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Sie lebten in einer Stadt, die Pollensa hieß, und bewohnten die Hälfte eines Zimmers in einem rissigen, abbröckelnden Haus in der Stahling-Stadt. Der Strom fiel öfters aus, und das Wasser war braun. Sie hatten eine Matratze und einen Tisch und einen Stuhl und für ihre Kleider eine Kiste, die sie als zweiten Stuhl benutzten. Die Leute in der anderen Hälfte des Zimmers, die Newmans – ein Mann und eine Frau in den Vierzigern mit einer neunjährigen Tochter –, ließen sie ihren Herd und ihren »Fernseher« und ein Fach im Kühlschrank benutzen, wo sie ihre Nahrungsmittel aufbewahrten. Das Zimmer gehörte den Newmans; Chip und Lilac bezahlten pro Woche vier Dollar für ihre Hälfte.

Sie verdienten zusammen neun Dollar und zwanzig Cents in der Woche. Chip arbeitete in einem Eisenbergwerk. Dort lud er, zusammen mit anderen Einwanderern, neben einem stillstehenden, verstaubten, nicht zu reparierenden Auflader, Erz in Karren.

Lilac arbeitete in einer Kleiderfabrik, wo sie Aufhänger in Hemden nähte. Auch dort stand, von Fusseln verstopft, eine Maschine, die außer Betrieb war.

Ihre neun Dollar und zwanzig Cents reichten jede Woche für Miete und Essen und Fahrgeld, für ein paar Zigaretten und eine Zeitung, die Der Einwanderer auf der Freiheits-Insel hieß. Sie sparten fünfzig Cents für Kleidung und für eventuelle Notfälle, und fünfzig Cents gaben sie der Einwanderer-Hilfe, um nach und nach das Fünfundzwanzig-Dollar-Darlehen, das sie bei ihrer Ankunft erhalten hatten, abzuzahlen. Sie aßen Brot und Fisch und Kartoffeln und Feigen. Zuerst bekamen sie davon Magenkrämpfe und Verstopfung, aber bald waren sie so weit, dass sie diese Nahrungsmittel mochten und die Vielfalt ihres Geschmacks und ihrer Beschaffenheit genossen. Sie freuten sich auf die Mahlzeiten, obgleich ihre Zubereitung und das Abwaschen hinterher lästig waren.

Ihre Körper veränderten sich. Lilac blutete an ein paar Tagen, was, wie die Newmans ihnen versicherten, bei einer unbehandelten Frau natürlich war, und ihre Formen wurden runder und geschmeidiger, während ihr Haar länger wuchs. Chip wurde durch die Arbeit im Bergwerk stärker und muskulöser. Ein schwarzer, glatter Bart, den er einmal in der Woche mit der Schere der Newmans schnitt, wuchs ihm.

Ein Beamter im Amt für Einwanderer hatte ihnen Namen gegeben. Chip hieß nun Eiko Newmark und Lilac Grace Newbridge. Später, als sie heirateten – ohne Gesuch an Uni, aber mit Formularen und einer Gebühr und Gelübden zu »Gott« – wurde Lilacs Name in Grace Newmark geändert. Dennoch nannten sie einander immer noch Chip und Lilac.

Sie gewöhnten sich an den Umgang mit Geld und Ladenbesitzern und an die Fahrten mit der heruntergekommenen, überfüllten Einschienenbahn von Pollensa. Sie lernten, vor den Einheimischen zur Seite zu treten und sie nicht zu beleidigen; sie lernten den Treueschwur und grüßten die rot-gelbe Flagge der Freiheits-Insel. Sie klopften an Türen, bevor sie sie aufmachten, sagten Mittwoch statt Woodstag und März statt Marx.

Hassan Newman trank sehr viel Schnaps. Bald nachdem er von der Arbeit – in der größten Möbelfabrik der Insel – heimkam, spielte er lärmend mit Gigi, seiner Tochter, und tapste durch den Vorhang, der den Raum aufteilte. Dann stand er vor ihnen, umklammerte mit den drei Fingern, die ihm die Sägemaschine noch übrig gelassen hatte, die Flasche und rief: »Na kommt, ihr traurigen Stahlinge, wo, zum Hass, sind eure Gläser? Los, nehmt einen zur Brust.« Chip und Lilac tranken ein paarmal mit ihm, aber sie stellten fest, dass der Schnaps sie benommen und schwerfällig machte, und lehnten seine Einladung meistens ab. »Na, was ist«, sagte er eines Abends, »ich weiß, ich bin der Vermieter, aber ich bin doch nicht gerade ein Lunki, oder? Also, wo fehlt’s? Meint ihr, ich erwarte, dass ihr euch rewann – revanchiert? Ich weiß doch, dass ihr eure Groschen zusammenhaltet.«

»Darum geht es nicht«, sagte Chip. »Um was dann?«, fragte Hassan. Er schwankte und richtete sich wieder gerade auf.

