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Bob RO saß hinter seinem Schreibtisch, blickte auf und lächelte. »Du kommst zu spät«, sagte er.

»Tut mir leid«, sagte Chip. Er setzte sich.

Bob schloss einen weißen Hefter mit einem roten Aktenzeichen darauf. »Wie geht es dir?«, fragte er.

»Gut«, sagte Chip.

»Schöne Woche verlebt?«

»Mhm.«

Bob, der den Ellbogen auf die Armlehne gestützt hatte, sah ihn einen Augenblick lang prüfend an und rieb sich die Nase. »Gibt’s etwas Besonderes, über das du sprechen möchtest?«, fragte er.

Chip schwieg und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.

»Ich habe gehört, du hast gestern den halben Nachmittag die Arbeit eines anderen getan.«

Chip nickte. »Ich habe eine Probe aus dem falschen Fach im IC-Schrank genommen«, sagte er.

»Ich verstehe«, sagte Bob. Er stützte das Kinn auf die Hand, sodass ein Finger auf seinen Lippen lag. »Was ist am Freitag passiert?«

»Freitag?«

»Etwas mit einem falschen Mikroskop, das du benutzt hast.«

Chip sah ihn verdutzt an. »Ach so«, sagte er dann. »Ja. Benutzt habe ich es eigentlich nicht. Ich bin nur in den Raum gegangen, in dem es stand, aber ich habe es nicht anders eingestellt.«

Bob sagte: »Eine so gute Woche war es anscheinend doch nicht.«

»Da magst du recht haben«, sagte Chip.

»Peace SK sagte, du hättest Samstagnacht Schwierigkeiten gehabt«

»Schwierigkeiten?«

»Sexueller Art.«

Chip schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt. Ich war einfach nicht in Stimmung.«

»Sie sagte, du hättest es versucht und keine Erektion zustande gebracht.«

»Ach, ich dachte, ich müsste es tun, ihr zuliebe, aber mir war einfach nicht danach zumute.«

Bob betrachtete ihn wortlos.

»Ich war müde.«

»Du bist anscheinend oft müde in letzter Zeit. Warst du deshalb am Freitag nicht im Foto-Klub?«

»Ja«, sagte er. »Ich bin früh ins Bett gegangen.«

»Wie fühlst du dich jetzt? Bist du jetzt müde?«

»Nein, überhaupt nicht.«

Bob sah ihn an, richtete sich in seinem Stuhl auf und lächelte.

»Gut, Bruder«, sagte er. »Du kannst den Raster berühren und gehen.« Chip hielt sein Armband gegen den Raster von Bobs Telecomp und stand auf. »Bis nächste Woche«, sagte Bob.

»Ja.«

»Pünktlich!«

Chip, der sich schon abgewandt hatte, drehte sich noch einmal um und sagte: »Wie bitte?«

»Nächste Woche pünktlich«, sagte Bob.

»Ach so«, sagte Chip. »Ja.« Er drehte sich um und verließ die Kabine.

Er glaubte seine Sache gut gemacht zu haben, aber es gab keine Möglichkeit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, und je näher seine Behandlung heranrückte, desto besorgter wurde er. Der Gedanke an eine wesentliche Steigerung seiner Erlebnisfähigkeit wurde stündlich erregender, und Snowflake, King, Lilac und die anderen immer anziehender und bewundernswerter. Was war schon dabei, wenn sie Tabak rauchten? Sie waren glückliche und gesunde Mitglieder – nein, Menschen, keine Mitglieder! –, denen es gelungen war, der Sterilität und Einförmigkeit und der allumfassenden mechanischen Zweckbezogenheit zu entrinnen. Er wollte sie sehen und bei ihnen sein. Er wünschte, er könnte Snowflakes unvergleichlich helle Haut küssen, mit King gleichberechtigt von Freund zu Freund sprechen und mehr von Lilacs seltsamen, aber aufrüttelnden Ideen hören. »Dein Körper gehört dir, nicht Uni« – was für ein verwirrend vorvereinigungsmäßiger Ausspruch. Wenn irgendetwas Wahres daran war, hatte das möglicherweise zur Folge, dass ... er konnte sich nicht vorstellen was! ... Dass seine gesamte Einstellung den Dingen gegenüber sich grundlegend änderte! Das war in der Nacht vor seiner Behandlung. Er lag stundenlang wach, dann erklomm er mit verbundenen Händen einen schneebedeckten Berggipfel, rauchte genüsslich Tabak unter der Anleitung eines freundlich lächelnden King, öffnete Snowflakes Overall und entdeckte ihren schneeweißen Körper mit einem roten Kreuz vom Hals bis zu den Lenden; er lenkte einen frühzeitlichen Wagen mit Lenkradsteuerung durch die Flure eines riesigen Genetik-Vernichtungs-Zentrums und bekam ein neues Armband mit der Aufschrift Chip, und in seinem Zimmer war ein Fenster, durch das er ein reizendes nacktes Mädchen einen Fliederbusch begießen sah. Sie winkte ihm ungeduldig, und er ging zu ihr – und erwachte frisch und munter und fröhlich, trotz dieser Träume, die viel lebendiger und überzeugender gewesen waren als die fünf oder sechs, die er früher gehabt hatte.

