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Sie blieben ein paar Tage, wo sie waren, schliefen und aßen und rasierten sich und übten sich im Kampf, machten kindliche Spiele und sprachen über die Demokratie als Staatsform und über Sex und die Pygmäen der Äquatorwälder, und am dritten Tag, dem Sonntag, fuhren sie nach Norden. Vor ’00013 machten sie halt und stiegen auf das Hochplateau über dem Platz und der Brücke. Die Brücke war teilweise repariert und durch Schranken gesperrt. Radfahrerkolonnen überquerten den Platz in beiden Richtungen; es waren keine Ärzte da, keine Hubschrauber und keine Wagen. Wo der Hubschrauber gestanden hatte, leuchtete jetzt ein neues, rosarotes, rechteckiges Stück Pflaster.

Am frühen Nachmittag kamen sie an ’001 vorbei und warfen aus der Entfernung einen Blick auf Unis weißen Dom neben dem See der weltweiten Brüderlichkeit. Sie fuhren in ein Parkgelände hinter der Stadt. Am Abend danach versteckten sie ihre Fahrräder in der Dämmerung hinter dem Gebüsch in einem Hohlweg und schulterten ihre Tornister. Dann passierten sie einen Raster am anderen Ende des Parkgeländes und traten auf die grasigen Hänge hinaus, die zum Berg der Liebe führten. Sie schritten rasch voran, in Schuhen und grünen Overalls, die Ferngläser und Gasmasken um den Hals gehängt. Ihre Pistolen hielten sie in der Hand, aber als die Dunkelheit allmählich undurchdringlich und der Hang steiniger und unebener wurde, steckten sie sie in die Tasche. Ab und zu legten sie eine Pause ein, und Chip ließ unter der vorgehaltenen Hand eine Taschenlampe aufleuchten, damit er auf den Kompass sehen konnte.

Sie kamen zu der ersten der drei Stellen, wo sich der Eingang zum Tunnel vermutlich befand, und trennten sich, um mit abgeblendeten Taschenlampen nach ihm zu suchen. Aber sie fanden ihn nicht.

Sie machten sich auf den Weg zur zweiten Stelle, einen Kilometer weiter nordöstlich. Ein Halbmond tauchte über dem Berggipfel auf. In seinem schwachen Licht suchten sie den Fuß des Berges ab, als sie den Felshang überquerten, der sich davor erhob.

Der Hang wurde eben, aber nur in dem Abschnitt, wo sie gingen, und sie merkten, dass sie sich auf einer alten, stellenweise mit Gestrüpp bewachsenen Straße befanden, die hinter ihnen in einem Bogen in das Parkgelände führte und weiter vorn in einer Schlucht verschwand.

Sie sahen einander an und zogen die Pistolen. Nachdem sie die Straße verlassen hatten, gingen sie näher zum Rande des Berges und schlichen hintereinander – erst Chip, dann Dover, dann Karl – an ihm entlang. Mit einer Hand umklammerten sie die Pistolen, mit der anderen hielten sie die Tornister fest, damit sie nirgends anstießen.

Sie kamen zu der Schlucht und warteten mit gespitzten Ohren am Rand des Berges.

Kein Laut drang heraus.

Sie warteten und lauschten, und dann blickte Chip zu den anderen zurück, schob die Gasmaske hoch und schnallte sie fest.

Die anderen taten dasselbe.

Chip betrat mit gezückter Pistole die Schlucht. Dover und Karl folgten ihm.

Vor ihnen lag eine weite, ebene Lichtung und auf der anderen Seite, am Fuß einer kahlen Bergwand, die schwarze, bogenförmige Öffnung eines großen Tunnels.

Er schien völlig unbewacht zu sein.

Sie schoben die Gasmasken aus dem Gesicht und betrachteten durch ihre Ferngläser die Öffnung, den Berg darüber und, nach ein paar Schritten vorwärts, die Wände der Schlucht, die sich nach oben erweiterte, und das Himmelsoval, das sich darüber wölbte wie ein Dach.

»Buzz muss gute Arbeit geleistet haben«, sagte Karl.

»Oder auch nicht, und er ist geschnappt worden«, sagte Dover.

Chip richtete das Fernglas wieder auf die Öffnung. Am Rand glänzte sie gläsern, und auf ihrem Boden lag hellgrünes Laub.

