Zweiter Teil: Erwachen

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Zwischen Juli 153 und Marx 162 hatte Chip vier Posten inne: Zwei in Forschungslaboratorien in USA, einen – nur kurze Zeit – am Institut für Genetische Steuerung in IND, wo er eine Vorlesungsreihe über neue Fortschritte der Mutationsbeeinflussung hörte; und endlich arbeitete er fünf Jahre in einem Werk in CHI, das chemische Kunststoffe produzierte. Er wurde zweimal befördert, und 162 war er genetischer Taxonomist zweiter Klasse.

In diesen Jahren war er nach außen hin ein normales und zufriedenes Mitglied der Familie. Er verrichtete seine Arbeit ordentlich, nahm an Sport- und Erholungsprogrammen teil, hatte einmal pro Woche Geschlechtsverkehr, telefonierte jeden Monat mit seinen Eltern, die er alle zwei Jahre besuchte, und kam immer pünktlich zum Fernsehen, zu seinen Behandlungen und den Sitzungen mit seinem Berater, dem er keine körperlichen oder seelischen Beschwerden zu melden hatte.

Innerlich jedoch war er keineswegs normal. Das Schuldgefühl, das ihn seit seinem Abgang von der Akademie begleitete, hatte ihn dazu verleitet, sich seinem nächsten Berater nicht anzuvertrauen; denn er wollte das Gefühl nicht loswerden. Zwar war es kein angenehmes Gefühl, aber doch das stärkste, das er je erlebt hatte, und seltsamerweise bildete es eine Erweiterung seines Bewusstseins. Und weil er sich gegen seinen Berater verschloss – indem er keine Beschwerden meldete und die Rolle eines gelösten und zufriedenen Mitglieds spielte –, war es im Lauf der Jahre dazu gekommen, dass er sich gegen jeden in seiner Umgebung verschloss und den Dingen ganz allgemein mit gesteigerter Wachsamkeit und Vorsicht gegenüberstand. Schließlich erschien ihm alles fragwürdig: Vollnahrungskuchen und Overalls, die Gleichförmigkeit im Wohnen und Denken der Mitglieder und besonders seine Arbeit, denn er sah, dass sie nur einem Zweck diente: die universelle Gleichschaltung zu vollziehen. Natürlich konnte man sich keine anderen Alternativen vorstellen, aber er verschloss sich weiterhin und grübelte. Nur die ersten paar Tage nach den Behandlungen war er wirklich das Mitglied, das er vorgab zu sein.

Nur eines gab es auf der Welt, das unzweifelhaft richtig war: Karls Zeichnung von dem Pferd. Er rahmte sie – den Rahmen holte er nicht aus der Versorgungszentrale, sondern bastelte ihn selbst aus Holzstreifen, die er von der Rückseite einer Schublade abgelöst und glatt gefeilt hatte – und hängte sie in seinen Zimmern in USA, in IND und in CHI auf. Sie war viel erfreulicher anzusehen als Wei spricht zu den Chemotherapeuten oder Marx beim Schreiben oder Christus vertreibt die Wechsler aus dem Tempel.

In CHI dachte er ans Heiraten, aber nachdem ihm mitgeteilt wurde, er sei nicht zur Fortpflanzung ausersehen, fand er seine Absicht nicht mehr sehr sinnvoll.

Mitte Marx 162, kurz vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, wurde er an das Institut für Genetische Steuerung in IND 26 110 zurückversetzt und einem neu errichteten Gen-Unterteilungs-Zentrum zugewiesen. Neue Mikroskope hatten Unterschiede zwischen bisher identisch erscheinenden Genen gefunden, und er war einer von vierzig 663B’s und C’s, die sich mit der Feststellung dieser Unterschiede befassten. Weil sein Zimmer vier Gebäude von dem Zentrum entfernt lag, musste er zweimal am Tag einen kurzen Fußmarsch hinter sich bringen. Er fand eine Freundin, die ein Stockwerk unter ihm wohnte. Sein Berater hieß Bob RO und war ein Jahr jünger als er selbst. Das Leben ging anscheinend weiter wie zuvor.

Eines Abends im April jedoch, als er gerade vor dem Zubettgehen die Zähne putzen wollte, fand er ein kleines weißes Etwas in seinem Mundstück. Verblüfft zog er es heraus. Es war ein dreifach gefaltetes, eng zusammengerolltes Stück Papier. Er stellte das Mundstück ab und entfaltete ein dünnes, weißes Rechteck, auf dem getippt stand: Du scheinst ein recht ungewöhnliches Mitglied zu sein. Zum Beispiel überlegst Du Dir, welche Klassifizierung Du aussuchen würdest. Hättest Du Lust, ein paar andere ungewöhnliche Mitglieder kennenzulernen? Lass es Dir einmal durch den Kopf gehen. Du bist nur zum Teil lebendig. Wir können Dir mehr helfen, als Du für möglich hältst.

