Vierter Teil: Kampf

1

Er war so beschäftigt wie noch nie im ganzen Leben: Er plante, suchte nach Menschen und Material, reiste, studierte, erklärte, redete, überlegte, traf Entscheidungen. Und in der Fabrik musste er ebenfalls arbeiten, denn wenn Julia ihm auch ziemlich viel Freiheit zugestand, so achtete sie doch streng darauf, dass sie von ihren Sechsfünfzig in der Woche nichts verschenkte, und ließ ihn Maschinen reparieren und Pläne zur Produktionssteigerung ausarbeiten. Und von der Hausarbeit fiel ihm, je weiter Lilacs Schwangerschaft fortschritt, auch ein immer größerer Teil zu. Er war so erschöpft und gleichzeitig so hellwach wie nie zuvor. An manchen Tagen hatte er alles unendlich satt, und am nächsten Tag war er wieder vollkommen lebendig und seiner Sache sicher.

Er, der Plan, das Projekt, glich einer Maschine, die zu montieren war, und zwar aus Teilen, die erst gefunden oder hergestellt werden und in Form und Größe haargenau zueinander passen mussten.

Bevor er sich über die Zahl der Teilnehmer an der Expedition schlüssig werden konnte, musste er eine klarere Vorstellung von ihrem Endziel haben, und dazu wiederum musste er genauer wissen, wie Uni funktionierte und wo man ihn am besten angreifen konnte.

Er sprach mit Lars Newman, Ashis Freund, der eine Schule leitete. Lars schickte ihn zu einem Mann in Andrait, und der schickte ihn zu einem Mann in Manacor.

»Für die Menge von Informationen, die sie scheinbar ausstießen, waren die Speicher zu klein, das weiß ich«, sagte der Mann in Manacor. Er hieß Newbrook und war beinahe siebzig. Bevor er die Familie verließ, hatte er an einer Technologischen Akademie gelehrt. Er versorgte gerade eine Enkeltochter im Säuglingsalter und wechselte voll Ingrimm ihre Windeln. »Halt still, ja?«, sagte er. »Angenommen, du kommst hinein«, sagte er zu Chip, »dann musst du dich natürlich an die Energiequelle halten. Den Reaktor also oder, was wahrscheinlicher ist, die Reaktoren.«

»Aber die könnten ziemlich schnell ersetzt werden, nicht wahr?«, sagte Chip. »Ich will Uni so lange außer Gefecht setzen, dass die Familie Zeit hat, zu erwachen und zu entscheiden, was sie mit ihm tun will.«

»Verdammt noch mal, halt still!«, sagte Newbrook. »Dann die Gefrieranlage.«

»Die Gefrieranlage?«, sagte Chip.

»Jawohl«, sagte Newbrook. »Die Innentemperatur der Speicher muss nahe beim absoluten Gefrierpunkt liegen. Lass sie um ein paar Grad steigen, und das Röhrennetz – ach, siehst du, was du angerichtet hast? –, das Röhrennetz verliert sein überstarkes Leitungsvermögen. Du löschst Unis Gedächtnis.« Er hob das schreiende Baby hoch, legte es an die Schulter und tätschelte ihm den Rücken. »Pst, pst«, sagte er.

»Für immer?«, fragte Chip.

Newbrook nickte, das schreiende Baby tätschelnd. »Selbst wenn die Gefrieranlage repariert wird«, sagte er, »müssen alle Daten wieder neu eingefüttert werden, und das dauert Jahre.«

»Das ist genau das, was mir vorschwebt«, sagte Chip.

Die Gefrieranlage.

Und die Aushilfsgefrieranlage.

Und die zweite Aushilfsanlage, falls es eine gab.