Chip schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Was hat es denn für einen Sinn, vor den Behandlungen davonzulaufen, wenn man sich mit Schnaps betäubt? Dann könnte man gleich wieder bei der Familie sein.«

»Aha«, sagte Hassan, »aha, ich verstehe.« Er sah sie wütend an, ein wuchtiger, krausbärtiger Mann mit blutunterlaufenen Augen. »Wartet nur ab«, sagte er. »Wartet, bis ihr ein bisschen länger hier seid, mehr braucht’s nicht.« Er drehte sich um und bahnte sich seinen Weg durch den Vorhang, und sie hörten, wie er brummelte und Ria, seine Frau, beruhigend auf ihn einredete.

Anscheinend tranken fast alle im Haus ebenso viel Schnaps wie Hassan. Laute Stimmen, glückliche oder wütende, drangen zu jeder Stunde der Nacht durch die Wände. Der Aufzug und die Flure rochen nach Schnaps und Fisch und nach süßem Parfüm, das die Leute gegen den Schnaps- und Fischgeruch benutzten.

Abends gingen Chip und Lilac, wenn sie die nötigen Putzarbeiten verrichtet hatten, meistens auf das Dach, um frische Luft zu schnappen, oder sie saßen am Tisch und lasen den Einwanderer oder Bücher, die sie in der Einschienenbahn gefunden oder aus einer kleinen Bibliothek in der Einwanderer-Hilfe entliehen hatten. Manchmal gingen sie zum Fernsehen zu den Newmans und sahen Stücke, die von läppischen Missverständnissen in Einheimischen-Familien handelten und häufig durch Werbesprüche für verschiedene Sorten Zigaretten und Desinfektionsmittel unterbrochen wurden. Gelegentlich wurden Reden von General Costanza oder Papst Clemens, dem Oberhaupt der Kirche, übertragen – beunruhigende Reden über den Mangel an Nahrung und Raum und Naturschätzen, an dem nicht allein die Einwanderer schuldig waren. Hassan, durch den Schnaps in Angriffsstimmung versetzt, schaltete meist ab, bevor die Reden zu Ende waren, denn das Freiheits-Fernsehen konnte, im Gegensatz zum Fernsehen der Familie, nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden.

Eines Tages ging Chip gegen Ende der fünfzehn Minuten Mittagspause zu dem automatischen Auflader und begann ihn zu untersuchen. Er wollte herausfinden, ob die Maschine wirklich nicht zu reparieren war oder ob man nicht ein Teil, für das es keinen Ersatz gab, weglassen oder auswechseln konnte. Der Einheimische, der die Kolonne beaufsichtigte, kam herüber und fragte ihn, was er tue. Chip sagte es ihm; er bemühte sich dabei um einen besonders respektvollen Ton, aber der Einheimische wurde wütend. »Ihr Hurenböcke von Stahlingen denkt alle, ihr wärt so gottverdammt schlau!«, sagte er und legte die Hand auf den Kolben seines Gewehrs. »Geh auf deinen Platz und bleib, wo du hingehörst! Wenn du dir unbedingt den Kopf zerbrechen musst, dann überleg dir, wie du mit weniger Fressen auskommst!«

Nicht alle Einheimischen waren ganz so schlimm. Ihr Hausbesitzer fasste eine Zuneigung zu Chip und Lilac und versprach ihnen ein Zimmer für fünf Dollar pro Woche, sobald eines frei würde. »Ihr seid nicht wie manche von den anderen«, sagte er. »Die saufen und laufen splitternackt im Flur herum – da nehme ich lieber jemand wie euch und habe ein paar Cents weniger.«

Chip sah ihn an und sagte: »Dass Einwanderer trinken, hat seine Gründe, wissen Sie.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Besitzer. »Ich bin der Erste, der es zugibt. Es ist schrecklich, wie sie euch behandeln. Aber trotz allem – sauft ihr? Lauft ihr splitternackt herum?«

Lilac sagte: »Danke, Mr. Corsham. Wir wären Ihnen dankbar, wenn sie uns ein Zimmer geben könnten.«

Sie bekamen »Erkältungen« und »die Grippe«. Lilac verlor ihre Stellung in der Kleiderfabrik, aber sie fand eine bessere in der Küche eines Einheimischen-Restaurants, nur ein paar Gehminuten entfernt. Eines Abends kamen zwei Polizisten in das Zimmer, kontrollierten die Kennkarten und suchten nach Waffen. Hassan brummte etwas, als er seine Karte vorzeigte, und sie knüppelten ihn zu Boden. Sie stachen mit Messern in die Matratzen und zerschlugen Geschirr.

Lilacs »Periode« – die Tage, an denen sie jeden Monat aus der Scheide blutete – blieb aus, und das bedeutete, dass sie schwanger war.

Eines Nachts stand Chip rauchend auf dem Dach und schaute zum Himmel, wo im Nordosten ein fahles, orangerotes Licht über der Kupferproduktionsanlage auf EUR 91 766 zu sehen war. Lilac, die gewaschene Kleidungstücke von einer Leine nahm, auf die sie sie zum Trocknen aufgehängt hatte, kam zu ihm herüber und legte den Arm um ihn. Sie küsste ihn auf die Wange und schmiegte sich an ihn. »Es ist gar nicht so schlimm«, sagte sie. »Wir haben zwölf Dollar gespart, wir bekommen demnächst ein eigenes Zimmer, und ehe du dich’s versiehst, werden wir ein Baby haben.«

»Einen Stahling«, sagte Chip.