Das Briefchen überraschte ihn, weil es so viel Kenntnis von seiner Vergangenheit verriet, und es verwirrte ihn, weil es so geheimnisvoll war. Und was sollte die merkwürdige Behauptung »Du bist nur zum Teil lebendig« bedeuten, was die ganze seltsame Botschaft? Und wer hatte sie – ausgerechnet – in sein Mundstück gelegt? Aber dann fiel ihm ein, dass es gar keinen besseren Platz gab, um sicherzugehen, dass er und niemand anderes sie fand. Wer also hatte sie schlauerweise dorthin gelegt? Jeder hätte im Laufe des Tages oder früher am Abend in sein Zimmer kommen können. Mindestens zwei Mitglieder waren tatsächlich hier gewesen. Auf seinem Schreibtisch hatten Zettel von seiner Freundin Peace SK und von der Sekretärin des Foto-Klubs gelegen.

Er putzte sich die Zähne, ging ins Bett und las das Briefchen noch einmal. Sein Verfasser oder eines der anderen »ungewöhnlichen Mitglieder« musste Zugang zu UniComps Erinnerung an die Selbstklassifizierungs-Träume seiner Jugend gehabt haben, und das genügte der Gruppe anscheinend, um in ihm einen Gleichgesinnten zu sehen. War er das? Sie waren anormal, das stand fest! Aber was war er? War er nicht auch anormal? Wir können Dir mehr helfen, als Du für möglich hältst. Was sollte das heißen? Wie helfen? Wobei helfen? Und was sollte er tun, falls er sie wirklich kennenlernen wollte? Anscheinend nur warten – auf eine neue Botschaft, irgendeine neue Kontaktaufnahme. Lass es Dir einmal durch den Kopf gehen, stand auf dem Zettel.

Der letzte Gong ertönte, und er rollte das Papier wieder zusammen und steckte es in den Rücken des Buches auf seinem Nachttisch, Weis lebendige Weisheit. Er knipste das Licht aus und lag wach und dachte über die Botschaft nach. Sie war beunruhigend, aber doch interessant, und sie war einmal etwas anderes. Hättest Du Lust, ein paar andere ungewöhnliche Mitglieder kennenzulernen?

Bob RO sagte er nichts davon. Jedes Mal, wenn er in sein Zimmer zurückkam, suchte er nach einem neuen Zettel in seinem Mundstück, fand aber keinen. Auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause, beim Fernsehen im Aufenthaltsraum, und wenn er im Speisesaal oder in der Versorgungszentrale in der Schlange der Wartenden stand, beobachtete er die Mitglieder in seiner Nähe aufmerksam. Er lauerte auf eine bedeutungsvolle Bemerkung, nur einen Blick vielleicht oder eine Kopfbewegung, die ihn aufforderte, jemandem zu folgen. Nichts geschah.

Vier Tage vergingen, und er begann zu glauben, die Botschaft sei ein Scherz eines kranken Mitgliedes gewesen oder, schlimmer noch, irgendeine Art von Prüfung. Hatte Bob RO sie selbst geschrieben, um zu sehen, ob er sie erwähnen würde? Nein, das war lächerlich! Er wurde allmählich wirklich krank.

Er war neugierig gewesen – erregt sogar und voll Hoffnung, wenn er auch nicht wusste, worauf – aber nun, als ein Tag nach dem anderen verging, wurde er enttäuscht und gereizt.

Und dann, eine Woche nach der ersten Botschaft, geschah es: Dasselbe dreifach gefaltete, zusammengerollte Blatt Papier lag in seinem Mundstück. Er zog es heraus, und seine hoffnungsvolle Erregung stellte sich augenblicklich wieder ein. Er rollte das Papier auseinander und las: Wenn Du uns treffen und erfahren willst, wie wir Dir helfen können, dann sei morgen Abend um 11.15 am Unteren Christus-Platz, zwischen den Gebäuden J 16 und J 18. Berühre auf dem Weg dorthin keine Raster. Wenn vor einem, den Du passieren musst, Mitglieder in Sichtweite sind, dann gehe durch eine andere Straße. Ich werde bis 11.30 warten. Unterzeichnet war der Brief mit einem maschinegeschriebenen Snowflake.

Nur wenige Mitglieder befanden sich auf der Straße, und sie strebten ihren Betten zu, ohne nach links oder rechts zu blicken. Er musste nur einmal einen Umweg machen, ging schneller und erreichte den Unteren Christus-Platz genau um 11.15. Er überquerte die weiße, mondhelle Fläche mit dem abgestellten Springbrunnen, in dem sich der Mond spiegelte, und fand J 16 und die dunkle Gasse, die es von J 18 trennte.

Es war niemand da – aber dann erblickte er, tief im Schatten, einen weißen Overall mit einem Zeichen, das wie das rote Kreuz der Medizentrum-Mitglieder wirkte. Er schritt in das Dunkel hinein, auf das Mitglied zu, das schweigend an der Mauer von J 16 stand.

»Snowflake?«, fragte er.

»Ja«, es war eine Frauenstimme. »Hast du einen Raster berührt?«

»Nein.«

»Komisches Gefühl, nicht wahr?« Sie trug eine Art Maske, blass und dünn und eng anliegend.