Drei stillzulegende Gefrieranlagen. Zwei Mann für jede, schätzte er: einer, der die Sprengladungen legte, und einer, der Mitglieder fernhielt. Sechs Mann, um Unis Gefriersystem auszuschalten und seine Eingänge zu verteidigen, denn Unis tauendes, zerrieselndes Gehirn würde natürlich Hilfen herbeizitieren. Konnten sechs Mann die Aufzüge und den Tunnel halten? (Und hatte Papa Jan weitere Schächte in dem zusätzlich ausgehobenen Hohlraum erwähnt?) Aber sechs waren das Minimum, und mit dem Minimum wollte er auskommen. Denn wenn unterwegs ein Mann gefasst wurde, berichtete er den Ärzten alles, und Uni erwartete sie an dem Tunnel. Je weniger Beteiligte, desto geringer die Gefahr. Er und fünf andere.

Der gelbhaarige junge Mann, der das Patrouillenboot der E. H. fuhr – er hieß Vito Newcome, nannte sich aber Dover –, strich die Reling, während er Chip zuhörte, aber dann, als die Rede auf den Tunnel und die echten Gedächtnisspeicher kam, unterbrach er seine Arbeit. Er kauerte auf den Fersen, und der Pinsel baumelte in seiner Hand. Sein kurzer Bart und seine Brust waren weiß gefleckt. Er blickte zu Chip auf und fragte: »Bist du sicher?«

»Absolut«, sagte Chip.

»Es wird auch Zeit, dass man diesem Brudermörder wieder einmal auf die Pelle rückt.« Dover Newcome blickte auf seinen weißverschmierten Daumen und wischte ihn am Hosenbein ab.

Chip kauerte sich neben ihn. »Willst du mitmachen?«, fragte er.

Dover sah ihn an, überlegte einen Moment und nickte. »Ja«, sagte er. »Und ob ich will!«

Ashi lehnte ab. Chip hatte nichts anderes erwartet und ihn auch nur gefragt, weil er es unhöflich gefunden hätte, ihn zu übergehen. »Ich finde, das Risiko lohnt sich einfach nicht«, sagte Ashi. »Aber ich werde dir helfen, wo ich kann. Julia hat mich schon wegen einer Spende angehauen, und ich habe hundert Dollar versprochen. Ich gebe auch mehr, wenn du es brauchst.«

»Fein«, sagte Chip. »Danke, Ashi. Du kannst helfen. Du hast doch Zutritt zur Bibliothek, nicht wahr? Schau nach Landkarten des Gebiets um EUR-Strich-eins. Ob sie aus der Zeit vor oder nach der Vereinigung stammen, ist gleich, aber je größer, desto besser. Karten mit topografischen Einzelheiten.«

Als Julia erfuhr, dass Dover Newcome der Gruppe angehörte, erhob sie Einspruch. »Wir brauchen ihn hier, auf dem Boot«, sagte sie.

»Wenn wir erst fertig sind, ist er überflüssig«, sagte Chip.

»Gott im Himmel«, sagte Julia. »Wie kommen Sie mit so wenig Zuversicht durchs Leben?«

»Ganz einfach: Ich habe einen Freund, der für mich betet«, sagte Chip.

Julia sah ihn kalt an. »Nehmen Sie keinen mehr von der E. H.«, sagte sie, »und keinen aus der Fabrik. Und nehmen Sie keinen mit einer Familie, für die ich vielleicht zum Schluss sorgen muss!«

»Wie kommen Sie nur mit so wenig Gottvertrauen durchs Leben?«, fragte Chip.

Er und Dover sprachen mit dreißig oder vierzig Einwanderern, ohne einen zu finden, der sich an dem Angriff beteiligen wollte. Sie schrieben aus den E. H.-Akten Namen und Adressen von Männern und Frauen über zwanzig und unter vierzig ab, die innerhalb der letzten paar Jahre auf die Freiheits-Insel gekommen waren, und suchten jede Woche sieben oder acht davon auf. Der Sohn von Lars Newman wollte mitkommen, aber er war auf der Insel geboren, und Chip wollte nur Leute, die in der Familie aufgewachsen und an Raster und Gehwege, langsames Schreiten und zufriedenes Lächeln gewöhnt waren.