»Nein«, sagte Lilac, »ein Baby.«

»Hier stinkt alles«, sagte Chip. »Alles ist verdorben und unmenschlich.«

»Etwas anderes gibt es nicht«, sagte Lilac. »Es ist besser, wir gewöhnen uns daran.«

Chip sagte nichts. Er blickte immer noch auf das orangerote Leuchten am Himmel.

Der Einwanderer brachte jede Woche Artikel über eingewanderte Sänger und Sportler, gelegentlich auch Wissenschaftler, die vierzig oder fünfzig Dollar in der Woche verdienten, in schönen Wohnungen lebten, mit einflussreichen, vorurteilslosen Einheimischen verkehrten und die Aussichten auf die Entwicklung von ausgeglicheneren Beziehungen zwischen den beiden Gruppen optimistisch beurteilten. Chip las diese Artikel grollend – er dachte, durch sie wollten die einheimischen Zeitungsbesitzer die Einwanderer beschwichtigen und versöhnen –, aber Lilac nahm sie für bare Münze und als Zeichen dafür, dass auch ihr Los sich eines Tages bessern werde.

In einer Woche im Oktober, als sie etwas über sechs Monate auf der Freiheits-Insel lebten, erschien ein Artikel über einen Künstler namens Morgan Newgate, der vor acht Jahren aus EUR gekommen war und in einer Vier-Zimmer-Wohnung in Neu-Madrid lebte. Jedes seiner Gemälde, von denen eines, eine Kreuzigungs-Szene, gerade Papst Clemens als Geschenk überreicht worden war, brachte ihm hundert Dollar ein. Er signierte sie mit einem A, wie in dem Artikel erklärt wurde, weil sein Spitzname Ashi war.

»Christus und Wei«, sagte Chip.

»Was hast du denn?«, fragte Lilac.

»Ich war mit diesem ›Morgan Newgate‹ auf der Akademie«, sagte Chip und zeigte ihr den Artikel. »Wir waren gute Freunde. Sein Name war Karl. Du erinnerst dich doch an das Pferdebild, das ich damals in Ind hatte?«

»Nein«, sagte sie und las weiter.

»Also, das hat er gezeichnet«, sagte Chip. »Er pflegte alles mit einem A in einem Kreis zu signieren.« Und »Ashi« klang wie der Name, den Karl erwähnt hatte, dachte er. Christus und Wei – auch er war zur Freiheits-Insel, in Unis Isolierstation, entkommen, wenn man es entkommen nennen konnte. Wenigstens tat er, was er sich immer gewünscht hatte. Für ihn war die Freiheits-Insel die Freiheit.

»Du solltest ihn anrufen«, sagte Lilac, immer noch in den Artikel vertieft.

»Das werde ich tun«, sagte Chip.

Aber vielleicht würde er es auch nicht tun. Hätte es einen Sinn, »Morgan Newgate« anzurufen, der Kreuzigungen für den Papst malte und seinen Miteinwanderern versicherte, dass sich die Verhältnisse täglich besserten? Aber vielleicht hatte Karl das gar nicht gesagt, vielleicht hatte der Einwanderer gelogen.

»Sag es nicht nur so dahin«, sagte Lilac. »Wahrscheinlich könnte er dir zu einer besseren Stellung verhelfen.«

»Ja«, sagte Chip, »wahrscheinlich.«

Sie sah ihn an. »Was ist los?«, fragte sie. »Willst du keine bessere Stellung?«

»Ich werde ihn morgen anrufen, auf dem Weg zur Arbeit«, sagte er. Aber er rief nicht an. Er holte mit der Schaufel aus, hob Erz hoch und keuchte, holte aus, hob, keuchte. Nieder mit allen, dachte er, mit den Stahlingen, die saufen, den Stahlingen, die glauben, dass alles besser wird, den Lunkis, den Blödianen und Uni.

Am Sonntag danach ging Lilac mit ihm zwei Blocks weiter zu einem Haus, wo ein funktionierendes Telefon in der Eingangshalle stand, und sie wartete, während er in dem abgegriffenen Telefonbuch blätterte. Morgan und Newgate waren Namen, die Einwanderer häufig bekamen, aber nur wenige Einwanderer hatten Telefon. Nur ein Newgate, Morgan war aufgeführt, und der wohnte in Neu-Madrid.

Chip steckte drei Marken in das Telefon und sagte die Nummer. Der Bildschirm war zerbrochen, aber das spielte keine Rolle, denn die Telefone auf der Freiheits-Insel übermittelten ohnehin keine Bilder mehr. Eine Frau meldete sich, und als Chip fragte, ob Morgan Newgate da sei, sagte sie ja und dann nichts mehr. Die Stille hielt an, und Lilac, die ein paar Meter weiter neben einem Sani-Spray-Plakat wartete, kam näher. »Ist er nicht zu Hause?«, flüsterte sie. »Hallo?«, sagte eine Männerstimme.