»Ich habe es schon früher getan«, sagte er.

»Umso besser.«

»Nur einmal, und da hat mich jemand gestoßen«, sagte er. Sie schien älter als er, aber er wusste nicht, um wie viel.

»Wir gehen zu einem Ort, der fünf Minuten von hier entfernt ist«, sagte sie. »Dort kommen wir regelmäßig zusammen. Wir sind zu sechst, vier Frauen und zwei Männer – ein fürchterliches Verhältnis. Ich hoffe, dass du es verbessern wirst. Wir werden dir einen bestimmten Vorschlag machen. Wenn du darauf eingehst, könntest du einer der unseren werden; wenn nicht, dann wird unsere Begegnung heute Nacht die letzte gewesen sein. In diesem Fall können wir aber nicht zulassen, dass du weißt, wie wir aussehen oder wo wir zusammenkommen.« Sie zog etwas Weißes aus der Tasche. »Ich muss dir die Augen verbinden«, sagte sie. »Deshalb trage ich den Medizentrum-Ovi, damit ich dich führen kann, ohne dass es auffällt.«

»Um diese Zeit?«

»Wir haben es schon früher gemacht und keine Schwierigkeiten gehabt«, sagte sie. »Du hast doch nichts dagegen?«

Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht.«

»Leg das auf die Augen.« Sie gab ihm zwei Wattebäusche. Er schloss die Augen, legte die Bäusche auf und hielt sie mit den Fingern fest. Sie begann eine Binde um seinen Kopf und über die Wattebäusche zu wickeln, er nahm seine Finger weg und neigte den Kopf, um ihr zu helfen. Sie wand die Binde immer weiter um seinen Kopf, bis auch seine Stirn und seine Wangen bedeckt waren.

»Bist du wirklich nicht vom Medizentrum?«, fragte er.

Sie kicherte und sagte: »Bestimmt nicht!« Sie zog das Ende der Binde stramm und steckte es fest, drückte ihm den Verband noch einmal ordentlich gegen das Gesicht und die Augen und nahm dann seinen Arm. Sie drehte ihn um – in Richtung Christus-Platz, das wusste er – und begann ihn zu führen.

»Vergiss deine Maske nicht«, sagte er.

Sie blieb kurz stehen. »Gut, dass du mich daran erinnerst, danke«, sagte sie. Ihre Hand ließ seinen Arm los und kam einen Augenblick später wieder zurück. Sie schritten voran.

Der Klang ihrer Schritte veränderte sich, hallte im Raum, und ein Lufthauch kühlte sein Gesicht unter dem Verband – sie waren auf dem Platz. »Snowflakes« Hand auf seinem Arm zog ihn schräg nach links, in die Richtung, die vom Institut wegführte.

»Wenn wir an unserem Ziel angekommen sind«, sagte sie, »werde ich ein Stück Pflaster über dein Armband kleben; über meines auch. Wir vermeiden nach Möglichkeit, die NN’s der anderen zu kennen. Ich kenne deine – ich war diejenige, die dich ausfindig gemacht hat –, aber die anderen nicht. Sie wissen nur, dass ich ihnen ein vielversprechendes Mitglied bringe. Später müssen vielleicht einer oder zwei Bescheid wissen.«

»Prüfst du die Daten von jedem, der hierher versetzt wird?«

»Nein. Wieso?«

»Hast du mich nicht ›ausfindig‹ gemacht, weil du darauf gestoßen bist, dass ich daran gedacht habe, mich selbst zu klassifizieren?«

»Hier geht es drei Stufen hinunter«, sagte sie. »Nein, das war nur die Bestätigung. Und zwei und drei. Was mir auffiel, war dein Blick, der Blick eines Mitglieds, das nicht hundertprozentig im Schoß der Familie ruht. Du wirst auch lernen, ihn zu erkennen, wenn du dich uns anschließt. Ich fand heraus, wer du bist, und dann ging ich in dein Zimmer und sah das Bild an der Wand.«

»Das Pferd?«

»Nein, Marx beim Schreiben«, sagte sie. »Natürlich das Pferd. Du hast es so gezeichnet, wie es einem normalen Mitglied nicht einmal im Traum einfallen würde. Dann, nachdem ich das Bild gesehen hatte, habe ich deine Daten geprüft.«

Sie verließen den Platz und befanden sich auf den Gehwegen westlich davon – K oder L, das wusste er nicht genau.