Er fand eine Firma in Pollensa, die bereit war, Dynamitbomben mit langsamer oder rascher mechanischer Zündung zu liefern, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie von einem Einheimischen mit einer Genehmigung bestellt wurden. In Calvia machte er eine andere Firma ausfindig, die sechs Gasmasken anfertigen wollte. Eine Garantie, dass sie vor LPK schützten, konnten ihm die Verantwortlichen allerdings nur versprechen, wenn er ihnen eine Probe zum Testen mitbrachte. Lilac, die in einem Einwanderer-Krankenhaus arbeitete, fand einen Arzt, der die Formel für LPK kannte, aber keines der chemischen Werke auf der Insel konnte es herstellen, weil eines seiner Hauptbestandteile Lithium war, und Lithium gab es seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr.

Er gab jede Woche eine zweizeilige Anzeige im Einwanderer auf, dass er Overalls, Sandalen und Reisetornister zu kaufen suchte. Eines Tages erhielt er eine Antwort von einer Frau in Andrait, und ein paar Abende später suchte er sie auf, um zwei Tornister und ein Paar Sandalen zu besichtigen. Die Tornister waren schäbig und altmodisch, aber die Sandalen waren gut. Die Frau und ihr Mann fragten, wozu er sie wolle. Das Ehepaar hieß Newbridge, sie waren Anfang dreißig und lebten in einem winzigen, kümmerlichen, rattenverseuchten Kellerloch. Chip sagte ihnen, was er vorhatte, und sie baten, in die Gruppe aufgenommen zu werden, ja, sie bestanden geradezu darauf. Sie sahen vollkommen normal aus, was ein Pluspunkt für sie war, aber die Hektik und übersteigerte Spannung, die von ihnen ausging, störte Chip ein wenig. Eine Woche später besuchte er sie wieder, mit Dover, und diesmal wirkten sie natürlicher und schienen eher infrage zu kommen. Sie hießen Jack und Ria und hatten zwei Kinder gehabt, die beide während der ersten Monate ihres Lebens gestorben waren. Jack war Kanalarbeiter, und Ria arbeitete in einer Spielwarenfabrik. Sie sagten, sie seien gesund, und waren es anscheinend auch.

Chip beschloss, sie – vorläufig wenigstens – zu nehmen, und weihte sie in die Einzelheiten des Plans ein, der allmählich Gestalt annahm.

»Wir sollten das ganze Hurending in die Luft sprengen, nicht nur die Gefrieranlage«, sagte Jack.

»Eines muss euch ganz klar sein«, sagte Chip. »Die Leitung habe ich. Wenn ihr nicht bereit seid, immer genau das zu tun, was ich sage, vergesst ihr am besten die ganze Sache wieder.«

»Nein, du hast vollkommen recht«, sagte Jack. »Bei einem solchen Unternehmen muss ein Mann die Befehlsgewalt haben. Anders geht es nicht«

»Aber Vorschläge können wir doch machen?«, fragte Ria.

»Jede Menge«, sagte Chip. »Aber die Entscheidungen treffe ich, und ihr müsst bereit sein, euch danach zu richten.«

Jack sagte: »Ich bin bereit«, und Ria sagte: »Ich auch.«

Es stellte sich heraus, dass der Eingang des Tunnels schwieriger ausfindig zu machen war, als Chip erwartet hatte. Er trug drei großmaßstäbige Landkarten von Mitteleuropa und eine ganz genaue topografische von der Schweiz, die noch aus der vV-Zeit stammte, zusammen und übertrug sorgfältig Unis Standort auf sie. Dann fragte er frühere Ingenieure und Geologen und einheimische Bergbauingenieure um Rat, aber alle sagten, es seien noch weitere Angaben erforderlich, bevor man den Verlauf des Tunnels mit einiger Aussicht auf Genauigkeit bestimmen könnte. Ashis Interesse an dem Problem erwachte, und er saß manchmal stundenlang in der Bibliothek, um Informationen über »Genf« und das »Jura-Gebirge« aus alten Nachschlagewerken und geologischen Fachbüchern abzuschreiben.