An diesem Morgen, einem Freitag, bekam er seine Behandlung. Das Kitzeln-Piksen-Stechen schien den Bruchteil einer Sekunde kürzer als sonst, und als er den Behandlungsraum verließ und seinen Ärmel wieder hinunterrollte, fühlte er sich immer noch wohl und ganz als er selbst, ein Träumer lebhafter Träume, ein Gefährte außergewöhnlicher Menschen, einer, der die Familie und Uni überlistet hatte. Er ging mit Absicht übertrieben langsam zu dem Zentrum. Plötzlich erkannte er, dass er gerade jetzt seinen Erschöpfungszustand weiter vortäuschen musste, um die noch stärkere Reduzierung zu rechtfertigen, die durch die zweite Phase, über die er noch nichts wusste, erreicht werden sollte. Er war sehr mit sich zufrieden, weil ihm das eingefallen war, und wunderte sich, dass King und die anderen es nicht vorgeschlagen hatten. Vielleicht hatten sie gedacht, er wäre nach der Behandlung nicht imstande, irgendetwas zu tun. Die zwei anderen Mitglieder waren anscheinend vollkommen abtrünnig geworden. Die unglücklichen Brüder!

Nachmittags beging er einen hübschen kleinen Fehler: Er fing an, einen Bericht zu diktieren und hielt dabei das Mikrofon verkehrt herum, während ein anderer 663B zusah. Ein wenig schuldig fühlte er sich schon, aber er tat es dennoch.

Abends schlief er, zu seiner Überraschung, wirklich beim Fernsehen ein, obwohl die Sendung – über ein neues Radio-Teleskop in ISR – ganz interessant war. Und später, im Foto-Klub, konnte er kaum die Augen offen halten. Er verabschiedete sich bald und ging auf sein Zimmer. Er zog sich aus, ohne sich die Mühe zu machen, seinen benutzten Overall in den Müllschlucker zu werfen, ging ohne Schlafanzug ins Bett und schaltete das Licht aus. Er war gespannt, wovon er träumen würde.

Er erwachte angsterfüllt und glaubte, er sei krank und brauche Hilfe. Was war Schlimmes geschehen? Hatte er etwas Unrechtes getan?

Es fiel ihm wieder ein, und er schüttelte den Kopf, weil er es kaum glauben konnte. War es wirklich wahr? War es denn möglich? Hatte ihn die Gruppe beklagenswert kranker Mitglieder tatsächlich derartig angesteckt und verseucht, dass er absichtlich Fehler gemacht und versucht hatte, Bob RO zu täuschen (vielleicht sogar mit Erfolg!), und dass er feindliche Gedanken gegen seine ganze liebende Familie gehegt hatte? Oh, Christus, Marx, Wood und Wei. Er dachte daran, was ihm das junge Mädchen, »Lilac«, gesagt hatte: Er dürfe nicht vergessen, dass es eine chemische Substanz sei, die ihn glauben ließ, er sei krank; eine chemische Substanz, die ihm ohne sein Einverständnis eingeflößt worden war. Einverständnis! Als ob sein Einverständnis etwas mit einer Behandlung zu tun hätte, die man zur Erhaltung seiner Gesundheit und seines Wohlergehens bekam und die wesentlich zur Gesundheit und zum Wohlergehen der ganzen Familie beitrug! Selbst vor der Vereinigung, in den wahnwitzigen Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde kein Mitglied um seine Zustimmung gebeten, bevor es gegen Typhis oder Typho – oder wie diese Krankheit hieß – behandelt wurde. Einverständnis! Zustimmung! Und er hatte zugehört, ohne ihr zu widersprechen.

Der erste Gong ertönte, und er sprang aus dem Bett, begierig, seine unvorstellbaren Missetaten wiedergutzumachen. Er warf den Overall vom Vortag weg, urinierte, wusch sich, putzte sich die Zähne, glättete sein Haar, zog einen frischen Overall an und machte sein Bett. Er ging zum Speisesaal und beantragte seinen Kuchen und seinen Tee. Als er zwischen den anderen Mitgliedern saß, verspürte er das Bedürfnis, ihnen zu helfen, ihnen etwas zu schenken, zu beweisen, dass er anständig und voll Liebe war, nicht der kranke Bösewicht von gestern. Das Mitglied links von ihm aß den letzten Rest seines Kuchens. »Möchtest du ein Stück von meinem?«, fragte Chip.