»Du hast dich geirrt«, sagte er. »Das Bild hat ein anderer gezeichnet.«

»Du hast es gezeichnet!«, sagte sie. »Du hast Kohlestifte und Skizzenblöcke beantragt.«

»Für das Mitglied, von dem die Zeichnung stammt, einen Freund von der Akademie.«

»Ach, das ist ja interessant«, sagte sie. »Du hast mit Anträgen gemogelt! Ein besseres Zeichen gibt es überhaupt nicht! Auf jeden Fall gefiel dir das Bild so gut, dass du es aufgehoben und gerahmt hast. Oder hat den Rahmen auch dein Freund gemacht?«

Er lächelte. »Nein, das war ich«, sagte er. »Dir ist nichts entgangen.«

»Hier gehen wir nach rechts.«

»Bist du Beraterin?«

»Ich? Hass, nein.«

»Aber du hast Einsicht in die Lebensdaten?«

»Gelegentlich.«

»Bist du am Institut?«

»Frag nicht so viel«, sagte sie. »Hör mal, wie sollen wir dich nennen anstatt Li RM?«

»Oh, Chip«, sagte er.

»Chip? Nein«, sagte sie, »sag nicht einfach, was dir als Erstes einfällt. Du solltest ›Pirat‹ oder ›Tiger‹ heißen oder so ähnlich. Die anderen heißen King und Lilac und Leopard und Hush und Sparrow.«

»Chip wurde ich als Junge genannt«, sagte er. »Ich bin daran gewöhnt.«

»Na schön«, sagte sie, »aber ich hätte mir etwas anderes ausgesucht. Weißt du, wo wir sind?«

»Nein.«

»Gut. Jetzt nach links.«

Sie schritten durch eine Tür, Stufen empor, durch eine andere Tür in eine Art großen Saal, in dem ihre Schritte laut widerhallten. Sie wechselten immer und immer wieder die Richtung, als ob sie an einer Reihe unregelmäßig platzierter Gegenstände vorübergingen. Sie stiegen eine stillstehende Rolltreppe hoch und schritten dann einen, Flur entlang, der nach rechts abbog.

Sie hielt ihn an und verlangte sein Armband. Er hob sein Handgelenk hoch, und sein Armband wurde gedrückt und gerieben. Er berührte es – an der Stelle seiner NN war alles glatt. Durch diese Veränderung und seine Blindheit fühlte er sich plötzlich ganz körperlos, als ob er gleich vom Boden empor und durch die Wände ins All hinausschweben und sich in Nichts auflösen müsste.

Sie nahm wieder seinen Arm. Sie gingen weiter und blieben stehen. Er vernahm ein Klopfen, dann zwei weitere Klopfzeichen; eine Tür wurde geöffnet, Stimmen verstummten. »Hallo«, sagte sie und führte ihn weiter nach vorne. »Das ist Chip. Anders tut er es nicht.«

Stühle wurden gerückt, Stimmen begrüßten ihn. Eine Hand ergriff die seine und schüttelte sie. »Ich bin King«, sagte ein Mitglied, ein Mann. »Ich freue mich, dass du dich entschlossen hast, zu kommen.«

»Danke«, sagte Chip.

Eine andere Hand ergriff die seine. Ihr Druck war kräftiger. »Snowflake sagt, du seist ein richtiger Künstler« – ein Mann, der älter war als King. »Ich bin Leopard.«

Andere Hände kamen schnell auf ihn zu – Frauenhände. »Grüß dich, Chip. Ich bin Lilac.« »Und ich bin Sparrow. Ich hoffe, du gehörst bald ganz zu uns.« »Ich bin Hush, Leopards Frau. Grüß dich.« Ihre Hand und ihre Stimme waren alt, die beiden anderen Frauen waren jung.

Er wurde zu einem Stuhl geführt und daraufgesetzt. Er streckte die Hände aus und stieß an eine glatte, leere Tischplatte mit leicht geschwungener Kante. Vermutlich war es ein ovaler oder ein großer runder Tisch. Die anderen setzten sich, rechts von ihm Snowflake, die sprach, links jemand anderes. Er roch, dass etwas brannte, schnupperte, um sicher zu sein. Keiner der anderen schien etwas zu merken. »Hier brennt etwas«, sagte er.

»Tabak«, sagte die alte Frau, Hush, links von ihm.

»Tabak?«

»Wir rauchen ihn«, sagte Snowflake. »Möchtest du versuchen?«

»Nein«, sagte er.

Ein paar von ihnen lachten. »Man stirbt nicht wirklich davon«, sagte King, weiter links. »Ich nehme sogar an, dass er in mancher Hinsicht heilsam wirkt.«

»Es ist ein richtiger Genuss«, sagte eine der jungen Frauen auf der anderen Seite des Tisches.

»Nein, danke«, sagte er.

Sie lachten wieder und machten ihre Bemerkungen, dann verstummten sie nacheinander. Seine rechte Hand auf der Tischplatte wurde von Snowflakes Hand bedeckt. Er hätte sie gern weggezogen, beherrschte sich jedoch. Es war dumm gewesen, zu kommen. Was hatte er hier zu suchen, blind zwischen diesen kranken Mitgliedern mit ihren falschen Namen sitzend? Im Vergleich zu ihnen war seine Anormalität nicht der Rede wert. Tabak! Das Zeug war vor hundert Jahren ausgerottet worden. Woher, zum Hass, hatten sie ihn bekommen?