»Spreche ich mit Morgan Newgate?«, fragte Chip.

»Ja. Wer ist da?«

»Chip«, sagte Chip. »Li RM, von der Akademie für Genetische Wissenschaft.«

Schweigen herrschte, und dann sagte die Stimme: »Mein Gott! Li! Du hast mir Skizzenblöcke und Kohlestifte besorgt!«

»Ja«, sagte Chip, »und ich habe meinem Berater erzählt, du seist krank und brauchtest Hilfe.«

Karl lachte. »Stimmt, das hast du getan, du Hund!«, sagte er. »Das ist toll! Wann bist du herübergekommen?«

»Vor ungefähr sechs Monaten«, sagte Chip.

»Bist du in Neu-Madrid?«

»Pollensa.«

»Was machst du?«

»Ich arbeite in einem Bergwerk«, sagte Chip.

»Christus, das ist ja Wahnsinn!«, sagte Karl, und nach kurzer Pause: »Es ist die Hölle, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Chip und dachte: »Er benutzt sogar ihre Ausdrücke. Hölle! Mein Gott, ich wette, er betet auch.«

»Wenn nur diese Telefone richtig funktionierten, dass ich dich sehen könnte«, sagte Karl.

Plötzlich schämte Chip sich seiner Feindseligkeit. Er erzählte Karl von Lilac und ihrer Schwangerschaft, und Karl erzählte ihm, dass er in der Familie geheiratet hatte, aber allein herübergekommen war. Er ließ nicht zu, dass Chip ihm zu seinem Erfolg gratulierte. »Das Zeug, das ich verkaufe, ist fürchterlich«, sagte er. »Süße kleine Lunki-Kinder. Aber ich schaffe es, drei Tage in der Woche für mich selbst zu arbeiten, also kann ich mich nicht beklagen. Hör zu, Li, nein, wie war es gleich – Chip? Chip, hör zu, wir müssen uns treffen. Ich habe ein Motorrad. Ich werde einmal abends hinüberfahren. Nein, warte«, sagte er, »habt ihr für nächsten Sonntag etwas vor, du und deine Frau?«

Lilac sah Chip ängstlich an. Er sagte: »Ich glaube nicht. Ich bin nicht sicher.« »Ich habe ein paar Freunde bei mir«, sagte Karl. »Ihr kommt, ja? Um sechs etwa.«

Lilac nickte, und Chip sagte: »Wir werden’s versuchen. Wahrscheinlich schaffen wir’s.«

»Seht zu, dass ihr kommen könnt«, sagte Karl. Er gab Chip seine Adresse. »Ich freue mich, dass du herübergekommen bist«, sagte er. »Es ist trotz allem besser als dort, nicht wahr?«

»Ein bisschen«, sagte Chip.

»Ich erwarte euch nächsten Sonntag«, sagte Karl. »Bis dann, Bruder.« »Bis dann«, sagte Chip und drückte die Taste, um das Gespräch zu beenden.

Lilac sagte: »Wir gehen hin, nicht wahr?«

»Hast du eine Ahnung, was die Bahnfahrt kostet?«, fragte Chip.

»Oh, Chip ...«

»Also gut«, sagte er. »Also gut, wir gehen. Aber ich nehme keine Hilfe von ihm an. Und du wirst nicht darum bitten. Merk dir das!«

In dieser Woche arbeitete Lilac jeden Abend an den besten Stücken ihrer Garderobe, schnitt die ausgefransten Ärmel eines grünen Kleides ab und stopfte ein Hosenbein noch einmal, sodass die Flickstelle weniger auffiel.

Das Haus direkt am Rand der Stahling-Stadt von Neu-Madrid war in keinem schlechteren Zustand als viele der Einheimischen-Häuser. Die Eingangshalle war gebohnert und roch nur leicht nach Schnaps und Fisch und Parfüm, und der Aufzug funktionierte einwandfrei.

Ein Druckknopf war auf neuem Verputz neben Karls Tür angebracht: eine Klingel. Chip drückte sie. Er stand steif, und Lilac hielt seinen Arm. »Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme.

»Chip Newmark«, sagte Chip.

Die Tür wurde aufgeschlossen und geöffnet, und Karl – ein fünfunddreißigjähriger, bärtiger Karl mit den scharfen Augen des Karls von einst – grinste und ergriff Chips Hand und sagte: »Li! Ich habe schon gedacht, ihr würdet nicht kommen!«

»Wir sind ein paar lieben Lunkis in die Hände gelaufen«, sagte Chip. »Oh, Christus«, sagte Karl und ließ sie eintreten.

Er verriegelte die Tür, und Chip stellte Lilac vor. Sie sagte: »Guten Tag, Mr. Newgate«, und Karl, der ihre ausgestreckte Hand nahm und Lilac ins Gesicht sah, sagte: »Ashi heiße ich. Grüß dich, Lilac.«

»Grüß dich, Ashi«, sagte sie.