Das Mitglied schaute peinlich berührt drein. »Nein, natürlich nicht«, sagte er. »Trotzdem vielen Dank, du bist sehr freundlich.«

»Nein, das bin ich nicht«, sagte Chip, aber er freute sich über das Lob. Er eilte zum Zentrum und kam acht Minuten zu früh. Er nahm eine Probe aus seinem eigenen Fach im IC-Schrank, nicht aus einem fremden, und schob sie in sein eigenes Mikroskop. Er legte die Gläser richtig auf und befolgte die Vorschriften buchstabengetreu. Respektvoll bat er Uni um Daten (Vergib mir meine Sünden, Uni, der du alles weißt) und fütterte ihn demütig mit neuen Daten. (Hier sind genaue und wahrheitsgemäße Informationen über Gen-Probe NF 5049.)

Der Abteilungsleiter schaute herein. »Wie geht’s?«, fragte er.

»Sehr gut, Bob.«

»Fein.«

Mittags fühlte er sich jedoch schlechter. Was war mit ihnen, diesen Kranken?

Sollte er sie ihrer Krankheit, ihrem Tabak, ihren reduzierten Behandlungen und ihren vorvereinigungsmäßigen Gedanken überlassen? Er hatte keine Wahl. Sie hatten ihm die Augen verbunden, und es gab keine Möglichkeit, sie ausfindig zu machen.

Doch halt, das stimmte nicht.

Es gab eine Möglichkeit! Snowflake hatte ihm ihr Gesicht gezeigt. Wie viele beinahe weiße weibliche Mitglieder mochte es in der Stadt geben? Drei? Vier? Fünf? Uni konnte in einem Augenblick ihre NN’s angeben, wenn Bob RO darum bat. Und wenn sie gefunden und richtig behandelt wurde, würde sie die NN’s von einigen anderen verraten, und diese wiederum die NN’s der Übrigen. In ein oder zwei Tagen konnte man alle finden und ihnen helfen.

So wie er Karl geholfen hatte.

Das ließ ihn innehalten. Er hatte Karl geholfen und Schuld verspürt – eine Schuld, an die er sich viele Jahre lang geklammert hatte und die nun als ein Teil seiner selbst weiterlebte. O, Jesus Christus und Wei Li Chun, wie unvorstellbar krank er war!

»Alles in Ordnung, Bruder?«

Die Frage kam von dem Mitglied, das ihm gegenübersaß, einer älteren Frau. »Ja, ja, danke«, sagte er und lächelte und führte den Kuchen zum Mund.

»Du hast eine Sekunde lang so bekümmert ausgesehen«, sagte sie.

»Mir fehlt nichts«, sagte er. »Mir ist nur eingefallen, dass ich etwas vergessen habe.«

»Aha«, sagte sie.

Sollte er ihnen helfen oder nicht? Was war falsch, was richtig? Er wusste, was falsch war: Ihnen nicht zu helfen, sie im Stich zu lassen, als wäre er nicht seines Bruders Hüter.

Aber er war nicht sicher, ob es nicht auch falsch war, ihnen zu helfen; und wie konnte beides falsch sein?

Am Nachmittag arbeitete er weniger eifrig, aber gut und fehlerlos, wie es sich gehörte. Nach Tagesende ging er in sein Zimmer zurück und lag rücklings auf seinem Bett, die Handballen so fest auf die geschlossenen Augen gepresst, dass er farbige Lichter flimmern sah. Er hörte die Stimmen der Kranken, sah, wie er selbst die Probe aus dem falschen Fach nahm und die Familie um Zeit und Energie und Material betrog. Der Gong zum Abendessen ertönte, aber er blieb liegen, zu sehr in sich versunken, um ans Essen zu denken.

Später rief Peace SK an. »Ich warte schon seit zwanzig Minuten in der Halle«, sagte sie. »Es ist zehn vor acht.«

»Entschuldige«, sagte er. »Ich komme sofort hinunter.«

Sie gingen in ein Konzert und dann auf ihr Zimmer.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich war die letzten Tage – ein bisschen durcheinander.«

Sie schüttelte den Kopf und machte sich emsiger an seinem schlaffen Penis zu schaffen. »Da komme ich nicht mit«, sagte sie. »Hast du deinem Berater nichts gesagt? Ich habe es meinem erzählt.«

»Doch, habe ich getan. Schau« – er nahm ihre Hand weg – »auf sechszehn ist kürzlich eine ganze Gruppe neuer Mitglieder eingezogen. Warum gehst du nicht in die Halle und suchst dir einen anderen?«

Sie sah unglücklich drein. »Das sollte ich wohl, glaube ich«, sagte sie.

