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»Wenn es um Geld geht, heißt meine Antwort nein«, sagte Julia Costanza, während sie eilig an Einwanderer-Frauen, die sich nach ihr umblickten, und an ratternden Webstühlen vorbeischritt. »Wenn es sich um eine Stellung dreht, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

Chip, der neben ihr ging, sagte: »Ashi hat mir schon eine Stellung besorgt.«

»Dann handelt es sich um Geld«, sagte sie.

»Zuerst um eine Information«, sagte Chip, »dann vielleicht um Geld.« Er stieß eine Tür auf.

»Nein«, sagte Julia auf der Schwelle. »Warum gehen Sie nicht zur E. H.? Dafür ist sie da. Was für eine Information? Worüber?« Sie warf ihm einen Blick zu, während sie eine Wendeltreppe hinaufstiegen, die unter ihrem Gewicht schwankte.

Chip sagte: »Können wir uns irgendwo fünf Minuten hinsetzen?«

»Wenn ich mich setze«, sagte Julia, »ist morgen die halbe Insel nackt. Das stört Sie wahrscheinlich nicht, aber mich. Was für eine Information?«

Er beherrschte seinen Groll. Zu ihrem schnabelnasigen Profil gewandt, sagte er: »Die zwei Angriffe auf Uni, die Sie –«

»Nein«, sagte sie. Sie blieb vor ihm stehen und hielt sich mit einer Hand an dem Mittelpfeiler der Wendeltreppe fest und blieb direkt vor ihm stehen. »Wenn es darum geht, höre ich wirklich nicht zu«, sagte sie. »Ich habe es gleich gewusst, als Sie mit dieser vorwurfsvollen Miene in das Wohnzimmer kamen. Nein. Ich bin an keinen weiteren Plänen und Projekten interessiert. Sprechen Sie mit jemand anderem darüber.« Sie stieg die Treppe empor.

Er beeilte sich und holte sie ein. »Wollten Sie einen Tunnel benutzen?«, fragte er. »Sagen Sie mir nur das: Gingen sie durch einen Tunnel auf der Rückseite des Bergs der Liebe?«

Sie öffnete mit einer heftigen Bewegung die Tür am Ende der Treppe. Er hielt die Tür auf und betrat hinter Julia einen großen Speicher, in dem ein paar Maschinenteile lagen. Vögel flatterten auf und verschwanden durch Luken in dem Giebeldach.

»Sie gingen mit den anderen hinein«, sagte sie, während sie zielstrebig auf eine Tür am Ende des Speichers zueilte. »Mit den Touristen. So war es wenigstens geplant. Sie wollten im Aufzug nach unten fahren.«

»Und dann?«

»Es hat keinen Sinn, darüber –«

»Geben Sie mir doch nur diese eine Antwort, bitte!«, sagte er.

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und sah geradeaus. »Angeblich gibt es ein großes Fenster, durch das man Uni besichtigen kann«, sagte sie. »Sie wollten es einschlagen und Sprengkörper hineinwerfen.«

»Beide Gruppen?«

»Ja.«

»Es könnte ihnen gelungen sein«, sagte er.

Mit der Hand auf der Türklinke blieb sie stehen und sah ihn entgeistert an.

»Das ist nicht wirklich Uni«, sagte er, »sondern nur ein Schaustück für die Touristen. Vielleicht hat es auch den Zweck, Angreifer irrezuführen. Sie hätten es in die Luft sprengen können, und nichts wäre geschehen – außer dass man sie gefasst und behandelt hätte.«

Sie sah ihn immer noch an.