Zu Chip sagte Karl: »Haben sie euch verletzt?«

»Nein«, sagte Chip. »Nur ›sprecht den Schwur‹ und solchen Käse.«

»Gemeine Hunde«, sagte Karl. »Kommt herein, ich gebe euch etwas zu trinken, und ihr vergesst es.« Er nahm sie beim Ellbogen und führte sie in einen schmalen Durchgang, dessen Wände ganz mit Gemälden bedeckt waren, Rahmen an Rahmen. »Du siehst fabelhaft aus, Chip«, sagte er.

»Du auch, Ashi«, sagte Chip.

Sie lächelten sich an.

»Siebzehn Jahre, Bruder«, sagte Karl-Ashi.

Zehn oder zwölf Männer und Frauen saßen in einem verräucherten Raum mit braunen Wänden, redeten und hielten Zigaretten und Gläser in der Hand. Sie unterbrachen ihre Gespräche und drehten sich erwartungsvoll um.

»Das ist Chip und das ist Lilac«, sagte Karl. »Chip und ich waren zusammen auf der Akademie; die zwei schlechtesten Genetik-Studenten der ganzen Familie.«

Die Männer und Frauen lächelten, und Karl begann der Reihe nach auf sie zu zeigen und ihre Namen zu nennen. »Vito, Sunny, Ria, Lars ...« Die meisten von ihnen waren Einwanderer, bärtige Männer und langhaarige Frauen mit den Augen und der Hautfarbe der Familie. Zwei waren Einheimische: eine blasse, aufrechte, etwa fünfzigjährige Frau mit Schnabelnase und einem goldenen Kreuz auf ihrem schwarzen, leer wirkenden Kleid (»Julia«, sagte Karl, und sie lächelte mit geschlossenen Lippen), und eine rothaarige, übergewichtige, jüngere Frau in einem engen Kleid mit silbernen Biesen. Ein paar von den Leuten hätten Einwanderer oder Einheimische sein können: ein grauäugiger, bartloser Mann namens Bob, eine blonde Frau, ein junger, blauäugiger Mann.

»Whisky oder Wein?«, fragte Karl.

»Wein, bitte«, sagte Lilac.

Sie folgten ihm zu einem kleinen Tisch, auf dem Flaschen und Gläser standen, Teller mit einer oder zwei Scheiben Käse oder Fleisch und Zigarettenpackungen und Streichhölzer. Ein Souvenir-Briefbeschwerer stand auf einem Stapel Servietten. Chip hob ihn auf und schaute ihn an. Er stammte aus AUS 21 989.

»Bekommst du Heimweh?«, fragte Karl, während er Wein einschenkte. Chip zeigte Lilac den Briefbeschwerer, und sie lächelte. »Kaum«, sagte er und legte den Gegenstand weg.

»Chip?«

»Whisky.«

Die rothaarige Einheimische in dem silbrigen Kleid kam lächelnd und mit einem leeren Glas in der beringten Hand zu ihnen herüber. Zu Lilac sagte sie: »Sie sind sehr schön, wirklich«, und zu Chip: »Ich finde, ihr Leute seid alle schön. Die Familie mag vielleicht keine Freiheit haben, aber was die äußere Erscheinung angeht, ist sie uns weit voraus. Ich würde alles darum geben, schlank zu sein und bräunliche Haut und Schlitzaugen zu haben.« Sie sprach weiter – über die vernünftige Einstellung der Familie zu Sex –, und plötzlich stand Chip mit einem Glas in der Hand da, und Karl und Lilac sprachen mit anderen Leuten und die Frau mit ihm. Ihre braunen Augen waren mit schwarzen Strichen umrandet und verlängert. »Ihr Leute seid so viel offener als wir«, sagte sie. »In sexuellen Dingen, meine ich. Ihr genießt sie mehr.«

Eine Einwanderer-Frau kam herüber und sagte: »Kommt Heinz nicht, Marge?«

»Er ist in Palama«, sagte die Frau, indem sie sich umdrehte. »Ein Flügel des Hotels ist eingestürzt.«

Würden Sie mich bitte entschuldigen«, sagte Chip und schlich sich davon. Er ging zum anderen Ende des Raumes, nickte den Leuten zu, die dort saßen, und trank etwas von seinem Whisky, betrachtete ein Bild an der Wand – braune und rote Flächen auf weißem Hintergrund. Der Whisky schmeckte besser als Hassans Schnaps. Er war nicht so bitter und scharf und trank sich angenehmer. Das Bild mit seinen braunen und roten Flächen war eine einfache Zeichnung, im Moment interessant anzusehen, aber ohne Bezug auf das Leben. Karls (nein, Ashis) A-in-einem-Kreis stand in einer der unteren Ecken. Chip überlegte, ob dies eines der schlechten Bilder war, die Ashi verkaufte, oder ob es, da es hier in seinem Wohnzimmer hing, zu seinen »eigenen Arbeiten« zählte, von denen er mit Befriedigung gesprochen hatte. Schuf er nicht mehr die herrlichen Männer und Frauen ohne Armband, die er einst auf der Akademie gezeichnet hatte?