»Ich glaube es auch«, sagte er. »Halt dich ran.«

»Ich komme da einfach nicht mit«, sagte sie und stand vom Bett auf.

Er zog sich an und ging in sein Zimmer zurück und zog sich wieder aus. Er glaubte, er würde nicht einschlafen können, aber er konnte es doch.

Am Sonntag fühlte er sich noch schlechter. Er begann zu hoffen, Bob würde anrufen, sehen, dass es ihm nicht gut ging, und ihm die Wahrheit entreißen. Dann wäre er nicht schuldig oder verantwortlich, sondern nur erleichtert. Er blieb in seinem Zimmer und ließ den Bildschirm des Telefons nicht aus den Augen. Einer von der Fußballmannschaft rief an, und Chip sagte ihm, er fühle sich nicht wohl.

Mittags ging er in den Speisesaal, aß schnell einen Kuchen und kehrte in sein Zimmer zurück. Jemand aus dem Zentrum rief an und fragte, ob er die NN eines anderen wisse.

Hatte Bob jetzt noch nicht erfahren, dass er sich nicht normal benahm? Hatte Peace nichts gesagt? Oder der Anrufer aus der Fußballmannschaft?

Und das Mitglied, das ihm gestern beim Mittagessen gegenübergesessen hatte, war sie nicht klug genug gewesen, seine Ausrede zu durchschauen und sich nach seiner NN zu erkundigen? (Seht ihn an. Er erwartet, dass andere ihm helfen, aber wem in der Familie hilft er?) Wo war Bob denn? Was war er nur für ein Berater?

Es kamen keine Anrufe mehr, weder nachmittags noch abends. Einmal wurde die Musik unterbrochen und ein Bericht über ein Astralschiff durchgegeben.

Am Montagmorgen, nach dem Frühstück, ging er zum Medizentrum hinunter. Der Raster zeigte Nein an, aber er sagte dem Wärter, er möchte seinen Berater sprechen. Der Wärter betätigte sein Telecomp, und dann blinkten alle Raster Ja, Ja, bis er zu den halb leeren Beraterbüros kam. Es war erst 7.50 Uhr.

Er ging in Bobs leere Kabine, setzte sich und wartete auf ihn, die Hände auf den Knien. Er überlegte sich noch einmal, in welcher Reihenfolge er über alles berichten würde: erst über die absichtliche Erschöpfung, dann über die Gruppe; was ihre Mitglieder sagten und taten und wie man sie über Snowflakes helle Haut ausfindig machen konnte, und endlich über das krankhafte und irrationale Schuldgefühl, das er all die Jahre verheimlicht hatte, seitdem er Karl geholfen hatte. Eins, zwei, drei. Er würde eine Extrabehandlung, die einen möglichen Rückstand vom Freitag wieder ausglich, erhalten und das Medizentrum als normales, zufriedenes Mitglied, gesund an Leib und Seele, verlassen.

Dein Körper gehört dir, nicht Uni.

Krankhaft, vorvereinigungsmäßig. Uni war der Wille und die Weisheit der ganzen Familie. Er hatte ihn, Chip, gemacht, ihm seine Nahrung, seine Kleidung, seine Unterkunft und seine Ausbildung gewährt. Sogar die Erlaubnis zu seiner Zeugung hatte Uni erteilt. Ja, er hatte ihn gemacht, und von nun an würde er ...

Bob kam herein, sein Telecomp schwingend, und blieb überrascht stehen. »Li«, sagte er. »Grüß dich. Stimmt etwas nicht?« Er sah Bob an. Der Name stimmte nicht. Er war Chip, nicht Li. Er sah auf sein Armband hinab: LIRM35M4419. Er hatte erwartet, Chip zu lesen. Wann hatte er eines gehabt, auf dem Chip stand? In einem Traum, einem merkwürdigen, glücklichen Traum von einem winkenden Mädchen ...

»Li«, sagte Bob und stellte sein Telecomp auf den Fußboden. Uni hatte ihn zu Li gemacht. Für Wei. Aber er war Chip, ein Span vom alten Holz. Wer war er? Li? Chip? Li?

»Was fehlt dir, Bruder?«, fragte Bob. Er stand ganz dicht bei ihm und nahm ihn bei der Schulter.

»Ich wollte mit dir sprechen«, sagte Chip.