»Der echte Uni ist weiter unten«, sagte er. »Auf drei Geschosse verteilt. Ich war einmal dort, als ich zehn oder elf Jahre alt war.«

Sie sagte: »Einen Tunnel graben! Das ist das Lächer –«

»Er existiert schon«, sagte er. »Er muss nicht erst ausgehoben werden.« Sie machte den Mund zu, sah ihn an, drehte sich um und stieß die Tür auf. Diese führte zu einem anderen, hell erleuchteten Speicher, wo Bügelmaschinen in einer Reihe standen. Sie waren außer Betrieb, aber in jeder von ihnen lag eine Schicht Stoff. Der Fußboden stand unter Wasser, und zwei Männer versuchten, das Ende eines langen Rohrs aufzuheben, das offenbar aus der Wand gebrochen war und quer über einem stillstehenden, mit Stoffabschnitten bedecktem Fließband lag. Das eine Ende des Rohrs steckte immer noch fest in der Wand, und die Männer versuchten, das andere vom Fließband hochzuheben, um es wieder in der Öffnung in der Wand zu verankern. Ein anderer Mann, ein Einwanderer, wartete auf einer Leiter, um es in Empfang zu nehmen. »Helfen Sie ihnen«, sagte Julia und begann Stoffstücke von dem nassen Fußboden aufzusammeln. »Wenn ich dafür meine Zeit vergeude, wird sich nichts ändern«, sagte Chip. »Das stört Sie nicht, aber mich.«

»Helfen Sie ihnen!«, sagte Julia. »Los! Wir unterhalten uns später. Durch Unverschämtheiten erreichen Sie gar nichts!«

Chip half den Männern, das Rohr wieder an der Wand zu befestigen, und dann ging er mit Julia auf einen Balkon an der Seite des Hauses. Im hellen Licht der Morgensonne lag ganz Neu-Madrid unter ihnen. Dahinter glänzte blaugrün ein Streifen Meer, auf dem die bunten Tupfen der Fischerboote tanzten.

»Jeden Tag ist es etwas anderes«, sagte Julia, während sie in die Tasche ihrer grauen Schürze griff. Sie zog Zigaretten hervor, bot Chip eine an und zündete sie mit gewöhnlichen, billigen Streichhölzern an.

Sie rauchten, und Chip sagte: »Der Tunnel existiert. Durch ihn wurden die Gedächtnisspeicher ins Innere gebracht.«

»Einige der Gruppen, mit denen ich nichts zu schaffen hatte, haben vielleicht davon gewusst«, sagte Julia.

»Können Sie das feststellen?«

Sie zog an ihrer Zigarette. Im Sonnenschein sah Julia älter aus. Gesicht und Hals waren von einem Netz von Falten überzogen. »Ich nehme es an. Woher wissen Sie davon?«

Er erzählte es ihr. »Ich bin sicher, dass der Tunnel nicht aufgefüllt ist«, sagte er. »Er muss fünfzehn Kilometer lang sein, und außerdem wird er wieder benutzt werden. Denn es ist noch Platz für weitere Speicher frei, die durch das Anwachsen der Familie notwendig werden.«

Sie sah ihn fragend an. »Ich dachte, die Kolonien hätten ihre eigenen Computer«, sagte sie.

»Haben sie auch«, sagte er. Erst verstand er nicht, was sie meinte, aber dann begriff er.

Nur in den Kolonien wuchs die Familie, auf der Erde dagegen, wo die Ehepaare – und nicht einmal alle – höchstens zwei Kinder zeugen durften, nahm sie nicht zu, sondern ab. Das hatte er außer Acht gelassen, wenn er darüber nachdachte, was Papa Jan über den Platz für zusätzliche Gedächtnisspeicher gesagt hatte. »Vielleicht werden sie für den Ausbau der Telekontrolle benötigt«, sagte er.

»Oder vielleicht war Ihr Großvater keine zuverlässige Informationsquelle«, sagte Julia.

»Er war es, der die Idee mit dem Tunnel hatte«, sagte Chip. »Ich weiß, dass der Tunnel existiert. Und er könnte eine Möglichkeit, die einzige Möglichkeit bieten, an Uni heranzukommen. Ich werde es versuchen, und ich möchte, dass Sie mir helfen, so gut Sie können.«

»Sie wollen mein Geld, meinen Sie.«

»Ja, und Ihre Hilfe. Um die richtigen Leute mit den richtigen Fähigkeiten zu finden und die notwendigen Informationen und die erforderliche Ausrüstung zu bekommen und Leute zu finden, die uns Kniffe beibringen, die wir nicht kennen. Ich will sehr langsam und vorsichtig vorgehen. Ich möchte nämlich zurückkommen.«

Aus schmalen Augen blickte sie ihm durch den Rauch ihrer Zigarette ins Gesicht. »Nun, Sie sind kein vollkommener Idiot«, sagte sie. »Was für eine Stellung hat Ashi Ihnen besorgt?«

»Als Geschirrspüler im Kasino.«

»Gott im Himmel!«, sagte sie. »Kommen Sie morgen um drei viertel acht hierher.«

»Im Kasino habe ich morgens frei«, sagte er.