In zwei aufeinanderfolgenden mondhellen Nächten fuhren Chip und Dover in dem E. H.-Boot zu einer Stelle westlich von EUR 91 766 und beobachteten die Kupfer-Lastkähne. Diese fuhren, wie sie feststellten, in Abständen von genau vier Stunden und fünfundzwanzig Minuten. Jedes der niedrigen, flachen, dunklen Fahrzeuge bewegte sich gleichmäßig mit dreißig Stundenkilometer nach Nordwesten, und Wellen, die hinter dem Heck aufschlugen, ließen die Kähne ohne Unterlass auf und ab schwanken. Später kam eines der Fahrzeuge aus der anderen Richtung, diesmal, weil es leer war, weniger tief im Wasser liegend.

Dover berechnete, dass die Lastkähne in Richtung EUR, wenn sie ihre Geschwindigkeit und ihren Kurs beibehielten, nach etwas über sechs Stunden in EUR 91 772 ankamen.

In der zweiten Nacht steuerte er das Boot auf einen Lastkahn zu und fuhr in gleichem Tempo neben ihm her, während Chip an Bord kletterte. Chip fuhr mehrere Minuten auf dem Kahn. Er saß gemütlich auf der Ladung flacher Kupferbarren in hölzernen Verschlägen und stieg dann wieder auf das Boot hinüber.

Lilac fand einen weiteren Mann für die Gruppe, einen Pfleger aus dem Krankenhaus. Er hieß Lars Newstone und nannte sich Buzz, war sechsunddreißig – so alt wie Chip – und größer als normal; ein ruhiger Mensch, der einen tüchtigen Eindruck machte. Er war seit neun Jahren auf der Insel und seit drei Jahren in dem Krankenhaus, wo er sich gewisse medizinische Kenntnisse angeeignet hatte. Er war verheiratet, lebte aber von seiner Frau getrennt. Wie er sagte, wollte er sich der Gruppe anschließen, weil er immer gedacht hatte, »jemand müsse etwas tun oder wenigstens einen Versuch unternehmen«. »Es ist falsch«, sagte er, »Uni die Welt zu überlassen, ohne zu versuchen, sie zurückzuerobern.«

»Er ist in Ordnung. Genau der Mann, der uns fehlt«, sagte Chip zu Lilac, nachdem Buzz ihr Zimmer verlassen hatte. »Wenn ich nur anstelle der Newmarks noch zwei wie ihn hätte. Ich danke dir.«

Lilac stand am Ausguss und spülte Tassen, ohne ein Wort zu sagen. Chip ging zu ihr, fasste sie um die Schultern und küsste sie aufs Haar. Sie war im siebten Monat, dick und schwerfällig.

Ende März gab Julia eine Dinner-Party, bei der Chip seinen Plan, mit dem er sich nun seit vier Monaten beschäftigte, den Gästen vortrug – lauter Einheimische mit Geld, die alle für eine Spende von mindestens fünfhundert Dollar gut waren, wie Julia sagte. Er überreichte ihnen Durchschläge einer Liste aller anfallenden Kosten und führte seine Landkarte von der »Schweiz« vor, auf der die ungefähre Lage des Tunnels eingetragen war.

Julias Gäste zeigten sich weniger aufgeschlossen, als Chip erwartet hatte.

»Dreitausendsechshundert für Sprengstoff?«, fragte einer.