»Worüber?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Du sagtest, ich solle nicht zu spät kommen«, sagte er. Er sah Bob ängstlich an. »Bin ich pünktlich?«

»Pünktlich?« Bob trat zurück und blinzelte. »Bruder, du bist einen Tag zu früh hier«, sagte er. »Du bist dienstags dran, nicht montags.«

Er stand auf. »Entschuldige«, sagte er. »Ich gehe wohl besser zum Zentrum ...«, und er machte sich auf den Weg zur Tür.

Bob ergriff seinen Arm. »Bleib hier«, sagte er. Sein Telecomp fiel mit lautem Getöse um.

»Ich bin ganz gesund«, sagte Chip. »Ich habe nur die Termine durcheinandergebracht. Ich komme morgen wieder.« Er schüttelte Bobs Hand ab und ging zu der Kabine hinaus.

»Li«, rief Bob.

Er ging weiter.

Am Abend verfolgte er aufmerksam das Fernsehprogramm – ein Wettrennen in ARG, eine Übertragung von der Venus, die Nachrichten, ein Tanzprogramm und Weis lebendige Weisheit – und ging dann auf sein Zimmer. Er drückte den Lichtschalter, aber er funktionierte nicht, weil etwas darübergeklebt war. Die Tür fiel zu; jemand, der im Dunkeln in seiner Nähe stand und atmete, hatte sie geschlossen. »Wer ist da?«, fragte er.

»King und Lilac«, sagte King.

»Was ist heute Morgen passiert?«, fragte Lilac, irgendwo drüben bei seinem Schreibtisch. »Warum bist du zu deinem Berater gegangen?«

»Um alles zu erzählen.«

»Du hast es aber nicht getan.«

»Ich hätte es tun sollen«, sagte er. »Geht bitte.«

»Siehst du?«, sagte King.

»Wir müssen es doch noch einmal versuchen«, sagte Lilac. »Bitte geht«, sagte Chip. »Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben, mit keinem von euch. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin.«

»Du hast ungefähr zehn Stunden Zeit, um es herauszufinden«, sagte King. »Dein Berater wird dich morgen früh abholen und ins Haupt-Medizentrum zur Untersuchung bringen. Eigentlich haben wir erst in etwa drei Wochen damit gerechnet, wenn du weitere ›Fortschritte‹ gemacht hättest. Das wäre Stufe zwei gewesen. Aber nun geschieht es doch schon morgen und wird wahrscheinlich Stufe minus eins sein.«

»Das muss aber nicht so sein«, sagte Lilac. »Du kannst immer noch Stufe zwei daraus machen, wenn du tust, was wir dir sagen.«

»Ich will nichts davon hören«, sagte er. »Bitte geht jetzt.«

Sie sagten kein Wort. Er hörte, wie King eine Bewegung machte.

»Begreifst du denn nicht?«, sagte Lilac. »Wenn du tust, was wir dir sagen, werden deine Behandlungen ebenso stark reduziert wie unsere. Wenn du nicht auf uns hörst, werden sie sie wieder auf den alten Stand bringen, ja vermutlich noch darüber hinaus steigern, nicht wahr, King?«

»Ja«, sagte King.

»Um dich zu ›schützen‹«, sagte Lilac. »Sodass du nie mehr auch nur versuchen wirst, dich davon zu befreien.« Ihre Stimme kam näher. »Siehst du denn nicht, Chip, dass das für alle Zeiten deine einzige Chance ist? Für den Rest deines Lebens wirst du eine Maschine sein.«

»Nein, keine Maschine, ein Mitglied«, sagte er. »Ein gesundes Mitglied, das seine Aufgabe erfüllt, das der Familie hilft und sie nicht betrügt.«

»Hier ist jedes Wort zu viel, Lilac«, sagte King. »Wenn es ein paar Tage später wäre, könntest du ihn vielleicht überzeugen, aber es ist zu früh.«

»Warum hast du heute Morgen nicht gestanden?«, fragte ihn Lilac. »Du bist zu deinem Berater gegangen. Warum hast du ihm nichts erzählt, wie die anderen?«

»Ich wollte es«, sagte er.

»Warum hast du es nicht getan?«

Er wandte sich zur Seite. »Er nannte mich ›Li‹«, sagte er. »Und ich dachte, ich sei Chip. Alles wurde so – ungewiss.«

»Aber du bist Chip«, sagte sie, immer noch näher kommend. »Einer mit einem Namen, den er nicht von Uni bekommen hat. Einer, der daran gedacht hat, sich seine Klassifizierung selbst auszusuchen, anstatt sie Uni zu überlassen.«

Unruhig wich er zurück, dann wandte er sich um und fasste ihre undeutlichen Umrisse ins Auge – die kleine Lilac stand, nur ein paar Meter entfernt, ihm gegenüber, King rechts von ihm vor der Tür, durch die am Rand Licht hereinfiel. »Wie könnt ihr gegen Uni hetzen?«, fragte er. »Er hat uns alles geschenkt.«

