Dritter Teil: Flucht

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Alte Städte wurden abgerissen, neue dafür erbaut. Die neuen Städte hatten höhere Gebäude, breitere Plätze, größere Parks und Einschienenbahnen, die schneller, aber weniger häufig fuhren.

Zwei weitere Astralschiffe wurden gestartet, zu Sirius B und 61 Cygni. Die Marskolonien wuchsen täglich, nachdem sie neu besiedelt und gegen Katastrophen wie die von 152 gesichert worden waren; ebenso die Kolonien auf der Venus und dem Mond und die Vorposten auf Titanus und Merkur.

Die Freistunde wurde um fünf Minuten verlängert. An den Telecomps wurde der Tasten-Input durch Stimmen-Input ersetzt, und Vollnahrungskuchen waren in einer zweiten, angenehmen Geschmacksrichtung erhältlich. Die Lebenserwartung stieg auf 62,4 Jahre.

Die Mitglieder arbeiteten und aßen, verfolgten das Fernsehprogramm und schliefen. Sie sangen und besuchten die Museen und gingen in Vergnügungsgärten spazieren.

Zur Feier von Weis 200. Geburtstag wurde in einer neuen Stadt ein großer Umzug mit einer riesigen Fahne veranstaltet, die das Bild des lächelnden Wei zeigte. Einer der Fahnenträger war ein Mitglied von ungefähr dreißig Jahren, das in jeder Hinsicht normal wirkte, nur dass sein rechtes Auge grün war anstatt braun. Vor langer Zeit war dieses Mitglied einmal sehr krank gewesen, aber nun ging es ihm gut. Er hatte seine Arbeit und sein Zimmer, seine Freundin und seinen Berater. Er war gelöst und zufrieden.

Während des Umzugs geschah etwas Merkwürdiges: Als dieses Mitglied lächelnd die Fahne durch die Stadt trug, hörte er eine innere Stimme immer wieder eine NN sagen: Anna SG, achtunddreißig P, achtundzwanzig dreiundzwanzig; Anna SG, achtunddreißig P, achtundzwanzig dreiundzwanzig. Die NN wiederholte sich ständig im Rhythmus seiner Schritte. Er überlegte sich, wem die NN gehörte und warum sie ihm unaufhörlich im Kopf herumging. Plötzlich erinnerte er sich: Sie stammte aus der Zeit seiner Krankheit! Es war die NN von einer der anderen Kranken; »Lovely« hatte sie sich genannt – nein, »Lilac«. Warum war ihm ihre NN nach so langer Zeit wieder eingefallen? Er trat fester auf, versuchte sie nicht zu hören und war froh, als das Zeichen zum Singen gegeben wurde.

Er erzählte seiner Beraterin davon. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagte sie. »Du hast wahrscheinlich etwas gesehen, das dich an sie erinnert hat. Vielleicht hast du sogar sie gesehen. Man braucht sich nicht vor Erinnerungen zu fürchten – solange sie nicht lästig werden, natürlich. Lass es mich wissen, wenn es wieder vorkommt.«

Aber es kam nicht wieder vor. Er war gesund, dank Uni.

Einmal, als er einen neuen Posten hatte und in einer anderen Stadt lebte, fuhr er an Weihnachten mit seiner Freundin und vier anderen Mitgliedern auf dem Rad in das Parkgelände vor der Stadt. Sie hatten Kuchen und Cola dabei und setzten sich zum Essen neben ein paar Bäumen auf den Boden.

Er hatte seine Cola auf einen flachen Stein abgestellt. Als er, mitten im Gespräch, nach dem Behälter griff, stieß er ihn um. Die anderen Mitglieder füllten seinen Behälter aus ihren eigenen wieder auf.

Einige Minuten später, als er seine Kuchenhülle zusammenfaltete, bemerkte er auf dem nassen Stein ein flaches Blatt. Auf seiner Rückseite glänzten Colatropfen, sein Stiel war wie ein Henkel nach oben gebogen. Er nahm den Stiel in die Hand und hob das Blatt hoch, und dort, wo es gelegen hatte, war eine ovale Stelle auf dem Stein ganz trocken. Überall sonst war der Stein schwarz und nass, hier aber grau und trocken. Etwas an diesem Anblick erschien ihm bedeutungsvoll, und er blieb ruhig sitzen und sah auf das Blatt in seiner Hand, auf die gefaltete Kuchen-Schutzfolie in der anderen und das trockene Blattmuster auf dem Stein. Seine Freundin sagte etwas zu ihm, und er riss sich von dem Anblick los, legte das Blatt und die Folie zusammen und gab beides dem Mitglied, das die Abfalltüte hatte.