»Der Tunnel wirkt auf mich wie die Boote an den Ufern«, sagte er. »So richtig einladend und ...«

»Glaubst du, er führt zur Freiheits-Insel zurück?«, fragte Dover, und Karl lachte.

Chip sagte: »Hier könnten fünfzig Fallen lauern, die wir erst bemerken, wenn es zu spät ist.« Er ließ sein Fernglas sinken.

Karl sagte: »Vielleicht hat Ria nichts gesagt.«

»Wenn du in einem Medizentrum verhört wirst, sagst du alles. Aber selbst wenn sie geschwiegen hätte – sollte der Tunnel nicht wenigstens geschlossen sein? Deswegen haben wir ja die Werkzeuge mitgebracht.«

Karl sagte: »Er muss noch in Betrieb sein.«

Chip starrte auf die Öffnung.

»Wir können immer noch umkehren«, sagte Dover.

»Klar, immer zu«, sagte Chip.

Sie sahen sich alle um und rückten ihre Masken zurecht und gingen langsam über die Lichtung. Kein Gas zischte, keine Sirenen heulten, kein Mitglied im Antischwerkraft-Anzug erschien am Himmel.

Sie traten vor die Öffnung des Tunnels und leuchteten mit ihren Taschenlampen hinein.

In dem hohen, mit Plastik ausgeschlagenen Rund schimmerte und funkelte Licht bis zu der Stelle, wo der Tunnel aufzuhören schien. Aber nein – dort fiel er nur schräg nach unten ab. Zwei flache, stählerne Gleise, zwischen denen einige Meter Gestein ohne Plastikbelag zu sehen waren, führten in das Innere.

Sie blickten auf die Lichtung zurück, zum Rand der Öffnung empor. Sie betraten den Tunnel, sahen einander an, zogen die Masken herunter und schnupperten.

»Nun«, sagte Chip, »marschbereit?«

Karl nickte, und Dover sagte lächelnd: »Gehen wir.«

Sie blieben einen Augenblick stehen und schritten dann auf dem glatten, schwarzen Gestein zwischen den Schienen voran.

»Wird die Luft in Ordnung sein?«, fragte Karl.

»Wenn sie es nicht ist, haben wir die Masken«, sagte Chip. Er beleuchtete seine Uhr mit der Taschenlampe. »Es ist Viertel vor zehn«, sagte er. »Etwa um eins sollten wir dort sein.«

»Uni wird wachen«, sagte Dover.

»Bis wir ihn in Schlaf versetzen«, sagte Karl.

Der Tunnel machte eine Biegung und wurde leicht abschüssig. Sie blieben stehen und sahen, so weit das Auge reichte, ein Plastikgewölbe schimmern, das sich in unendlicher Ferne in schwärzestem Schwarz verlor.

»Christus und Wei«, sagte Karl.

Sie setzten ihren Weg zwischen den Schienen weiter fort, einer neben dem anderen; aber jetzt gingen sie schneller. »Wir hätten die Fahrräder mitbringen sollen«, sagte Dover. »Hier könnten wir sie gut gebrauchen.«

»Wir sollten nur noch das Nötigste sprechen«, sagte Chip, »und nur eine Taschenlampe brennen lassen. Jetzt deine, Karl.«

Sie gingen wortlos hinter dem Licht aus Karls Taschenlampe her. Sie nahmen ihre Ferngläser ab und steckten sie in ihre Tornister.

Chip spürte, dass Uni sie belauschte und die Schwingungen des Bodens unter ihren Schritten oder die Wärme ihrer Körper registrierte. Würde es ihnen gelingen, die Abwehrmaßnahmen, die Uni sicherlich traf, zu überstehen und seine Mitglieder niederzukämpfen und seinen Gasen zu widerstehen? (Taugten die Gasmasken etwas? War Jack umgekommen, weil er sie zu spät aufgesetzt hatte, oder wäre er ebenso gestorben, wenn er sie früher angelegt hätte?)

Jedoch die Zeit für Fragen war vorüber. Jetzt mussten sie vorwärtsstreben. Was immer sie auch erwartete, sie würden nicht zurückweichen und ihr Bestes tun, um zu den Gefrieranlagen zu gelängen und sie zu sprengen.