»Entschuldige den Verband, Chip«, sagte King. »Ich nehme an, Snowflake hat dir erklärt, warum er notwendig ist.«

»Ja«, sagte Chip, und Snowflake sagte: »Ich habe es ihm erklärt.« Sie ließ Chips Hand los, und er nahm sie vom Tisch und umklammerte damit seine Hand in seinem Schoß.

»Wir sind anormale Mitglieder – das ist wohl nicht zu übersehen«, sagte King. »Wir tun viele Dinge, die allgemein als krankhaft betrachtet werden. Aber wir glauben, wir wissen, dass sie das nicht sind.« Seine Stimme war kräftig und tief und gebieterisch. Chip stellte ihn sich als großen, wuchtigen Mann um die vierzig vor. »Ich werde nicht auf zu viele Einzelheiten eingehen«, sagte er, »weil du in deinem derzeitigen Zustand darüber schockiert und entsetzt wärst, genau wie offenbar schon über die Tatsache, dass wir Tabak rauchen. Du wirst die Einzelheiten in der Zukunft selbst herausfinden, falls es, was dich und uns betrifft, eine Zukunft gibt

»Wie meinst du das«, sagte Chip, »in meinem derzeitigen Zustand?«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Während du durch deine letzte Behandlung betäubt und normalisiert bist«, sagte King.

Chip saß ruhig da, das Gesicht in Kings Richtung gewandt, wie gelähmt von der Unsinnigkeit dieser Worte. Er überdachte das Gesagte noch einmal und antwortete: »Ich bin nicht betäubt und normalisiert.«

»Doch, das bist du«, sagte King.

»Die ganze Familie ist es«, sagte Snowflake, und von weiter her erklang Leopards Altmännerstimme: »Alle, nicht nur du.«

»Was glaubst du, was du bei einer Behandlung bekommst?«, fragte King.

Chip sagte: »Impfstoffe, Enzyme, Empfängnisverhüter, manchmal ein Beruhigungsmittel ...«

»Immer ein Beruhigungsmittel«, sagte King, »und LPK, das die Aggressivität vermindert und die Freude und die Wahrnehmungsfähigkeit und jede verfluchte Regung, zu der das Gehirn fähig ist.«

»Und ein sexuelles Dämpfungsmittel ist dabei«, sagte Snowflake.

»Das auch«, sagte King. »Einmal in der Woche zehn Minuten automatischer Sex, das ist kaum ein Bruchteil des Möglichen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Chip. »Nichts davon.«

»Es ist wahr, Chip.« »Wirklich, es stimmt.«

»Du bist doch Genetiker«, sagte King, »und arbeitet die genetische Steuerung nicht darauf hin, die Aggressivität auszuschalten, den Geschlechtstrieb zu unterdrücken, Hilfsbereitschaft und Sanftmut und Dankbarkeit zu züchten? Dafür müssen Behandlungen sorgen, solange die genetische Steuerung noch nicht mehr als Körpergröße und Hautfarbe bestimmen kann.«

»Behandlungen helfen uns«, sagte Chip.

»Sie helfen Uni«, sagte die Frau auf der anderen Seite des Tisches.

»Und den Wei-Anbetern, die Uni programmiert haben«, sagte King. »Aber sie helfen uns nicht so viel, wie sie uns schaden. Sie machen uns zu Maschinen.«

Chip schüttelte den Kopf, einmal und noch einmal.

»Snowflake hat uns erzählt« – jetzt sprach Hush mit ihrer trockenen, ausdruckslosen Stimme – »dass du anormale Neigungen hast. Ist dir noch nie aufgefallen, dass sie unmittelbar vor einer Behandlung stärker und nachher schwächer sind?«

Snowflake sagte: »Ich wette, du hast diesen Bilderrahmen einen oder zwei Tage vor einer Behandlung gemacht, nicht kurz danach.«

Er überlegte einen Augenblick. »Das weiß ich nicht mehr«, sagte er, »aber wenn ich als Junge daran gedacht habe, mich selbst zu klassifizieren, fand ich es nach den Behandlungen dumm und vorvereinigungsmäßig, aber vor den Behandlungen war es – erregend.«

»Siehst du«, sagte King.

»Aber diese Erregung war krankhaft

»Sie war gesund«, sagte King, und die Frau gegenüber sagte: »Du warst lebendig und hast etwas gefühlt, und irgendein Gefühl zu haben ist gesünder, als gar nichts zu empfinden.«

Er dachte an das Schuldgefühl, das er seinen Beratern verheimlichte, seitdem die Sache mit Karl auf der Akademie passiert war. Er nickte. »Ja«, sagte er, »ja, das könnte sein.« Er wandte sein Gesicht King zu, der Frau, Leopard und Snowflake, und er wünschte, er könnte seine Augen öffnen und sie ansehen. »Aber eines verstehe ich nicht«, sagte er. »Ihr bekommt Behandlungen, nicht wahr? Seid ihr dann nicht ...«

»Reduziert«, sagte Snowflake.