»Kommen Sie hierher!«, sagte sie. »Sie werden die Zeit bekommen, die Sie brauchen.«

»Also gut«, sagte er und lächelte ihr zu. »Danke.«

Sie wandte sich ab, sah auf ihre Zigarette und drückte sie auf der Brüstung des Balkons aus. »Ich werde es nicht bezahlen«, sagte sie. »Nicht alles. Ich kann nicht. Sie haben keine Ahnung, wie kostspielig die Sache wird. Die Sprengkörper zum Beispiel: Das letzte Mal haben sie über zweitausend Dollar gekostet, und das war vor fünf Jahren. Gott weiß, wie teuer sie heute sind.« Sie blickte finster auf den Zigarettenstummel und warf ihn über die Brüstung. »Ich werde zahlen, so viel ich kann«, sagte sie, »und Sie mit Leuten zusammenbringen, die für den Rest aufkommen, wenn Sie Ihnen ordentlich um den Bart gehen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Chip. »Mehr könnte ich nicht verlangen. Vielen Dank.«

»Gott im Himmel, nun fange ich wieder damit an«, sagte Julia. Sie wandte sich Chip zu. »Warten Sie ab, Sie werden auch noch dahinterkommen: Je älter man wird, desto mehr bleibt man sich gleich. Ich bin ein Einzelkind, das gewöhnt ist, seinen Willen zu bekommen. Das ist mein Problem. Kommen Sie, die Arbeit wartet auf mich.«

Sie stiegen von dem Balkon über die Treppe nach unten. »Wirklich, ich habe alle möglichen edlen Motive dafür, dass ich meine Zeit und mein Geld an Leute wie Sie verschwende – ein christliches Bedürfnis, der Familie zu helfen; Liebe zu Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie –, aber die Wahrheit sieht ganz anders aus: Ich bin ein Einzelkind, das gewöhnt ist, seinen Willen zu bekommen. Es macht mich wahnsinnig, vollkommen wahnsinnig, dass ich nicht auf diesem Planeten gehen kann, wohin ich will, oder ihn verlassen, wenn ich Lust habe. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich diesen verdammten Computer hasse!«

Chip lachte. »O doch!«, sagte er. »Mir geht es ebenso.«

»Er ist ein Ungeheuer, das geradewegs aus der Hölle entsprungen ist«, sagte Julia.

Sie gingen um das Haus herum. »Er ist ein Ungeheuer, ja«, sagte Chip und warf seine Zigarette weg. »Zumindest in seinem jetzigen Zustand. Ich möchte unter anderem herausfinden, ob wir nicht, falls wir dazu Gelegenheit haben, seine Programmierung ändern könnten, anstatt ihn zu zerstören. Wenn die Familie ihn beherrschte und nicht umgekehrt, wäre er gar nicht so übel. Glauben Sie wirklich an Himmel und Hölle?« »Über Religion wollen wir nicht sprechen«, sagte Julia, »sonst landen Sie wieder im Kasino und spülen Geschirr. Wie viel bezahlen sie Ihnen?«

»Sechsfünfzig die Woche.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Ich gebe Ihnen dasselbe«, sagte Julia, »aber wenn Sie hier einer fragt, sagen Sie, Sie bekommen fünf.«

Er wartete, bis Julia eine Reihe von Leuten befragt hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass keiner, der zur Vernichtung Unis ausgezogen war, etwas von dem Tunnel gewusst hatte; und dann, in seinem Entschluss bestärkt, weihte er Lilac in seine Pläne ein.