»Jawohl, Sir«, sagte Chip. »Wenn jemand weiß, wo wir ihn billiger bekommen können, lasse ich mich gern belehren.«

»Was ist das – Tornister-Verstärkung?«

»Die Tornister, die wir tragen werden, sind nicht für schwere Lasten gemacht. Sie müssen zerlegt und über einem Metallrahmen neu zusammengenäht werden.«

»Ihr Leute könnt doch keine Pistolen und Bomben kaufen, oder?«

»Den Einkauf übernehme ich«, sagte Julia, »und bis zum Aufbruch der Expedition bleibt alles auf meinem Grund und Boden. Ich habe die Genehmigung dazu.«

»Wann glaubt ihr, dass ihr losziehen könnt?«

»Ich weiß nicht«, sagte Chip. »Auf die Gasmasken müssen wir noch drei Monate warten, wenn sie bestellt sind. Und wir müssen noch einen Mann finden und ausbilden. Ich hoffe, im Juli oder August sind wir so weit.«

»Sind Sie sicher, dass der Tunnel wirklich hier ist?«

»Nein, damit beschäftigen wir uns noch. Das ist nur eine Schätzung.« Fünf der Gäste brachten Ausreden vor, und sieben überreichten Schecks über insgesamt zweitausendsechshundert Dollar – weniger als ein Viertel der erforderlichen elftausend.

»Diese Lunki-Hunde«, sagte Julia.

»Immerhin ist es ein Anfang«, sagte Chip. »Wir können beginnen, Bestellungen aufzugeben. Und Hauptmann Gold anheuern.«

»Wir werden es in ein paar Wochen noch einmal versuchen«, sagte Julia. »Warum waren Sie so nervös? Sie müssen überzeugender sprechen!«

Das Baby kam zur Welt. Es war ein Junge, und sie nannten ihn Jan. Seine Augen waren beide braun.

Sonntags und mittwochs übten Chip, Dover, Buzz, Jack und Ria abends auf einem unbenutzten Speicher in Julias Fabrik verschiedene Kampfmethoden. Ihr Lehrer, Hauptmann Gold, war ein kleiner, immer lächelnder Armeeoffizier, der sie offensichtlich nicht leiden konnte und es genoss, wenn sie sich auf seinen Befehl hin schlugen und einander auf dünne Matten auf dem Fußboden warfen. »Schlagen! Schlagen! Schlagen!«, schrie er, während er im Unterhemd und in Armeehosen vor ihnen auf- und niederhüpfte. »Schlagen! So! Das ist ein Schlag, nicht das! So versetzt man einem einen Schwinger! Allmächtiger Gott, ihr seid hoffnungslose Fälle, ihr Stahlinge! Komm, los, Grünauge, schlag ihn!« Chip zielte mit der Faust auf Jack und flog durch die Luft und lag mit dem Rücken auf der Matte.

»Du hast es raus!«, sagte Hauptmann Gold. »Das hat direkt ein bisschen menschlich ausgesehen! Steh auf, Grünauge, du bist nicht tot! Was hab ich dir übers Abducken gesagt?«

Jack und Ria lernten am raschesten, Buzz am langsamsten.

Julia gab wieder ein Abendessen, bei dem Chip überzeugender sprach, und sie nahmen dreitausendzweihundert Dollar ein.

Das Baby war krank – es hatte Fieber und eine Magenentzündung, aber es erholte sich wieder und sah gesund und glücklich aus, wenn es hungrig an Lilacs Brust saugte. Lilac war herzlicher als früher. Sie freute sich über das Baby und hörte Chip interessiert zu, wenn er erzählte, wie sie Geld auftrieben und der Plan allmählich Wirklichkeit wurde.

Chip fand einen sechsten Mann, einen Arbeiter auf einem Bauernhof bei Santany. Er war kurz vor Chip und Lilac aus Afr gekommen. Zwar war er ein wenig älter, als Chip lieb war – dreiundvierzig –, aber stark und beweglich und fest überzeugt, dass Uni zu besiegen sei. Er war in der Familie in der Chromotomikrographie tätig gewesen und hieß Morgan Newmark, nannte sich aber immer noch Karl, wie in der Familie.