Das Bild des trockenen Blattmusters auf dem Stein kam ihm an diesem und auch am nächsten Tag noch mehrmals in den Sinn. Dann erhielt er seine Behandlung und vergaß es. Nach ein paar Wochen jedoch fiel es ihm wieder ein. Er fragte sich, warum. Hatte er schon früher einmal auf dieselbe Weise ein trockenes Blatt von einem nassen Stein aufgehoben? Wenn ja, dann konnte er sich nicht daran erinnern ...

Ab und zu, wenn er durch einen Park ging oder – das war wirklich merkwürdig! – wenn er in der Schlange auf seine Behandlung wartete, tauchte der Anblick des trockenen Blattmusters wieder vor ihm auf und ließ ihn ärgerlich die Stirn runzeln.

Ein Erdbeben kam. (Er wurde vom Stuhl geschleudert, im Mikroskop zerbrach das Glas, und der lauteste Krach, den er je gehört hatte, dröhnte aus den Tiefen des Labors.) Ein paar Abende später erklärte das Fernsehen, ein Seismoventil auf der anderen Seite des Kontinents sei ausgefallen, ohne dass es bemerkt wurde. Das sei noch nie geschehen und werde auch nicht wieder vorkommen. Die Mitglieder müssten natürlich trauern, brauchten sich aber keine Gedanken um die Zukunft zu machen.

Dutzende von Gebäuden waren eingestürzt, Hunderte von Mitgliedern ums Leben gekommen; alle Medizentren in der Stadt waren mit Verletzten überfüllt und mehr als die Hälfte der Behandlungsapparate beschädigt; die Wartezeiten für eine Behandlung betrugen bis zu zehn Tagen.

Wenige Tage nachdem er seine Behandlung erhalten hatte, dachte er an Lilac und wie er sie anders und stärker – erregender – geliebt hatte als irgendeine andere. Er hatte ihr etwas sagen wollen. Was war es nur gewesen? O ja, die Inseln! Die verborgenen Inseln, die er auf den vV-Landkarten entdeckt hatte. Die Inseln der Unheilbaren ...

Sein Berater rief ihn an. »Bist du wohlauf?«, fragte er.

»Ich glaube nicht, Karl«, sagte er. »Ich brauche meine Behandlung.«

»Warte eine Minute«, sagte sein Berater und wandte sich ab und sprach leise in sein Telecomp. Bald drehte er sich wieder um. »Du kannst sie heute Abend um halb acht bekommen«, sagte er, »aber du musst zu dem Medizentrum in T 24 gehen.«

Um halb acht stand er in einer langen Schlange. Seine Gedanken kreisten um Lilac, und er versuchte sich zu erinnern, wie sie eigentlich genau ausgesehen hatte. Als er dicht vor dem Behandlungsapparat stand, trat ihm das Bild eines trockenen Blattmusters auf einem Stein vor Augen.

Lilac rief ihn an (sie war hier, im gleichen Gebäude), und er ging in ihr Zimmer. Sie wohnte in dem Lagerraum des Museums. Grüne Edelsteine hingen von ihren Ohrläppchen herab und funkelten an ihrem rosigbraunen Hals. Sie trug ein Gewand aus glänzendem, grünem Stoff, das ihre sanft gewölbten Brüste mit den Rosenspitzen frei ließ. »Bon soir, Chip«, sagte sie lächelnd. »Comment vas-tu? Je m’ennuyais tellement sans toi.« Er trat auf sie zu und nahm sie in die Arme und küsste sie – ihre Lippen waren warm und weich, ihr Mund öffnete sich – und er erwachte in Dunkelheit und Enttäuschung. Es war nur ein Traum gewesen, nichts als ein Traum.

Aber auf seltsame, furchterregende Weise fühlte er alles in sich: den Duft ihres Parfüms und den Tabakgeschmack und den Klang von Sparrows Liedern und die Sehnsucht nach Lilac und den Zorn auf King und die Abscheu vor Uni und die Sorge um die Familie und das Glück, lebendig und wach zu sein und Gefühle zu haben.

Und am Morgen würde er eine Behandlung bekommen und nichts mehr davon wissen. Um acht Uhr. Er schaltete das Licht an, schielte auf die Uhr: 4.54. In kaum mehr als drei Stunden ...