Wie viele Mitglieder mussten sie wohl verletzen oder töten? Vielleicht gar keines, dachte er. Vielleicht reichte der bloße Anblick ihrer drohenden Pistolen aus, um sie zu schützen. (Gegen hilfsbereite, selbstlose Mitglieder, die Uni in Gefahr sahen? Nein, niemals!)

Nun, es musste sein. Es gab keine andere Wahl.

Er wandte seine Gedanken Lilac zu – Lilac und Jan und ihrem Zimmer in Neu-Madrid.

Der Tunnel wurde kalt, aber die Luft blieb gut.

Sie schritten immer weiter in das Plastikgewölbe hinein, dem Punkt entgegen, wo die Gleise in schwärzestem Schwarz verschwanden. Wir sind da, dachte er. Jetzt. Wir tun es.

Nach einer Stunde machten sie Pause. Sie setzten sich auf die Gleise und teilten einen Kuchen und ließen einen Behälter mit Tee kreisen. Karl sagte: »Für ein bisschen Schnaps würde ich meinen Arm hergeben.«

»Ich kaufe dir eine ganze Kiste, wenn wir zurückkommen«, sagte Chip. »Du bist mein Zeuge«, sagte Karl zu Dover.

Sie blieben ein paar Minuten sitzen, dann standen sie auf und machten sich wieder auf den Weg. Dover ging auf einer Schiene. »Du wirkst ganz schön zuversichtlich«, sagte Chip, der ihn mit seiner Taschenlampe anstrahlte.

»Bin ich auch«, sagte Dover. »Du nicht?«

»Doch«, sagte Chip und richtete das Licht wieder geradeaus nach vorn.

»Mir wäre wohler, wenn wir zu sechst wären«, sagte Karl.

»Mir auch«, sagte Chip.

Es ist komisch mit Dover, dachte Chip: Als Jack anfing zu schießen, hat er das Gesicht in den Armen versteckt, und jetzt, da wir bald schießen und vielleicht Menschen töten, macht er einen fröhlichen, unbeschwerten Eindruck. Aber vielleicht tat er nur so, um seine Angst zu verbergen, oder es kam einfach daher, dass er erst fünf- oder sechsundzwanzig war.

Sie hängten beim Gehen ihre Tornister von einer Schulter über die andere.

»Bist du sicher, dass das Ding einmal aufhört?«, sagte Karl.

Chip ließ das Licht auf seine Uhr fallen. »Es ist elf Uhr dreißig«, sagte er. »Wir müssten schon mehr als die Hälfte hinter uns haben.«

Sie schritten tiefer in das Plastikgewölbe hinein. Die Kälte ließ ein wenig nach.

Um Viertel vor zwölf machten sie wieder Pause, aber sie merkten, dass sie keine Ruhe hatten, und gingen schon nach einer Minute weiter.

In weiter Ferne, mitten in der Schwärze, schimmerte Licht, und Chip zog seine Pistole. »Warte«, sagte Dover und berührte ihn am Arm, »es ist mein Licht. Schau!« Er knipste seine Taschenlampe an und aus, an und aus, und der Lichtschein in der Schwärze erschien und verschwand im gleichen Rhythmus. »Dort ist das Ende«, sagte er. »Oder es ist etwas auf den Gleisen.«

Sie gingen schneller weiter. Auch Karl zog seine Pistole. Der Lichtschimmer, der sich leicht auf und ab bewegte, schien in der gleichen Entfernung zu bleiben, klein und schwach.

»Es bewegt sich weg von uns«, sagte Karl.

Aber dann wurde es plötzlich heller und war näher.

Sie blieben stehen, legten die Masken an und gingen weiter.

Auf eine Stahlplatte zu, eine Mauer, die den Tunnel bis zum Rand verschloss.

Sie traten näher, berührten die Mauer aber nicht. Feine, senkrecht verlaufende Kratzer und der den Gleisen angepasste untere Abschluss der Platte ließen erkennen, dass diese beim Öffnen nach oben glitt.

Sie zogen ihre Masken tiefer, und Chip hielt seine Uhr in Dovers Licht. »Zwanzig vor eins«, sagte er. »Wir haben es in einer guten Zeit geschafft.«

»Oder der Tunnel geht auf der anderen Seite weiter«, sagte Karl.