Ashi sagte: »Ich glaube, jetzt könnte ich den verdammten Tunnel selbst finden«, und übergab Chip zwanzig Seiten voll Notizen, die er sich aus den Büchern in der Bibliothek gemacht hatte. Chip ging mit den Notizen und den Landkarten zu den Leuten, die er schon früher um Rat gefragt hatte, und drei von ihnen erklärten sich nun bereit, einen Plan anzufertigen, wie der Tunnel wahrscheinlich verlief. Jeder von ihnen verlegte – was nicht überraschend war – den Eingang des Tunnels an eine andere Stelle. Zwei lagen nur einen Kilometer auseinander, der dritte sechs Kilometer davon entfernt. »Das reicht, wenn wir keine bessere Information auftreiben können«, sagte Chip zu Dover.

Die Firma, die die Gasmasken anfertigte, stellte den Betrieb ein, ohne die achthundert Dollar Vorschuss zurückzuzahlen, und ein anderer Hersteller musste gefunden werden.

Chip ging wieder zu Newbrook, dem ehemaligen Lehrer an der Technologischen Akademie, und sprach mit ihm über die Art von Gefrieranlagen, die Uni vermutlich hatte. Julia gab wieder ein Abendessen und Ashi eine Party. Weitere dreitausend Dollar kamen zusammen. Buzz hatte einen Zusammenstoß mit einer Bande Einheimischer, und obwohl er sich, zu ihrer Überraschung, kräftig wehrte, trug er zwei zersplitterte Rippen und ein gebrochenes Schienbein davon. Jeder begann nach einem Ersatzmann zu suchen, für den Fall, dass er nicht mitkommen konnte.

Eines Nachts weckte Lilac Chip auf.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Chip«, sagte sie.

»Ja?« Er hörte den schlafenden Jan in seiner Wiege atmen.

»Wenn du recht hast«, sagte sie, »und diese Insel ein Gefängnis ist, in das Uni uns gesteckt hat –«

»Ja?«

»Und früher schon Angriffe von dieser Insel aus geführt wurden –«

»Ja?«, sagte er.

Sie verstummte – er sah, wie sie mit offenen Augen auf dem Rücken lag –, und dann sagte sie: »Würde Uni nicht andere Leute hierher bringen, ›gesunde‹ Mitglieder, die ihn vor weiteren Angriffen warnen?«

Er sah sie wortlos an.

»Die sich vielleicht – daran beteiligen«, sagte sie, »und dafür sorgen, dass in EUR allen ›geholfen‹ wird?«

»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein. Sie müssten Behandlungen bekommen, um ›gesund‹ zu bleiben, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie.

»Glaubst du, dass hier irgendwo ein geheimes Medizentrum steht?«, fragte er lächelnd.

»Nein.«

»Nein«, sagte er, »ich bin sicher, dass es hier keine – ›Spione‹ gibt. Bevor Uni solche Umstände machte, würde er die Unheilbaren einfach so umbringen, wie Ashi und du meinen.«

»Woher weißt du das?«, sagte sie.

»Lilac, es gibt keine Spione«, sagte er. »Du suchst nur nach etwas, worüber du dir Sorgen machen kannst. Schlaf jetzt, komm. Jan wird bald aufwachen, schlaf ein.« Er küsste sie, und sie drehte sich um. Nach einer Weile war sie anscheinend eingeschlafen.

Er blieb wach.

Es konnte nicht sein. Sie würden Behandlungen brauchen ...

Wie vielen Leuten hatte er von dem Plan, dem Tunnel und den echten Gedächtnisspeichern erzählt?

Er hatte keine Ahnung. Hunderten! Und jeder musste anderen etwas davon gesagt haben ...

Er hatte sogar die Anzeige im Einwanderer aufgegeben: Kaufe Tornister, Ovis, Sandalen ...