Er trank ein wenig mehr von dem Whisky und wandte sich den Leuten zu, die neben ihm saßen: drei Männer und eine Frau, lauter Einwanderer. Sie sprachen über Möbel. Er hörte ein paar Minuten zu, während er trank, und ging weiter.

Lilac saß neben der Einheimischen mit der Schnabelnase – Julia. Sie rauchten und redeten, oder vielmehr Julia redete, und Lilac hörte zu. Er ging zu dem Tisch und goss Whisky in sein Glas. Er zündete eine Zigarette an.

Ein Mann namens Lars stellte sich vor. Er leitete eine Schule für Einwanderer-Kinder hier in Neu-Madrid. Er war als Kind auf die Freiheits-Insel gebracht worden und lebte seit zweiundvierzig Jahren hier. Ashi kam, Lilac an der Hand haltend. »Komm, Chip, sieh dir mein Atelier an«, sagte er.

Er führte sie aus dem Raum in den Korridor mit den Gemälden. »Weißt du, mit wem du gesprochen hast?«, fragte er Lilac.

»Julia?«

»Julia Costanza«, sagte er. »Sie ist die Cousine des Generals. Kann ihn nicht ausstehen. Sie hat die Einwanderer-Hilfe mitgegründet.«

Sein Atelier war geräumig und strahlend hell erleuchtet. Ein halb fertiges Gemälde einer Einheimischen mit einem Kätzchen im Arm stand auf einer Staffelei, auf einer anderen eine Leinwand mit blauen und grünen Flächen. An den Wänden lehnten weitere Bilder: Flächen in Braun und Orange, Blau und Purpur, Purpur und Schwarz, Orange und Rot.

Er erklärte, was er zu erreichen versuchte, wies auf Gleichgewichte hin, erläuterte die Flächenaufteilung und wog feine Farbabstufungen gegeneinander ab.

Chip sah weg und trank seinen Whisky.

»Hört zu, ihr Stahlinge«, sagte er, laut genug, dass alle ihn hören konnten. »Redet einmal eine Minute nicht über Möbel und hört zu! Wisst ihr, was wir tun müssen? Uni bekämpfen! Ich bin nicht verrückt, ich meine es ernst! Weil Uni – an allem schuld ist! An dem Zustand, in dem sich die Lunkis befinden, weil sie nicht genug Nahrung und Lebensraum und keine Verbindung zu einer Welt außerhalb ihrer eigenen haben; an der Art, wie die Blödiane leben, weil sie mit LPK und Beruhigungsmitteln betäubt werden; und an unserem Elend, weil Uni uns hierher gebracht hat, um uns loszuwerden! Uni ist schuld, er hat die Welt eingefroren, sodass keine Veränderung mehr möglich ist – und wir müssen ihn bekämpfen! Wir müssen uns von unseren blöden, verprügelten Hinterteilen erheben und IHN BEKÄMPFEN!«

Ashi tätschelte ihm lächelnd die Wange. »He, Bruder«, sagte er, »du hast ein bisschen über den Durst getrunken, weißt du das? He, Chip, hörst du mich?«

Natürlich hatte er zu viel getrunken, natürlich, natürlich, natürlich. Aber der Alkohol hatte ihn nicht betäubt, sondern befreit. Er hatte alles, was seit vielen Monaten in ihm verschlossen gewesen war, an die Oberfläche gebracht. Whisky war gut! Whisky war herrlich!

Er griff nach Ashis tätschelnder Hand und hielt sie fest. »Ich bin ganz klar, Ashi«, sagte er. »Ich weiß, wovon ich spreche.« Zu den anderen, die lächelnd und schwatzend herumsaßen, sagte er: »Wir können nicht einfach aufgeben und alles hinnehmen und uns in dieses Gefängnis einfügen! Ashi, du hast Mitglieder ohne Armbänder gezeichnet, und sie waren so wunderschön! Und jetzt malst du Farbe auf die Leinwand, Farbflächen!«

Ashi auf der einen Seite und Lilac auf der anderen versuchten, ihn zum Hinsetzen zu bewegen. Lilac sah ängstlich und verlegen aus.

»Du auch, Geliebte«, sagte er. »Du nimmst alles hin und fügst dich ein.« Er ließ sich von ihnen auf einen Stuhl setzen, weil das Stehen nicht leicht gewesen war und er sich im Sitzen besser und bequemer fühlte. »Wir dürfen uns nicht fügen, wir müssen kämpfen«, sagte er. »Kämpfen, kämpfen, kämpfen«, sagte er zu dem grauäugigen, bartlosen Mann, der neben ihm saß.