»Was du für Ideen hast!«, sagte Chip, steckte seine Pistole in die Tasche und ließ seinen Tornister von der Schulter gleiten, stellte ihn auf den Steinboden, kniete sich daneben und machte ihn auf. »Komm näher mit dem Licht, Dover«, sagte er. »Aber fass die Platte ja nicht an, Karl.« Karl, der die Mauer ansah, fragte: »Glaubst du, sie ist elektrisch geladen?«

»Dover?«, sagte Chip.

»Aufgepasst, Freunde«, sagte Dover.

Er war ein paar Meter in den Tunnel zurückgetreten und hielt das Licht auf die beiden Männer gerichtet. Das Ende seines L-Strahls ragte in den Lichtkegel. »Habt keine Angst«, sagte er, »es geschieht euch nichts. Eure Pistolen sind kaputt. Lass deine fallen, Karl. Chip, zeig mir deine Hände, leg sie dann auf den Kopf und steh auf.«

Chip starrte über das Licht hinweg und sah eine schimmernde Linie: Dovers geschnittenes, blondes Haar.

Karl sagte: »Ist das ein Witz oder was?«

»Lass sie fallen, Karl«, sagte Dover. »Stell auch deinen Tornister auf den Boden. Chip, lass mich deine Hände sehen.«

Chip zeigte seine leeren Hände und legte sie auf den Kopf und stand auf. Karls Pistole rasselte auf den Steinboden, und sein Tornister plumpste hinterher. »Was soll das?«, fragte er, und zu Chip gewandt: »Was tut er?«

»Er ist ein Spion!«, sagte Chip.

»Ein was?«

Lilac hatte recht gehabt. Ein Spion in der Gruppe. Aber Dover? Es war unmöglich. Es konnte nicht sein.

»Deine Hände auf den Kopf, Karl«, sagte Dover. »Jetzt dreht euch zur Mauer um, alle beide!«

»Du Bruderfeind«, sagte Karl.

Sie drehten sich um und standen, mit den Händen auf dem Kopf, vor der Stahlwand.

»Dover«, sagte Chip. »Christus und Wei –«

»Du kleiner Bastard«, sagte Karl.

»Es wird euch nichts geschehen«, sagte Dover. Die Stahlplatten glitten nach oben – und ein langer Raum mit Betonwänden erstreckte sich vor ihnen; die Gleise führten bis zu seiner Mitte, wo sie aufhörten. Am anderen Ende des Raums befanden sich zwei Stahltüren.

»Sechs Schritte nach vorn und dann halt«, sagte Dover. »Los, geht! Sechs Schritte.« Sie gingen sechs Schritte nach vorn und blieben stehen. Hinter ihnen klirrten Metallbeschläge an Tornisterriemen. »Die Pistole ist immer noch auf euch gerichtet«, sagte Dover von weit unten her; er kauerte auf dem Boden. Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Karl stellte mit den Augen eine Frage, aber Chip schüttelte den Kopf. »Gut so«, sagte Dover; seine Stimme kam wieder aus normaler Höhe. »Geradeaus!«

Sie durchschritten den Raum mit den Betonwänden, und die Stahltüren an seinem Ende glitten auseinander. Dahinter waren weiß gekachelte Wände zu sehen.

»Hinein und nach rechts«, sagte Dover.

Sie gingen durch die Tür und bogen nach rechts ab. Vor ihnen lag ein langer, weiß gekachelter Korridor, der vor einer einzelnen Stahltür mit einem Raster endete. Die rechte Wand des Korridors bestand einheitlich aus Kacheln, die linke wurde in regelmäßigen Abständen – etwa alle zehn Meter – von zehn oder zwölf Stahltüren unterbrochen.

Chip und Karl schritten nebeneinander, die Hände auf dem Kopf, den Korridor entlang. Dover!, dachte Chip. Der Erste, an den er sich gewandt hatte! Und warum nicht? An jenem Tag auf dem E.H.-Boot hatte er so verbittert und hasserfüllt von Uni gesprochen! Dover war es gewesen, der ihm und Lilac gesagt hatte, die Freiheits-Insel sei ein Gefängnis, und Uni habe sie dorthin entkommen lassen! »Dover!«, sagte er. »Wie, zum Hass, kannst du –«

»Geh nur weiter«, sagte Dover.