Jemand in der Gruppe? Nein. Dover? – Unmöglich! Buzz? – Nein, niemals. Jack oder Ria? – Nein. Karl? Ihn kannte er noch nicht so gut – er war nett, redete viel, trank ein wenig mehr, als ihm guttat, aber nicht so viel, dass es besorgniserregend war – nein, Karl konnte nichts anderes sein, als was er zu sein schien: ein Arbeiter auf einem einsamen Bauernhof.

Julia? Er hatte den Verstand verloren. Christus und Wei! Gott im Himmel!

Lilac machte sich zu viele Sorgen, das war alles.

Es konnte keine Spione geben, Leute, die heimlich auf Unis Seite standen, denn sie würden Behandlungen brauchen, damit sie sich nicht änderten.

Er machte weiter, ganz gleich, was geschah.

Er schlief ein.

Die Bomben kamen. Eine schwarze Walze, um die kreisförmig ein Bündel dünner, brauner Stifte befestigt war. Sie wurden in einem Schuppen hinter der Fabrik aufbewahrt. Jede Bombe hatte an der Seite einen schmalen Metallauswuchs, entweder blau oder gelb. Die blauen waren Dreißig-Sekunden-Zünder, die gelben Vier-Minuten-Zünder.

Nachts in einem Marmorbruch probierten sie eine Bombe aus. Sie steckten sie in eine Spalte und zogen, hinter einem Stoß behauener Steinblöcke versteckt, mit einem fünfzig Meter langen Draht den blauen Zünder. Die Explosion glich einem Erdbeben, und wo die Spalte gewesen war, klaffte ihnen hinter einer Staubwolke ein Loch in Türgröße entgegen, aus dem Schutt rieselte.

Sie schnallten mit Steinen gefüllte Tornister um und fuhren – alle außer Buzz – mit dem Rad in die Berge. Hauptmann Gold zeigte ihnen, wie man Pistolen mit Kugeln lädt und einen L-Strahl einstellt, wie man spannt, zielt und schießt – auf Bretter, an der Wand hinter der Fabrik.

»Geben Sie noch ein Abendessen?«, fragte Chip Julia.

»In ein oder zwei Wochen«, sagte sie.

Aber sie tat es nicht. Sie sprach nicht mehr von Geld, und er auch nicht. Er verbrachte einige Zeit mit Karl und gewann die Überzeugung, dass er kein »Spion« war.

Das Bein von Buzz verheilte fast vollständig, und er behauptete hartnäckig, er könne mitkommen.

Die Gasmasken und die restlichen Pistolen trafen ein und die Werkzeuge und Schuhe und Rasiermesser, die Plastikdecken, die umgearbeiteten Tornister, die Uhren und die Spulen dicken Drahts, das aufblasbare Floß, die Schaufel, die Kompasse und die Feldstecher.

»Versuch mich zu treffen«, sagte Hauptmann Gold, und Chip schlug zu und spaltete ihm die Lippe.

Es dauerte bis November, fast ein Jahr, bis alles erledigt war, und Chip beschloss, zu warten und an Weihnachten aufzubrechen, die Reise nach ’001 am Feiertag anzutreten, wenn auf Radfahr- und Gehwegen, Wagenstationen und Flughäfen viel Betrieb war, die Mitglieder sich ein bisschen weniger langsam als sonst bewegten und selbst ein gesundes Mitglied vielleicht an einem Raster danebengriff.

Am Sonntag vor ihrem Aufbruch trugen sie alles vom Schuppen auf den Speicher und packten die Tornister und die Zweit-Tornister, die sie bei der Landung auspacken würden. Julia war da und Lars Newmans Sohn John, der das E.H.-Boot zurückbrachte, und Dovers Freundin Nella; sie war zweiundzwanzig und gelbhaarig wie er und sehr aufgeregt. Ashi schaute vorbei und Hauptmann Gold. »Ihr seid verrückt, ihr seid alle verrückt«, sagte er, und Buzz sagte: »Hau ab, du Lunki!« Als sie fertig waren und jeden Tornister in Plastikdecken gehüllt und verschnürt hatten, bat Chip alle, die nicht zur Gruppe gehörten, hinauszugehen. Er versammelte die Gruppe auf den Matten im Kreis um sich.