»Du hast, bei Gott, recht!«, sagte der Mann. »Ich bin ganz deiner Ansicht! Kampf Uni! Was sollen wir tun? In Booten hinüberfahren und zur Sicherheit die Armee mitnehmen? Aber vielleicht wird das Meer durch Satelliten überwacht, und Ärzte erwarten uns seit Wochen mit LPK. Ich habe eine bessere Idee: Wir nehmen ein Flugzeug – ich habe gehört, es gibt auf der Insel eines, das tatsächlich fliegt – und wir –« »Du darfst ihn nicht aufziehen, Bob«, sagte jemand. »Er ist gerade erst herübergekommen.«

»Das merkt man«, sagte der Mann und stand auf.

»Es gibt einen Weg«, sagte Chip. »Es muss einen geben. Es gibt einen Weg.« Er dachte über das Meer und die Insel in seiner Mitte nach, aber er konnte nicht so klar denken, wie er gewollt hätte. Lilac saß auf dem Stuhl des Mannes und nahm seine Hand. »Wir müssen kämpfen!«, sagte er zu ihr.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie und blickte ihn traurig an.

Ashi kam und hielt eine warme Tasse an seine Lippe. »Es ist Kaffee«, sagte er. »Trink ihn.« Der Kaffee war sehr heiß und stark. Chip nahm einen Schluck, dann schob er die Tasse weg. »Das Kupferwerk«, sagte er. »Auf ’91 766. Das Kupfer muss an Land gebracht werden. Es muss Schiffe oder Lastkähne geben. Wir könnten –«

»Das ist schon geschehen«, sagte Ashi.

Chip sah ihn an. Er dachte, Ashi wolle ihn beschwindeln oder irgendwie lächerlich machen, wie der grauäugige, bartlose Mann.

»Alles, was du sagst«, sagte Ashi, »und was du denkst – ›Kampf Uni‹! – wurde bereits gesagt und gedacht. Und ausprobiert. Ein Dutzend Mal.« Er hielt Chip die Tasse an den Mund. »Trink noch ein wenig«, sagte er. Chip schob die Tasse weg, starrte Ashi an und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr«, sagte er.

»Doch, Bruder. Komm, nimm einen –«

»Nein, es ist nicht wahr«, sagte er.

»Doch!«, sagte eine Frau in einer anderen Ecke des Raums. »Es ist wahr!«

Julia. Es war Julia. Generals-Cousine Julia, aufrecht und allein in ihrem schwarzen Kleid mit ihrem kleinen goldenen Kreuz.

»Alle fünf oder sechs Jahre«, sagte sie, »zieht eine Gruppe von Leuten wie Sie – manchmal nur zwei oder drei, manchmal bis zu zehn – aus, um UniComp zu zerstören. Sie fahren in Schiffen, in Unterseebooten, die sie in jahrelanger Arbeit bauen; sie entern die Lastkähne, die Sie eben erwähnten. Sie nehmen Pistolen, Sprengstoff, Gasmasken und selbsterfundene Waffen mit und haben Pläne, von deren Gelingen sie fest überzeugt sind. Sie kommen nie zurück. Ich habe die beiden letzten Expeditionen finanziert, und ich unterstütze die Familien der Männer, die mitgefahren sind, also spreche ich aus Erfahrung. Ich hoffe, Sie sind nüchtern genug, um mich zu verstehen und sich unnötige Qualen zu ersparen. Anpassung und Einordnung sind das einzig Mögliche. Seien Sie dankbar für das, was Sie haben: eine reizende Frau, bald ein Kind und ein gewisses Maß an Freiheit, das hoffentlich mit der Zeit größer wird. Ich könnte vielleicht noch hinzufügen, dass ich unter gar keinen Umständen eine weitere derartige Expedition finanzieren werde. Ich bin nicht so reich, wie gewisse Leute glauben.«

Chip sah sie an. Sie erwiderte seinen Blick aus ihren kleinen, schwarzen Augen über der bleichen Schnabelnase.

»Sie kehren nie zurück, Chip«, sagte Ashi. »Vielleicht kommen sie an Land, nach ’001. Vielleicht gelangen sie sogar in den Dom, aber nicht weiter, denn sie sind verschwunden, alle miteinander. Und Uni ist immer noch in Betrieb.«

Chip sah Julia an. Sie sagte: »Männer und Frauen genau wie Sie. So weit ich zurückdenken kann.«

Er sah Lilac an, die seine Hand hielt. Sie blickte ihn voll Mitgefühl an und drückte seine Hand fester.

Er sah Ashi an, der ihm die Kaffeetasse entgegen hielt.

Er schob die Tasse zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, ich will keinen Kaffee«, sagte er.

Er blieb reglos sitzen, spürte plötzlich Schweiß auf der Stirn, und dann beugte er sich vor und begann sich zu erbrechen.

Er war im Bett, und Lilac lag schlafend neben ihm. Hassan schnarchte hinter dem Vorhang. Chip spürte einen säuerlichen Geschmack im Mund, und es fiel ihm ein, dass er sich übergeben hatte. Christus und Wei! Auf einen Teppich – den ersten, den er seit einem halben Jahr gesehen hatte.

Dann erinnerte er sich, was diese Frau, Julia, und Karl Ashi zu ihm gesagt hatten.