»Nur was wir ihm gegeben haben«, sagte Lilac. »Er hat uns hundertmal mehr verweigert.«

»Er ließ uns geboren werden.«

»Wie viele werden nicht geboren, weil er es nicht zulässt?«, sagte sie. »Wie deine Kinder! Und meine!«

»Was meinst du damit?«, sagte er. »Soll etwa jeder, der Kinder will, sie auch bekommen dürfen?«

»Ja«, sagte sie. »Das meine ich.«

Kopfschüttelnd ging er zu seinem Bett und setzte sich darauf. Sie kam zu ihm, kauerte sich vor ihm nieder und legte die Hände auf seine Knie. »Bitte, Chip«, sagte sie. »Ich sollte so etwas nicht sagen, solange du noch in diesem Zustand bist, aber bitte, bitte, glaube mir. Glaube uns. Wir sind nicht krank, wir sind gesund. Die Welt ist krank – vor lauter Chemie und Zweckmäßigkeit und Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Tu, was wir dir sagen. Werde gesund. Bitte, Chip.«

Ihr Ernst rührte ihn. Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen. »Warum liegt dir so viel daran?«, fragte er. Ihre Hände auf seinen Knien waren klein und warm, und es drängte ihn, sie zu berühren, sie mit seinen eigenen zu bedecken. Schwach erkannte er ihre Augen: Groß waren sie und weniger schräg als üblich, ungewöhnlich und sehr schön.

»Wir sind so wenige«, sagte sie, »und wenn wir mehr wären, könnten wir vielleicht etwas tun – irgendwie entkommen und ganz für uns leben.«

»Wie die Unheilbaren«, sagte er.

»So lehrt man uns, sie zu nennen«, sagte sie. »Vielleicht waren sie in Wirklichkeit die Unschlagbaren, die nicht zu Betäubenden.«

Er blickte sie an, versuchte, mehr von ihrem Gesicht zu sehen.

»Wir haben ein paar Kapseln«, sagte sie, »die deine Reflexe verzögern und deinen Blutdruck senken, durch die Stoffe in dein Blut eingeschleust werden, die bewirken, dass man deine Behandlungen für zu stark hält. Wenn du sie morgen nimmst, bevor dein Berater kommt, und wenn du dich im Medizentrum so verhältst und gewisse Fragen so beantwortest, wie wir sagen – dann wird morgen Stufe zwei ausgelöst, und du wirst die Prüfung bestehen und gesund werden.«

»Und unglücklich«, sagte er.

»Ja«, sagte sie, mit einem Lächeln in der Stimme, »auch unglücklich, aber nicht so sehr, wie ich gesagt habe. Ich werde manchmal von meinen Stimmungen überwältigt.«

»Alle fünf Minuten etwa«, sagte King.

Sie nahm ihre Hände von Chips Knien und stand auf. »Willst du?«, fragte sie.

Er wollte Ja sagen, aber er wollte auch Nein sagen. Er sagte: »Lass mich die Kapseln sehen.«

King trat vor und sagte: »Du wirst sie sehen, nachdem wir gegangen sind. Sie sind hier drin.« Er drückte Chip ein glattes Döschen in die Hand. »Die rote musst du heute Nacht nehmen und die zwei anderen, sobald du aufstehst.«

»Woher habt ihr sie?«

»Einer aus der Gruppe arbeitet in einem Medizentrum.«

»Entscheide dich«, sagte Lilac. »Willst du hören, was du tun und sagen musst?«

Er schüttelte das Döschen, hörte aber nichts. Er blickte auf die zwei verschwommenen Gestalten, die wartend vor ihm standen. Er nickte und sagte: »Ja.«

Sie setzten sich und sprachen mit ihm, Lilac auf dem Bett neben ihm, King auf dem Schreibtischstuhl, den er herübergezogen hatte. Sie brachten ihm verschiedene Tricks bei: Er solle vor der Stoffwechseluntersuchung die Muskeln anspannen und beim Tiefenwahrnehmungs-Test über das Objektiv hinwegschauen. Sie schärften ihm ein, was er zu dem behandelnden Arzt und dem Oberberater, der ihn ausfragte, sagen müsse. Sie erzählten ihm von Fallen, die man ihm vielleicht stellte: Plötzliche Geräusche könnten hinter seinem Rücken ertönen, oder man würde ihn ganz allein lassen (aber nicht wirklich!), wenn der Bericht des Arztes in greifbarer Nähe vor ihm lag. Meist sprach Lilac. Zweimal berührte sie ihn, am Bein und am Unterarm, und einmal streifte er ihre Hand, als sie neben seiner lag. Sie wurde ihm mit einer Bewegung entzogen, die vielleicht schon vor der Berührung eingesetzt hatte.

