die Tat, für die ein sogenanntes schmutziges Wort steht, ist anstößig. Mitglieder wie dein Großvater benutzen nur das Wort, aber sie handeln nicht danach. Und wie geht’s dir? Irgendeine Reibung? Deinen Großvater wollen wir eine Weile seinem eigenen Berater überlassen.«

»Nein, keine Reibung«, sagte Chip und dachte daran, dass er einen Raster passiert hatte, ohne ihn zu berühren, und gewesen war, wohin Uni ihn nicht gehen lassen wollte, und dass er plötzlich keine Lust hatte, Bob davon zu erzählen. »Überhaupt keine Reibung«, sagte er. »Alles große Klasse.«

»Okay«, sagte Bob. »Berühren. Nächsten Freitag sehe ich dich wieder, ja?«

Ungefähr eine Woche später wurde Papa Jan nach USA 60 607 versetzt. Chip und seine Eltern fuhren zum Flughafen in EUR 55 130, um sich von ihm zu verabschieden.

Während Chips Eltern und Peace durch die Glasscheiben im Wartesaal zusahen, wie die Passagiere an Bord gingen, zog Papa Jan Chip zur Seite und sah ihn zärtlich lächelnd an. »Chip Grünauge«, sagte er – Chip runzelte gegen seinen Willen die Stirn – »du hast um eine Extrabehandlung für mich gebeten, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Chip. »Woher weißt du das?«

»Ach, ich habe es nur so vermutet«, sagte Papa Jan. »Pass gut auf dich auf, Chip. Denk daran, dass du ein Span vom alten Holz bist, und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Versuche dir etwas zu wünschen.«

»Ich werde es nicht vergessen«, sagte Chip.

»Die Letzten gehen schon«, sagte Chips Vater.

Papa Jan küsste sie alle zum Abschied und schloss sich den hinausgehenden Mitgliedern an. Chip ging zu der Glasscheibe und sah Papa Jan in der hereinbrechenden Dunkelheit zum Flugzeug gehen – ein außergewöhnlich großes Mitglied, das seinen Reisetornister in der Hand schwenkte. Bei der Rolltreppe drehte er sich um und winkte – Chip winkte zurück und hoffte, dass Papa Jan ihn sehen konnte –, dann drehte er sich wieder in die andere Richtung und hielt sein Handgelenk, an dem der Tornister baumelte, an den Raster. Das Antwortsignal leuchtete grün in der Ferne, und Papa Jan schritt durch die Dämmerung zu der Rolltreppe, die ihn langsam nach oben trug.

Auf der Rückfahrt saß Chip ganz still im Wagen. Er fühlte, dass ihm Papa Jan und seine Sonntags- und Feiertagsbesuche fehlen würden. Das war eigenartig, denn er war ein so seltsames und andersartiges altes Mitglied. Aber plötzlich erkannte Chip, dass er ihn gerade vermissen würde, weil er alt und anders war. Und niemand würde seinen Platz einnehmen.

»Was hast du denn, Chip?«, fragte seine Mutter.

»Ich werde Papa Jan vermissen«, sagte er.

»Ich auch«, sagte sie, »aber wir werden ihn ab und zu im Telefon sehen.«

»Es ist gut, dass er geht«, sagte Chips Vater.

»Ich will nicht, dass er geht«, sagte Chip. »Ich möchte, dass er hierher zurückversetzt wird.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Chips Vater, »und es ist gut so. Er hatte einen schlechten Einfluss auf dich.«

»Mike«, sagte Chips Mutter.

»Fang du nicht mit diesem Quatsch an«, sagte Chips Vater. »Ich heiße Jesus, und er Li.«

»Und ich Peace«, sagte Peace.