»Ja, wir bekommen Behandlungen«, sagte King, »aber wir haben erreicht, dass sie herabgesetzt wurden, dass uns gewisse Bestandteile in geringeren Dosen verabreicht werden. Deshalb sind wir ein wenig mehr als die Maschinen, für die Uni uns hält.«

»Und das bieten wir auch dir an«, sagte Snowflake. »Eine Möglichkeit, mehr zu sehen, zu empfinden und zu tun und größere Freude zu verspüren.«

»Und unglücklicher zu sein. Sagt ihm das auch.« Diese sanfte und klare Stimme hörte er zum ersten Mal. Sie gehörte der anderen jungen Frau, die links von Chip auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, in der Nähe von King, saß.

»Das stimmt nicht«, sagte Snowflake.

»Doch, es ist so«, sagte die klare Stimme – beinahe die Stimme eines Mädchens; Chip schätzte sie nicht älter als zwanzig. »Es wird Tage geben, an denen du Christus, Marx, Wood und Wei hasst«, sagte sie, »und Uni in Brand stecken möchtest. Und es wird Tage geben, an denen du dein Armband abreißen möchtest und wie die alten Unheilbaren auf einen Berggipfel stürmen, nur damit du tun kannst, was du willst, und selbst Entscheidungen treffen und dein eigenes Leben leben.«

»Lilac«, sagte Snowflake.

»Es werden Tage kommen, an denen du uns hasst«, sagte sie, »weil wir dich aufgeweckt haben und dich nicht zur Maschine werden ließen. Maschinen sind im Weltall zu Hause, Menschen sind Fremdlinge.«

»Lilac«, sagte Snowflake, »wir versuchen Chip für uns zu gewinnen, nicht, ihn in die Flucht zu schlagen.« Zu Chip sagte sie: »Lilac ist wirklich nicht normal.«

»Es ist schon etwas Wahres an dem, was Lilac sagt«, sagte King. »Ich glaube, wir alle wünschen uns gelegentlich einen Ort, zu dem wir gehen könnten, eine Siedlung oder eine Kolonie, wo wir unsere eigenen Herren wären ...«

»Ich nicht«, sagte Snowflake.

»Und da es einen solchen Ort nicht gibt«, sagte King, »sind wir manchmal unglücklich, ja! Du nicht, Snowflake, ich weiß. Anscheinend bringt die Fähigkeit, Glück zu empfinden – von seltenen Ausnahmen wie Snowflake abgesehen – auch die Möglichkeit, unglücklich zu sein, mit sich. Aber wie Sparrow sagte, ist es besser und gesünder, irgendetwas zu empfinden als gar nichts, und die unglücklichen Momente kommen wirklich nicht so häufig vor.«

»Doch«, sagte Lilac.

»Ach, Unsinn«, sagte Snowflake. »Hören wir doch mit diesem Gerede über Unglück auf.«

»Keine Sorge, Snowflake«, sagte die Frau auf der anderen Seite des Tisches, Sparrow, »wenn er aufsteht und wegläuft, kannst du ihm ein Bein stellen.«

»Ha, ha, Hass, Hass«, sagte Snowflake.

»Snowflake, Sparrow«, sagte King.

»Nun, Chip, wie lautet deine Antwort? Möchtest du, dass deine Behandlungen eingeschränkt werden? Es geht in Etappen vor sich; die erste ist einfach, und wenn es dir nicht gefällt, wie du dich in einem Monat fühlst, kannst du zu deinem Berater gehen und sagen, du seist von einer Gruppe sehr kranker Mitglieder angesteckt worden, die du leider nicht identifizieren kannst.«

Nach kurzer Pause sagte Chip: »Einverstanden. Was muss ich tun?« Snowflake drückte seinen Arm. Hush flüsterte: »Gut!«

»Moment, ich zünde gerade meine Pfeife an«, sagte King.

»Raucht ihr alle?«, fragte Chip. Der intensive Brandgeruch stieg ihm beißend in die Nase.

»Jetzt nicht«, sagte Hush. »Nur King, Lilac und Leopard.«

»Wir haben es aber alle schon getan«, sagte Snowflake. »Man raucht ja nicht dauernd. Du tust es eine Weile, und dann hörst du wieder eine Weile auf.«

»Woher bekommt ihr den Tabak?«

»Wir pflanzen ihn an«, sagte Leopard mit Genugtuung. »Hush und ich. In einem Park.«

»In einem Park?«

»Du hast schon richtig gehört«, sagte Leopard.

»Wir haben zwei Fleckchen Land«, sagte Hush, »und letzten Sonntag haben wir ein drittes ausfindig gemacht.«

»Chip?«, sagte King, und Chip wandte sich ihm zu und lauschte. »Der erste Schritt besteht im Grunde nur darin, dass du dich verhältst, als wärst du überbehandelt worden«, sagte King. »Du wirst langsamer bei der Arbeit, beim Sport, bei allem – aber nur ein wenig, nicht so, dass es auffällt. Mache einen kleinen Fehler bei deiner Arbeit und ein paar Tage später wieder einen. Und sei sexuell nicht auf der Höhe. Am besten ist es, wenn du onanierst, bevor du mit deiner Freundin zusammen bist. So kannst du überzeugend versagen.«

»Onanieren?«

»Oh, vollbehandeltes, vollbefriedigtes Mitglied«, sagte Snowflake.