»Das ist wahnsinnig wichtig«, sagte King.

»Entschuldige, was bitte?«

»Ignoriere es nicht vollkommen«, sagte King. »Das Formular mit dem Bericht über dich.«

»Nimm es zur Kenntnis«, sagte Lilac. »Wirf einen kurzen Blick darauf und tu dann, als ob du es nicht der Mühe wert fändest, es aufzuheben und zu lesen. Als ob es dir gleichgültig wäre, was darauf steht.«

Es war spät, als sie aufhörten. Der letzte Gong war schon vor einer halben Stunde erklungen. »Es ist besser, wenn wir getrennt gehen«, sagte King. »Du gehst voraus. Warte neben dem Gebäude auf mich.«

Lilac stand auf und Chip auch. Ihre Hand fand die seine. »Ich weiß, dass du es schaffen wirst, Chip«, sagte sie.

»Ich werde es versuchen«, sagte er. »Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.«

»Gern geschehen«, sagte sie und ging zur Tür. Er dachte, er würde sie beim Hinausgehen im Licht des Flurs sehen, aber King erhob sich und stellte sich in den Weg, und die Tür fiel wieder ins Schloss.

Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber, er und King. »Vergiss es nicht: die rote Kapsel jetzt und die anderen zwei beim Aufstehen.«

»Richtig«, sagte Chip und tastete nach dem Döschen in seiner Tasche.

»Du dürftest keine Schwierigkeiten haben.«

»Ich weiß nicht. Man muss an so vieles denken.« Sie schwiegen wieder. »Ich danke dir vielmals, King«, sagte Chip und streckte im Dunkeln seine Hand aus.

»Du bist ein Glückspilz«, sagte King. »Snowflake ist eine sehr leidenschaftliche Frau. Du wirst viele wunderschöne Stunden mit ihr erleben.«

Chip verstand nicht, warum er das sagte. »Das hoffe ich«, sagte er. »Es ist schwer zu glauben, dass mehr als ein Orgasmus pro Woche möglich ist.« »Jetzt müssen wir einen Mann für Sparrow finden«, sagte King. »Dann sind alle versorgt. So ist es besser. Vier Paare. Keine Reibung.« Chip ließ seine Hand sinken. Plötzlich verstand er, dass King ihm damit sagen wollte, er solle sich von Lilac fernhalten; er erklärte ihm, wer zu wem gehörte, und dass man das zu respektieren habe. Hatte King etwa gesehen, dass er Lilacs Hand berührt hatte?

»Ich gehe jetzt«, sagte King. »Dreh dich bitte um.«

Chip gehorchte und hörte, wie King sich entfernte. Schwaches Licht fiel in den Raum, als die Tür aufging, ein Schatten huschte hindurch und verschwand wieder, als die Tür sich schloss.

Chip drehte sich um. Was für eine seltsame Vorstellung, ein bestimmtes Mitglied so sehr zu lieben, dass man sich wünschte, kein anderer möge es berühren!

Ob es ihm wohl ähnlich erging, wenn seine Behandlungen eingeschränkt wurden? Es war – wie so viel anderes – schwer zu glauben.

Er ging zum Lichtschalter und untersuchte, womit er überklebt war: Leukoplast und darunter etwas Flaches, Rechteckiges. Er zupfte an dem Streifen, riss ihn ab und drückte den Schalter. Von der Helligkeit der Zimmerdecke geblendet, schloss er die Augen.

Als er wieder sehen konnte, schaute er auf den Leukoplast-Streifen. Er war hautfarben und mit einem rechteckigen Stück blauer Pappe beklebt. Er warf ihn in den Müllschlucker und zog das Döschen aus der Tasche. Es bestand aus weißem Kunststoff. Er klappte den Deckel hoch. Auf einem Wattepölsterchen lagen eine rote, eine weiße und eine halb weiße, halb gelbe Kapsel.

Er trug das Döschen ins Badezimmer und machte das Licht an, stellte das offene Döschen auf den Rand des Waschbeckens, öffnete den Wasserhahn und ließ eine Tasse volllaufen. Dann drehte er das Wasser ab. Er begann zu überlegen, aber bevor er überhaupt denken konnte, nahm er die rote Kapsel, legte sie weit hinten auf die Zunge und trank die Tasse aus.