»Du bist nicht betäubt, du bist nicht behandelt!«

»Nein.«

»Dann – wie? Warum

»In einer Minute wirst du es sehen«, sagte Dover.

Sie näherten sich einer Tür am Ende des Korridors, und diese glitt urplötzlich auf. Hinter ihr erstreckte sich ein weiterer Korridor. Er war breiter und weniger hell erleuchtet und hatte dunkle, nicht gekachelte Wände.

»Weitergehen!«, sagte Dover. Sie gingen durch die Tür und blieben mit aufgerissenen Augen stehen.

»Vorwärts!«, sagte Dover.

Sie gingen weiter. Was für ein Korridor mochte das sein? Auf seinem Boden lag ein Teppich, ein goldfarbener Teppich, so dick und weich, wie Chip noch keinen gesehen oder betreten hatte. Die Wände bestanden aus glänzendem, poliertem Holz; auf beiden Seiten waren nummerierte Türen (12, 11) mit goldenen Klinken. Bilder hingen zwischen den Türen, wunderschöne Bilder, die bestimmt aus der Zeit vor der Vereinigung stammten: eine weise lächelnde Frau mit gefalteten Händen; eine auf einem Hügel gelegene Stadt, deren Häuser mit Fenstern versehen waren, unter einem merkwürdigen, schwarzbewölkten Himmel; ein Garten; eine liegende Frau; ein Mann in Rüstung. Ein angenehmer Duft – kräftig, herb und keinem anderen zu vergleichen – würzte die Luft.

»Wo sind wir?«, fragte Chip.

»In Uni«, sagte Dover.

Vor ihnen standen Doppeltüren offen, hinter denen ein rot ausgeschlagener Raum lag.

»Weitergehen!«, sagte Dover.

Sie traten durch die Tür in den rot ausgeschlagenen Raum; er zog sich nach beiden Seiten hin, und Mitglieder, Menschen, saßen darin und lächelten und begannen zu lachen, lachten und standen auf, einige applaudierten. Junge Menschen und alte Menschen erhoben sich von Stühlen und Sofas, lachten und applaudierten, applaudierten, applaudierten, sie applaudierten alle, und Chips Arme wurden nach unten gezogen – von Dover, der lachte –, und er sah Karl an, der ihn verblüfft anschaute, und die anderen applaudierten immer noch; fünfzig oder sechzig munter und lebendig wirkende Männer und Frauen in Overalls aus Seide, nicht aus Paplon, grün-golden-blau-weiß-purpurrot; eine große schöne Frau, ein schwarzhäufiger Mann, eine Frau, die aussah wie Lilac, ein weißhaariger Mann, der über neunzig sein musste, und sie applaudierten, applaudierten, lachten, applaudierten ...

Chip drehte sich um, und Dover sagte grinsend: »Du träumst nicht«, und zu Karl: »Es ist Wirklichkeit, ihr seht richtig.«

»Was?«, fragte Chip. »Was, zum Hass, ist das? Wer sind die Leute?«

Lachend sagte Dover: »Das sind die Programmierer, Chip! Und das werdet ihr auch sein! Ach, wenn ihr nur eure Gesichter sehen könntet!« Chip starrte auf Karl, dann wieder auf Dover. »Christus und Wei, wovon redest du denn?«, fragte er. »Die Programmierer sind tot! Uni – läuft von selbst, er braucht keine –«

Dover sah lächelnd über ihn hinweg. Stille breitete sich aus im Raum. Chip drehte sich um.

Ein Mann mit einer lächelnden Maske, die aussah wie Wei (war es Wirklichkeit, was hier geschah?), kam mit federnden Schritten auf ihn zu; er trug einen rotseidenen Overall mit Stehkragen. »Nichts läuft von selbst«, sagte der Mann mit einer hohen, aber kräftigen Stimme, und seine lächelnden Maskenlippen bewegten sich wie echte. (Aber war es eine Maske – die gelbe Haut, die sich straff über den scharfen Backenknochen spannte, die funkelnden Schlitzaugen, die weißen Haarbüschel auf dem blanken gelben Kopf?)