Er lag eine Weile still, dann stand er auf und ging auf Zehenspitzen um den Vorhang herum und an den schlafenden Newmans vorbei zum Waschbecken. Er trank Wasser, und weil er nicht ganz bis in die Eingangshalle hinuntergehen wollte, urinierte er in das Waschbecken und spülte es sorgfältig aus.

Er legte sich wieder neben Lilac und zog die Decke über sich. Er fühlte sich wieder leicht betrunken, und sein Kopf schmerzte, aber er legte sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken und atmete schwach und langsam, und nach einer Weile fühlte er sich besser.

Er hielt die Augen geschlossen und dachte nach.

Nach einer halben Stunde etwa klingelte Hassans Wecker. Lilac drehte sich um. Er streichelte ihren Kopf, und sie setzte sich auf. »Geht es dir wieder gut?«, fragte sie.

»Ja, so einigermaßen«, sagte er.

Das Licht ging an, und sie zuckten zusammen. Sie hörten, wie Hassan grunzte und beim Aufstehen gähnte und furzte. »Steh auf, Ria«, sagte er. »Gigi? Es ist Zeit zum Aufstehen.«

Chip blieb auf dem Rücken liegen, die Hand auf Lilacs Wange. »Es tut mit leid, Liebling«, sagte er. »Ich werde ihn heute anrufen und mich entschuldigen.«

Sie nahm seine Hand und berührte sie mit den Lippen. »Du konntest nichts dafür«, sagte sie. »Er hat es verstanden.«

»Ich werde ihn bitten, mir zu einer besseren Stellung zu verhelfen«, sagte Chip.

Lilac sah ihn fragend an.

»Es ist alles aus mir heraus«, sagte er, »wie der Whisky. Alles weg! Ich werde ein arbeitsamer, optimistischer Stahling sein. Ich werde mich einfügen und anpassen, und eines Tages werden wir eine größere Wohnung haben als Ashi.«

»Das will ich nicht«, sagte sie. »Aber zwei Zimmer hätte ich liebend gern.«

»Wir werden sie haben«, sagte er. »In zwei Jahren. Zwei Zimmer in zwei Jahren, das ist ein Versprechen.«

Sie lächelte ihm zu.

Er sagte: »Ich finde, es wäre eine gute Idee, nach Neu-Madrid zu ziehen, wo unsere reichen Freunde sind. Dieser Lars leitet eine Schule, wusstest du das? Vielleicht könntest du dort unterrichten, und das Baby könnte sie besuchen, wenn es alt genug ist.«

»Was könnte ich lehren?«, fragte sie.

»Irgendetwas«, sagte er. »Ich weiß nicht.« Er ließ die Hand nach unten gleiten und streichelte ihre Brüste. »Vielleicht, wie man schöne Brüste bekommt«, sagte er.

Lächelnd sagte sie: »Wir müssen uns anziehen.«

»Lassen wir doch das Frühstück ausfallen«, sagte er und zog sie nieder. Er wälzte sich auf sie, und sie umarmten und küssten sich.

»Lilac«, rief Ria. »Wie war’s?«

Lilac befreite ihren Mund. »Erzähl ich dir später!«, rief sie.

Während er durch den Tunnel in das Bergwerk hinunterschritt, fiel ihm der Tunnel im Inneren von Uni ein, Papa Jans Tunnel, durch den die Gedächtnisspeicher befördert worden waren.

Er blieb stehen.

Durch den die echten Gedächtnisspeicher nach unten befördert worden waren. Und darüber befanden sich die falschen, die rosaroten und orangeroten Attrappen, die man durch den Dom und über die Aufzüge erreichte und die jeder für Uni selbst hielt, jeder einschließlich der Männer und Frauen, die in der Vergangenheit ausgezogen waren, gegen Uni zu kämpfen – so musste es sein! Aber Uni, der wirkliche Uni, befand sich in den tiefer gelegenen Stockwerken und war durch einen Tunnel zu erreichen, durch Papa Jans Tunnel auf der Rückseite des Bergs der Liebe.

Wahrscheinlich war sein Eingang inzwischen verschlossen, vielleicht sogar mit einer meterdicken Betonschicht zugemauert – aber er musste immer noch existieren, denn niemand, vor allem nicht ein tüchtiger Computer, füllte einen langen Tunnel ganz auf. Und Papa Jan hatte gesagt, dass noch Platz für weitere Gedächtnisspeicher ausgespart war – also würde der Tunnel eines Tages wieder gebraucht werden.

Er war da, hinter dem Berg der Liebe. Ein Tunnel in das Innere von Uni. Mit den richtigen Landkarten und Plänen konnte jemand, der ein Ziel vor Augen hatte, vielleicht genau oder wenigstens annähernd genau herausfinden, wo der Tunnel gelegen war.

»Du da! Mach, dass du vorwärts kommst!«, schrie jemand.

Als er rasch weiterging, dachte er darüber nach, dachte immerzu darüber nach.

Es gab ihn – den Tunnel!