»Ich habe viel darüber nachgedacht, was passiert, wenn einer von uns gefasst wird«, sagte er, »und Folgendes beschlossen: Wenn einer, auch nur einer, gefasst wird – kehren alle anderen um.« Sie sahen ihn an. Buzz sagte: »Nach all dem?«

»Ja«, sagte Chip. »Wir haben keine Chance, wenn einer behandelt wird und dem Arzt erzählt, dass wir durch den Tunnel einsteigen. Also gehen wir schnell und leise zurück und suchen ein Boot. Ich möchte sogar versuchen, bei der Landung, bevor wir uns auf den Weg machen, eines für diesen Zweck ausfindig zu machen.«

»Christus und Wei!«, sagte Jack. »Klar, wenn drei oder vier gefasst werden, aber einer

»So habe ich es beschlossen«, sagte Chip. »Und so ist es richtig.«

Ria sagte: »Was ist, wenn du gefasst wirst?«

»Dann übernimmt Buzz das Kommando«, sagte Chip. »Aber vorläufig gilt mein Wort: Wenn einer gefasst wird, kehren wir alle um.«

Karl sagte: »Also aufpassen, dass keiner geschnappt wird.«

»Richtig«, sagte Chip. Er stand auf.

»Das ist alles«, sagte er. »Schlaft euch gut aus. Mittwoch um sieben.«

»Woodstag«, sagte Dover.

»Woodstag, Woodstag, Woodstag«, sagte Chip. »Woodstag um sieben.«

Er küsste Lilac, als ob er nur zu einem Besuch wegginge und in ein paar Stunden zurückkäme. »Wiedersehen, Schatz«, sagte er.

Sie umarmte ihn und legte ihre Wange an seine und sagte kein Wort. Er küsste sie noch einmal, befreite sich aus ihren Armen und ging zu der Wiege. Jan grapschte eifrig nach einer leeren Zigarettenschachtel, die an einem Faden hing. Chip küsste ihn auf die Wange und sagte ihm Lebewohl.

Lilac kam zu ihm, und er küsste sie. Sie hielten sich umschlungen und küssten einander, und dann ging er hinaus, ohne sich nach ihr umzudrehen.

Ashi wartete unten auf seinem Motorrad. Er fuhr Chip nach Pollensa, zum Landeplatz.

Um Viertel vor sieben waren sie alle im E. H.-Büro, und während sie einander die Haare schnitten, kam der Lastwagen. John Newman und ein Mann aus der Fabrik luden die Tornister und das Floß ins Boot, und Julia packte belegte Brote und Kaffee aus. Die Männer schnitten sich die Haare und rasierten sich das Gesicht glatt.

Sie legten Armbänder an und schlossen die Glieder, die wie normale aussahen. Auf Chips Armband stand Jesus AY31G6912.

Er sagte Ashi Lebewohl und küsste Julia. »Packt eure Tornister und bereitet euch auf die weite Welt vor«, sagte er.

»Seid vorsichtig«, sagte Julia. »Und versucht zu beten.«

Er sprang ins Boot und setzte sich vor die Tornister neben John Newman und die anderen – Buzz und Karl, Jack und Ria. Mit ihren kurz geschnittenen Haaren und ihren bartlosen Gesichtern sahen sie einander merkwürdig ähnlich, wie Familienmitglieder.

Dover ließ das Boot an und steuerte es aus dem Hafen, dann hielt er auf den schwachen orangeroten Lichtschein zu, der von ’91 766 kam.