»Du musst ›Chip‹ mit dem einen grünen Auge sein«, sagte der Mann lächelnd und streckte seine Hand aus. »Du musst mir sagen, was dich an dem Namen ›Li‹ so stört, dass du ihn geändert hast.« Rings um ihn erschallte Gelächter.

Die ausgestreckte Hand war jugendlich und von normaler Hautfarbe. Chip nahm sie (Ich werde verrückt, dachte er), und sie schloss sich mit festem Griff um seine Hand und drückte sie, dass seine Knöchel einen Augenblick lang schmerzten.

»Und du bist Karl«, sagte der Mann, indem er sich umwandte und wieder die Hand ausstreckte. »Also, wenn du deinen Namen geändert hättest, könnte ich es verstehen.« Das Gelächter schwoll an. »Schüttle sie«, sagte der Mann lächelnd. »Hab keine Angst.«

Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte Karl die Hand des Mannes. Chip sagte: »Du bist –«

»Wei«, sagte der Mann, und seine Schlitzaugen blinzelten. »Das heißt, von hier aufwärts.« Er fasste an den Stehkragen seines Overalls. »Von hier abwärts«, sagte er, »bin ich verschiedene andere Mitglieder, hauptsächlich Jesus RE, der 163 den Zehnkampf gewonnen hat.« Er lächelte ihnen zu. »Habt ihr als Kinder nie einen Ball gegen die Wand geworfen?«, fragte er. »›Marx und Wood und Wei und Christ, nur noch Wei am Leben ist.‹ Es stimmt immer noch, wie ihr seht. ›Weisheit aus Kindermund.‹ Kommt, setzt euch, ihr müsst müde sein. Warum konntet ihr nicht den Aufzug benutzen wie alle anderen? Dover, es ist schön, dass du wieder da bist. Du hast sehr gute Arbeit geleistet, von dieser schrecklichen Geschichte bei der Brücke in ’013 abgesehen.«

Sie saßen in niederen und bequemen roten Stühlen, tranken hellen, gelben, herb schmeckenden Wein aus funkelnden Gläsern, aßen Fleisch und Fisch und Wer-weiß-was in frisch geschmorten Würfeln von feinen, weißen Tellern, die junge Mitglieder, welche ihnen bewundernd zulächelten, auftrugen – und während sie aßen und tranken, sprachen sie mit Wei.

Mit Wei!

Er saß ihnen in einem roten Overall gegenüber, streckte mühelos die Hand nach einer Zigarette aus und schlug lässig die Beine übereinander. Wie alt war der gelbe Kopf mit der straffen Haut, der auf diesem gelenkigen Körper lebte und sprach? War sein letzter Geburtstag, der gefeiert wurde, der zweihundertsechste oder der zweihundertsiebte gewesen? Wei starb, als er sechzig war, fünfundzwanzig Jahre nach der Vereinigung, mehrere Generationen vor dem Bau von Uni; dieser wurde von seinen »geistigen Erben« programmiert, die natürlich mit zweiundsechzig starben. So lernte es die Familie.

Und da saß er und trank und aß und rauchte. Männer und Frauen standen als aufmerksame Zuhörer um die Gruppe herum, aber er schien sie nicht zu bemerken.

»Alles, was ihr über die Inseln gehört habt«, sagte er, »traf einmal zu. Zuerst waren sie die Hochburgen der ersten Unheilbaren und dann ›Isolierstationen‹, wie ihr es nennt, zu denen wir die späteren Unheilbaren ›entkommen‹ ließen; damals waren wir allerdings noch nicht so freundlich, Boote zur Verfügung zu stellen.«

Er lächelte und zog an seiner Zigarette. »Dann jedoch fand ich einen besseren Verwendungszweck für sie, und jetzt dienen sie als – ihr entschuldigt! – Wilden-Reservate, wo geborene Führer in Erscheinung treten und sich bewähren können, genau wie ihr. Jetzt stellen wir, allerdings ziemlich versteckt, Boote und Landkarten und ›Schäfer‹ wie Dover, die zurückkehrende Mitglieder begleiten und Gewaltanwendung verhindern, so gut sie können; und natürlich die letzte geplante Gewalttat, die Zerstörung Unis, verhindern – obgleich der Angriff gewöhnlich den Attrappen für die Besucher gilt, sodass keine wirkliche Gefahr besteht.«

Chip sagte: »Ich weiß nicht, wo ich bin.« Karl, der mit einer kleinen goldenen Gabel einen Fleischwürfel aufspießte, sagte: »Im Parkgelände – eingeschlafen«, und die Männer und Frauen in der Nähe lachten.