»Verschaffe dir einen Orgasmus mit der Hand«, sagte King. »Und dann nimm es nicht zu tragisch, wenn du später keinen hast. Lass deine Freundin ihrem Berater davon erzählen; du sagst deinem nichts. Nimm alles ein bisschen auf die leichte Schulter: deine Fehler, deine Verspätung bei Verabredungen usw. Lass die anderen darauf aufmerksam werden und Meldung machen.«

»Tu so, als ob du beim Fernsehen einschläfst«, sagte Sparrow.

»Bis zu deiner nächsten Behandlung sind es noch zehn Tage«, sagte King. »Wenn du tust, was ich dir gesagt habe, wird dir dein Berater nächste Woche wegen deiner allgemeinen Schlappheit auf den Zahn fühlen. Du zeigst wieder keine Besorgnis, nur Apathie! Wenn du alles richtig machst, werden die Beruhigungsmittel bei deiner Behandlung ein klein wenig sparsamer dosiert, gerade so viel, dass du in einem Monat darauf brennst, etwas über die zweite Etappe zu hören.«

»Das klingt recht einfach«, sagte Chip.

»Ist es auch«, sagte Snowflake, und Leopard sagte: »Wir haben es alle getan, du kannst es auch.«

»Eine Gefahr besteht allerdings«, sagte King. »Obwohl deine Behandlung vielleicht eine Kleinigkeit schwächer ist als sonst, wird sie in den ersten paar Tagen noch stark wirken. Du wirst bereuen, was du getan hast, und das Bedürfnis spüren, deinem Berater alles zu gestehen und stärkere Behandlungen als je zuvor zu verlangen. Ob du diesem Drang widerstehen kannst, lässt sich nicht voraussagen. Uns ist es gelungen, anderen jedoch nicht. Im letzten Jahr haben wir zwei andere Mitglieder eingeweiht, und sie haben den Erschöpfungszustand vorgetäuscht, aber dann einen oder zwei Tage nach der Behandlung sind sie schwach geworden und haben alles gestanden.«

»Wird denn mein Berater nicht misstrauisch werden, wenn ich mich erschöpft zeige? Er muss doch von diesen anderen gehört haben.«

»Ja«, sagte King, »aber es gibt echte Erschöpfungszustände: wenn ein Mitglied weniger Beruhigungsmittel als früher braucht. Wenn du dich geschickt anstellst und überzeugend wirkst, wird man dir schon glauben. Der Drang, zu gestehen, ist viel eher ein Grund zur Besorgnis.«

»Du musst dir immer wieder vorsagen« – jetzt sprach Lilac – »dass du dich nur deshalb für krank und hilfsbedürftig hältst, weil man dir ohne deine Einwilligung eine chemische Substanz eingeflößt hat.«

»Meine Einwilligung?«

»Ja«, sagte sie. »Dein Körper gehört dir, nicht Uni.«

»Ob du gestehst oder durchhältst«, sagte King, »hängt davon ab, wie widerstandsfähig dein Geist gegen Veränderungen durch Chemikalien ist, und darauf hast du kaum Einfluss. Aufgrund dessen, was wir von dir wissen; würde ich sagen, dass deine Chancen gut stehen.«

Sie gaben ihm noch einige Tipps, wie er seine Lethargie augenfällig beweisen könnte – ein- oder zweimal den Mittagskuchen auslassen und vor dem letzten Gong ins Bett gehen –, und dann schlug King vor, Snowflake solle ihn zu ihrem Treffpunkt zurückbringen. »Ich hoffe, wir sehen dich wieder, Chip«, sagte er. »Ohne den Verband.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Chip. Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Viel Glück!«, sagte Hush. Sparrow und Leopard, und als letzte Lilac, sagten ebenfalls: »Viel Glück, Chip!«

»Was geschieht«, fragte er, »wenn ich dem Drang, zu gestehen, nicht nachgebe?«

»Wir werden es erfahren«, sagte King, »und einer von uns wird ungefähr zehn Tage nach der Behandlung Verbindung zu dir aufnehmen.«

»Wie werdet ihr es erfahren?«

»Wir werden es erfahren.«

Snowflake ergriff seinen Arm. »Gut«, sagte Chip. »Ich danke euch allen.«

Sie sagten »Oh, bitte« und »Gern geschehen, Chip« und »Es war uns ein Vergnügen«. Das hörte sich seltsam an, und dann – als Snowflake ihn aus dem Raum führte – wusste er, warum: Keiner hatte »Danke Uni« gesagt.

Sie gingen langsam. Snowflake hielt seinen Arm nicht wie eine Krankenschwester, sondern wie ein Mädchen, das mit seinem Freund spazieren geht.