Er schaltete das Licht wieder aus und lag mit offenen Augen im Dunkeln. Er wollte es nicht verlieren. Krank oder nicht, er wollte seine Erinnerungen behalten und sie erforschen und genießen können. Er wollte nicht an die Inseln denken – nein, niemals, das war wirklich krankhaft –, aber an Lilac und die Zusammenkünfte der Gruppe in dem Lagerraum voll Museumsstücke wollte er denken und vielleicht ab und zu wieder etwas träumen.

Aber in drei Stunden würde die Behandlung kommen und alles auslöschen. Es gab nichts, was er tun konnte – nur vielleicht auf ein weiteres Erdbeben hoffen, und welche Aussicht bestand darauf schon? Die Seismoventile hatten in all den Jahren seitdem tadellos funktioniert und würden es auch in Zukunft tun. Und was außer einem Erdbeben konnte seine Behandlung aufschieben? Nichts. Gar nichts. Nicht wenn Uni wusste, dass er schon einmal gelogen hatte, um einen Aufschub zu erreichen.

Ein trockenes Blattmuster auf einem Stein tauchte vor ihm auf, aber er verjagte das Bild, um an Lilac zu denken, sie vor sich zu sehen wie in seinem Traum. Er durfte die drei kurzen Stunden, da er wieder lebendig war, nicht vergeuden. Er hatte vergessen, wie groß ihre Augen waren, wie reizend ihr Lächeln und ihre rosigbraune Haut, wie rührend ihre Ernsthaftigkeit. Er hatte so verflucht viel vergessen: das Vergnügen zu rauchen, das erregende Gefühl beim Enträtseln von Français ...

Das trockene Blattmuster tauchte wieder auf, und um es ein für alle Mal loszuwerden, überlegte er sich ärgerlich, warum es ihm nicht aus dem Kopf ging. Er dachte an den lächerlich bedeutungslosen Augenblick zurück und sah alles wieder vor sich: Die Colatropfen glänzten auf dem Blatt, er hob es am Stiel auf, und in der anderen Hand hielt er die gefaltete Kuchenfolie, und wo das Blatt gelegen hatte, war ein trockenes, graues Oval auf dem schwarzen, colanassen Stein. Er hatte die Cola umgeschüttet, und das Blatt hatte dort gelegen, und der Stein darunter war –

Er richtete sich im Bett auf und umklammerte mit der Hand seinen rechten Arm. »Christus und Wei«, sagte er erschrocken.

Er stand vor dem ersten Gong auf und zog sich an und machte das Bett. Er kam als Erster in den Speisesaal, aß und trank und ging, mit einer lose gefalteten Kuchenfolie in der Tasche, wieder auf sein Zimmer zurück.

Er entfaltete die Folie, legte sie auf den Schreibtisch und strich sie mit der Hand glatt. Er faltete die viereckige Folie säuberlich erst einmal in der Mitte zusammen und dann noch dreimal. Er drückte das Päckchen flach und nahm es in die Hand; obwohl es aus sechs Schichten bestand, war es dünn. Zu dünn? Er legte es wieder weg.

Er ging ins Badezimmer und holte Watte und eine Rolle Pflaster aus der Hausapotheke und trug beides zum Tisch.

Er legte eine Schicht Watte auf das Folie-Päckchen – die Watte bedeckte die Folie nicht ganz – und begann die Watte und das Päckchen mit langen, überhängenden Streifen von hautfarbenem Pflaster zu bedecken. Die Enden der Streifen klebte er lose auf die Schreibtischplatte. Die Tür ging auf. Er drehte sich um und stellte sich rasch vor sein Werk und ließ die Pflasterrolle in der Tasche verschwinden. Es war Karl TK von nebenan. »Gehst du mit zum Essen?«, fragte er.

»Ich habe schon gegessen«, sagte er.

»Ach so«, sagte Karl. »Bis nachher.«

»Gut«, sagte er und lächelte.

Karl schloss die Tür.

Er klebte weiter, bis er fertig war, und löste dann die Pflasterenden vom Schreibtisch. Den Verband, den er so hergestellt hatte, trug er ins Badezimmer. Er legte ihn mit der Folie nach oben auf den Rand des Waschbeckens und schob seinen Ärmel hoch.

Er nahm den Verband und legte die Folie vorsichtig auf die Innenseite seines Arms, wo ihn die Infusionsscheibe berühren würde. Er gab dem Verband einen Klaps und drückte die Pflasterränder auf der Haut fest. Ein Blatt. Ein Schild. Ob er wohl seinen Zweck erfüllte? Wenn ja, dann würde er nur an Lilac denken, nicht an die Inseln. Wenn er sich dabei ertappte, dass er an die Inseln dachte, würde er es seinem Berater sagen. Er zog seinen Ärmel herunter.