»Das kannst du nicht tun!«, sagte sie. »Nicht nachdem alle die anderen gegangen sind!«

»Sie haben das falsche Ziel in Angriff genommen«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, griff sich an die Schläfen und sah ihn an. »Es ist – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich dachte, du – hättest alles überwunden. Ich dachte, wir seien zur Ruhe gekommen.« Verzweifelt streckte sie die Hände aus und wies auf das Zimmer, ihr Zimmer in Neu-Madrid, mit den Wänden, die sie gestrichen hatten, dem Bücherregal, das er gebastelt hatte, dem Bett, dem Kühlschrank, Ashis Skizze eines lachenden Kindes.

Chip sagte: »Schatz, ich bin vielleicht auf allen Inseln der einzige Mensch, der von dem Tunnel weiß und den echten Uni kennt. Ich muss dieses Wissen nutzen. Wie könnte ich es nicht tun?«

»Also gut, nutze es«, sagte sie. »Plane, hilf eine Expedition organisieren – schön! Ich werde dir dabei helfen! Aber warum musst du gehen? Das sollten andere tun, die keine Familie haben.«

»Ich werde hier sein, wenn das Baby geboren wird«, sagte er. »Bis dahin bin ich mit den Vorbereitungen noch nicht fertig. Und dann werde ich vielleicht – nur eine Woche weg sein.«

Sie starrte ihn an. »Wie kannst du das sagen?«, fragte sie. »Wie kannst du sagen, du – du könntest für immer gehen: Du könntest gefasst und behandelt werden!«

»Wir werden kämpfen lernen«, sagte er. »Wir werden Pistolen haben und –«

»Andere sollen gehen!«, sagte sie.

»Wie kann ich das von ihnen verlangen, wenn ich selbst nicht gehe?«

»Verlange es einfach von ihnen, verlange es!«

»Nein«, sagte er. »Ich muss auch gehen.«

»Du willst gehen, das ist es«, sagte sie. »Du musst nicht, du willst!«

Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Na schön, ich will es. Ja! Ich kann mir nicht vorstellen, nicht dabei zu sein, wenn Uni besiegt wird. Ich will die Sprengkörper selbst werfen oder den Zünder ziehen oder was auch immer – ich will den letzten Schritt selbst unternehmen.«

»Du bist krank«, sagte sie. Sie hob die Näharbeit in ihrem Schoß auf und griff nach der Nadel und begann zu nähen »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Deine Einstellung zu Uni ist krankhaft. Er hat uns nicht hierher gebracht. Wir haben Glück gehabt, dass wir nach hier entkommen sind. Ashi hat recht: Uni hätte uns auf die gleiche Weise wie die Leute mit zweiundsechzig getötet, er hätte nicht Menschen, Boote und Inseln dafür vergeudet. Wir sind ihm entkommen, er ist schon besiegt, und es ist krankhaft, dass du zurückgehen und ihn noch einmal besiegen willst«

»Er hat uns hierher gebracht«, sagte Chip, »weil die Programmierer die Tötung junger Menschen nicht rechtfertigen konnten.«

»Unsinn!«, sagte Lilac. »Sie haben ja auch einen plausiblen Grund dafür gefunden, dass alte Menschen umgebracht werden; ihnen wäre sogar etwas eingefallen, um den Mord an Säuglingen zu rechtfertigen. Wir sind davongekommen. Und nun gehst du zurück.«

»Was ist mit unseren Eltern?«, sagte er. »Sie werden in ein paar Jahren umgebracht. Was ist mit Snowflake und Sparrow – ja, mit der ganzen Familie?«

Sie nickte und stieß grimmig die Nadel in grünen Stoff – die Ärmel ihres grünen Kleides, aus denen sie ein Hemdchen für das Baby machte. »Andere sollten gehen«, sagte sie. »Männer ohne Familie.«

Später, im Bett, sagte er: »Wenn etwas schiefgehen sollte, wird Julia für dich und das Baby sorgen.«

»Das tröstet mich ungemein«, sagte sie. »Danke. Vielen herzlichen Dank, auch an Julia.«

Von dieser Nacht an stand eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen: Sie grollte, und er lehnte es ab, sich davon rühren zu lassen.