»Es ist schwer zu glauben«, sagte er, »dass das, was ich jetzt fühlen und sehen kann – nicht alles ist.«

»Es ist nicht einmal die Hälfte«, sagte sie. »Du wirst schon noch dahinterkommen.«

»Das hoffe ich.«

»Ich bin sicher, dass es dir gelingt«

Er lächelte und sagte: »Warst du dir bei den beiden anderen sicher, die es vergeblich versucht haben?«

»Nein«, sagte sie. Dann: »Ja, bei dem einen schon, aber bei dem anderen nicht.«

»Worin besteht die zweite Stufe?«

»Bring zuvor einmal die erste hinter dich.«

»Gibt es mehr als zwei?«

»Nein. Wenn die zweite klappt, werden die Behandlungen drastisch eingeschränkt, und dann erwachst du wirklich zum Leben. Apropos Stufen: Direkt vor uns sind drei, nach oben.«

Sie stiegen die drei Stufen hoch und gingen weiter. Sie waren wieder auf dem Platz angelangt. Alles war vollkommen still, und kein Lüftchen regte sich mehr.

»Das Beste ist der Geschlechtsverkehr«, sagte Snowflake. »Er wird viel besser, viel intensiver und aufregender, und du wirst beinahe jede Nacht dazu imstande sein.«

»Das ist ja unglaublich!«

»Und denk bitte daran«, sagte sie, »dass ich es war, die dich gefunden hat. Wenn ich dich dabei erwische, dass du Sparrow auch nur ansiehst, bringe ich dich um.«

Chip zuckte zusammen und redete sich gut zu, nicht kindisch zu sein.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich werde mich dir gegenüber aggressiv verhalten. Wahnsinnig aggressiv.«

»Ist schon gut«, sagte er. »Ich bin nicht schockiert.«

»Nicht sehr.«

»Was ist mit Lilac?«, sagte er. »Darf ich sie ansehen?«

»So viel du willst. Sie liebt King.«

»Ach?«

»Mit vorvereinigungsmäßiger Leidenschaft. Er war es, der die Gruppe ins Leben gerufen hat. Nach Lilac kamen Leopard und Hush dazu, dann ich, dann Sparrow.«

Ihre Schritte wurden lauter und widerhallend. Sie hielt ihn an. »Wir sind da«, sagte sie. Er spürte, dass sie an dem Verband zupfte, und senkte den Kopf. Sie fing an, den Verband abzuwickeln, und legte Hautflächen bloß, die sofort kühl wurden. Sie entfernte den Verband vollends und nahm endlich die Watte von seinen Augen. Er blinzelte und riss die Augen weit auf.

Sie stand dicht bei ihm, im hellen Mondenschein, und es schien ihm, als blicke sie ihn herausfordernd an, während sie den Verband in ihren Medizentrum-Overall stopfte. Irgendwie hatte sie ihre bleiche Maske wieder angelegt – aber zu seiner maßlosen Überraschung sah er, dass es gar keine Maske war; es war ihr Gesicht. Sie war hell. Heller als irgendein anderes Mitglied, das er je gesehen hatte, von wenigen beinahe Sechzigjährigen abgesehen. Sie war fast weiß. Fast so weiß wie Schnee.

»Maske ordnungsgemäß angelegt«, sagte sie.

»Entschuldige«, sagte er.

»Macht nichts«, sagte sie. »In irgendeiner Beziehung sind wir alle merkwürdig. Schau dieses Auge an.« Sie war um die fünfunddreißig, hatte scharfe Züge und frisch geschnittene Haare und sah intelligent aus.

»Entschuldige«, sagte er noch einmal.

»Ich sagte, es ist gut!«

»Darfst du mir denn zeigen, wie du aussiehst?«

»Ich will dir einmal etwas sagen: Wenn du nicht durchkommst, ist es mir vollkommen egal, ob die ganze Bande normalisiert wird. Ich glaube, es wäre mir sogar lieber.« Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn. Ihre Zunge zuckte auf seinen Lippen, glitt spielerisch in seinen Mund und umschlang seine Zunge. Snowflake hielt seinen Kopf fest, drängte ihr Becken gegen seinen Unterleib und rieb sich in kreisenden Bewegungen an ihm. Er fühlte seine Männlichkeit reagieren und legte die Hände auf Snowflakes Schulter. Er versuchte, das Spiel ihrer Zunge zu erwidern.

Sie entzog ihm ihren Mund. »Recht ermutigend, wenn ich bedenke, dass es mitten in der Woche ist«, sagte sie.

»Christus, Marx, Wood und Wei«, sagte er. »Küsst ihr alle so?«

»Nur ich, Bruder«, sagte sie. »Nur ich.«

Sie küssten sich noch einmal.

»Geh jetzt nach Hause«, sagte sie. »Berühre keinen Raster.«

Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Ich sehe dich im nächsten Monat«, sagte er.

»Das möchte ich dir geraten haben«, sagte sie. »Viel Glück!«

Er trat auf den Platz hinaus und machte sich auf den Weg zum Institut. Einmal drehte er sich um. Zwischen den kahlen mondweißen Gebäuden war nur ein leerer Durchgang.