Wei sagte lächelnd: »Ja, gewiss, es ist eine höchst verwirrende Entdeckung. Der Computer, den ihr für den unveränderlichen und unkontrollierten Beherrscher der Familie hieltet, ist in Wirklichkeit ihr Diener und wird gelenkt von Mitgliedern, die eure Eigenschaften besitzen – Unternehmungsgeist, scharfen Verstand und Sorge um das Wohl der Allgemeinheit. Unis Ziele und Methoden wechseln ständig, entsprechend den Entscheidungen eines Hohen Rates und vier beratender Ausschüsse. Wir leben im Luxus, wie ihr seht, aber wir tragen auch ein so hohes Maß an Verantwortung, dass dieser Luxus mehr als gerechtfertigt ist. Morgen werdet ihr anfangen zu lernen. Nun jedoch« – er beugte sich vor und drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus – »ist es, dank eurer Vorliebe für Tunnel, sehr spät. Man wird euch eure Zimmer zeigen; hoffentlich findet ihr, dass sich für sie der weite Weg gelohnt hat.« Er lächelte und erhob sich, und sie standen mit ihm auf. Er schüttelte Karl die Hand – »Herzlichen Glückwunsch, Karl« – und dann Chip. »Ich gratuliere dir, Chip«, sagte er. »Wir haben schon vor Langem vermutet, dass ihr früher oder später kommen würdet. Wir freuen uns, dass ihr uns nicht enttäuscht habt. Ich meine, ich freue mich. Es ist schwer, nicht so zu sprechen, als hätte Uni auch Gefühle.« Er wandte sich ab, und die Leute scharten sich um sie, schüttelten ihnen die Hand und sagten: »Herzlichen Glückwunsch, ich hätte nie gedacht, dass ihr es vor dem Tag der Vereinigung schafft, es ist schrecklich, nicht wahr, wenn man hereinkommt, und alle sitzen hier; herzliche Glückwünsche, ihr werdet euch eingewöhnen, bevor ihr ... herzlichen Glückwunsch.«

Sein Zimmer war groß und blassblau, mit einem großen, blauen Bett mit vielen Kissen, einem großen Gemälde, auf dem schwimmende Wasserlilien zu sehen waren, dunkelgrünen Lehnstühlen, einem Tisch voll zugedeckter Schüsseln und Karaffen und einer Schale mit weißen und gelben Chrysanthemen auf einer langen, niedrigen Kommode.

»Es ist wunderschön«, sagte Chip. »Ich danke dir.« Das Mädchen, das ihn geführt hatte, ein normal aussehendes, etwa sechzehnjähriges Mitglied in weißem Paplon, sagte: »Setz dich, ich ziehe dir das aus.« Sie deutete auf seine Füße.

»Die Schuhe«, sagte er lächelnd. »Nein, danke, Schwester, ich kann es allein.«

»Tochter«, sagte sie.

»Tochter?«

»Die Programmierer sind unsere Väter und Mütter«, sagte sie. »Aha«, sagte er. »Na gut. Danke, Tochter. Du kannst jetzt gehen.«

Sie sah überrascht und gekränkt aus. »Ich soll hierbleiben und mich um dich kümmern«, sagte sie. »Wir beide.« Sie machte eine Kopfbewegung zu der Tür hinter dem Bett. Licht und das Geräusch von laufendem Wasser drangen daraus hervor.

Chip ging hinüber.

Hinter der Tür war ein großes, glänzendes, blassblaues Badezimmer; ein anderes junges Mitglied in weißem Paplon kniete vor einer fast gefüllten Wanne und rührte mit der Hand im Wasser. Sie drehte sich um und lächelte und sagte: »Grüß dich, Vater.«

»Grüß dich«, sagte Chip. Er stand an den Türpfosten gelehnt und schaute zurück auf das erste Mädchen, das die Bettdecke zurückschlug, und wieder auf das zweite Mädchen. Sie kniete vor ihm und lächelte zu ihm hoch. Er stand an den Türpfosten gelehnt. »Tochter«, sagte er.