Um acht Uhr stellte er sich in die Reihe der Wartenden vor dem Behandlungsraum. Er hatte die Arme gekreuzt und die Hand über dem Ärmel auf den Verband gelegt – um ihn zu erwärmen, denn es konnte ja sein, dass die Infusionsscheibe temperaturempfindlich war.

Ich bin krank, dachte er. Ich werde alle Krankheiten bekommen: Krebs, Pocken, Cholera, alles. Haare werden mir im Gesicht wachsen.

Er würde es nur dies eine Mal tun. Sobald er merkte, dass etwas nicht stimmte, würde er zu seinem Berater gehen.

Vielleicht funktionierte es gar nicht.

Nun kam er an die Reihe. Er zog seinen Ärmel bis zum Ellbogen hoch und steckte seine Hand bis zum Gelenk in die gummiumrandete Öffnung des Apparats. Dann schob er den Ärmel bis zur Schulter hoch und ließ im gleichen Moment seinen ganzen Arm hineingleiten.

Er spürte, wie der Raster sein Armband berührte und die Infusionsscheibe sich ganz leicht gegen den wattierten Verband drückte ...

Nichts geschah.

»Du bist fertig!«, sagte ein Mitglied hinter ihm. Das blaue Licht des Apparats war eingeschaltet.

»Ach so«, sagte er und schob seinen Ärmel wieder bis zum Handgelenk vor, während er den Arm aus der Öffnung zog.

Er musste direkt zu seinem Arbeitsplatz gehen.

Nach dem Mittagessen ging er wieder auf sein Zimmer zurück. Im Badezimmer zog er den Ärmel hoch und riss sich den Verband vom Arm. Die Folie war unversehrt, aber das war die Haut nach der Behandlung auch. Er löste die Folie von dem Pflaster.

Die Watte war verklumpt und grau. Er drückte den Verband über dem Waschbecken aus, und eine wasserähnliche Flüssigkeit tröpfelte daraus hervor.

Er lebte jeden Tag ein wenig bewusster. Immer deutlicher erinnerte er sich an beängstigende Einzelheiten aus der Vergangenheit.

Sein Gefühl erwachte wieder. Die Abneigung gegen Uni steigerte sich zu Hass, die Sehnsucht nach Lilac zu verzweifeltem Hunger.

Wieder begann er mit seinen alten Täuschungsmanövern und verhielt sich am Arbeitsplatz und seinem Berater und seiner Freundin gegenüber normal. Aber mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, und es machte ihn rasend, dass er zu dieser List gezwungen war.

Am Tag seiner nächsten Behandlung machte er wieder einen Verband aus Kuchenfolie, Watte und Pflaster und quetschte wieder einen dünnen Strahl wässriger Flüssigkeit daraus hervor.

Schwarze Punkte erschienen auf seinem Kinn, auf Wangen und Oberlippe – die ersten Anzeichen von Haaren. Er zerlegte seine Schere und befestigte die scharfe Schneide an einem Griff und stand jeden Morgen vor dem ersten Gong auf, um sich das Gesicht mit Seife einzureiben und die Stoppeln abzuschaben.

Er träumte jede Nacht. Manchmal führten die Träume zum Orgasmus. Allmählich machte es ihn fast verrückt, ständig Gelöstheit und Zufriedenheit, Demut und Güte zu heucheln. Das Marxfest verbrachte er an einem Badestrand. Er schlenderte an dem Ufer entlang, und plötzlich rannte er los, lief den Mitgliedern neben ihm davon, fort von der sonnenbadenden, kuchenessenden Familie. Er eilte weiter, bis der Strand nur noch aus einem schmalen Streifen Geröll bestand, lief durch Gischt und über glitschige, altertümliche Uferbefestigungen. Dann blieb er stehen, und allein und nackt zwischen Meer und steilen Klippen ballte er die Hände zu Fäusten und schlug auf die Klippen ein, schrie »Kampf!« zum leeren, blauen Himmel hinauf und drehte und zerrte an der unzerreißbaren Kette seines Armbands.

Man schrieb den 5. Mai 169. Sechseinhalb Jahre hatte er verloren. Sechseinhalb Jahre! Er war vierunddreißig. Er war in USA 90 058.

Und sie? Immer noch in IND oder woanders? War sie noch auf der Erde oder in einem Astralschiff?

Und war sie lebendig, wie er, oder tot, wie alle anderen in der Familie?