Zwei Ärzte befassten sich mit ihm, nicht nur einer. Sie führten ihn in einem blassblauen Kittel von einem Untersuchungsraum in den anderen, konferierten mit den untersuchenden Ärzten, besprachen sich untereinander und machten Eintragungen und Notizen auf einem Berichtformular, das sie zwischen sich hin- und herreichten. Der eine Arzt war eine Frau in den Vierzigern, der andere ein Mann in den Dreißigern. Die Frau legte Chip manchmal beim Gehen den Arm um die Schulter; sie lächelte und nannte ihn »junger Bruder«. Der Mann beobachtete ihn teilnahmslos, mit Augen, die kleiner waren und dichter beieinander standen als normal. Auf der Backe hatte er eine frische Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Mundwinkel erstreckte, und auf Backen und Stirn dunkle Quetschungen. Er ließ Chip nur aus den Augen, um auf sein Berichtformular zu sehen. Selbst wenn er mit den Ärzten sprach, beobachtete er ihn weiter. Wenn die drei zum nächsten Behandlungsraum gingen, blieb er gewöhnlich hinter Chip und der lächelnden Ärztin zurück. Chip erwartete, dass er ein unerwartetes Geräusch machen würde, aber das geschah nicht.

Die Unterredung mit der Oberberaterin, einer jungen Frau, war gut verlaufen, dachte Chip, aber alles andere nicht. Er wagte nicht, vor der Stoffwechseluntersuchung die Muskeln anzuspannen, weil der Arzt ihn beobachtete, und beim Tiefenwahrnehmungs-Test dachte er zu spät daran, über das Objektiv hinwegzuschauen.

»Zu dumm, dass du einen ganzen Arbeitstag versäumst«, sagte der Arzt, der ihn beobachtete.

»Ich werde ihn nachholen«, sagte er und erkannte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte sagen müssen: »Es ist ja für einen guten Zweck« oder »Werde ich den ganzen Tag hier sein?» oder einfach nur, ganz stumpfsinnig und überbehandelt: »Ja.«

Mittags bekam er anstelle eines Vollnahrungskuchens ein Glas mit einer bitteren, weißen Flüssigkeit, und danach wurde er weiter geprüft und untersucht. Die Ärztin entfernte sich für eine halbe Stunde, aber der Mann nicht.

Gegen drei Uhr schienen sie fertig zu sein. Sie gingen in ein kleines Büro. Der Mann setzte sich hinter den Schreibtisch, Chip ihm gegenüber. Die Frau sagte: »Entschuldigt mich, ich bin in zwei Sekunden wieder zurück.« Sie lächelte Chip zu und ging hinaus.

Der Mann vertiefte sich eine oder zwei Minuten in den Bericht, immer mit der Fingerspitze an seiner Narbe auf- und abstreichend, und dann sah er auf die Uhr und legte die Akte nieder. »Ich hole sie«, sagte er, stand auf und ging. Die Tür ließ er einen Spaltbreit offen.

Chip saß still und rümpfte die Nase und schaute auf die Akte. Er beugte sich hinüber, verdrehte den Kopf und las auf dem Berichtformular die Worte Cholinesterase-Absorptionsfaktor nicht übersteigert. Dann lehnte er sich wieder in seinem Stuhl zurück. Hatte er zu lange geschaut? Er war nicht sicher. Er rieb sich den Daumen und untersuchte ihn, dann besah er die Bilder in dem Raum. Marx beim Schreiben und Wood überbringt das Vereinigungs-Abkommen.

Sie kamen wieder herein. Die Ärztin setzte sich hinter den Schreibtisch und der Mann in einen Stuhl neben ihr. Die Frau sah Chip an. Sie lächelte nicht und wirkte bekümmert.

»Junger Bruder«, sagte sie, »ich mache mir Sorgen um dich. Ich glaube, du hast versucht, uns zum Narren zu halten!«

Chip sah sie an. »Euch zum Narren halten?«, sagte er.

»Es gibt kranke Mitglieder in dieser Stadt«, sagte sie. »Weißt du das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ja«, sagte sie. »So krank wie nur möglich. Sie verbinden anderen Mitgliedern die Augen und führen sie irgendwohin und sagen ihnen, sie sollen Erschöpfungszustände vortäuschen und Fehler machen und vorgeben, sie hätten kein Interesse mehr an Sex. Sie versuchen, andere Mitglieder ebenso krank zu machen, wie sie selbst sind. Kennst du solche Mitglieder?«

»Nein«, sagte Chip.

»Anna«, sagte der Mann, »ich habe ihn beobachtet. Nichts spricht dafür, dass mit ihm etwas nicht stimmt, von dem abgesehen, was wir in den Tests herausgefunden haben.« Er wandte sich an Chip und sagte: »Alles ganz einfach zu beheben, du brauchst dir gar keine Gedanken zu machen.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »nein, ich habe einfach ein ungutes Gefühl. Bitte, junger Bruder, du willst doch, dass wir dir helfen, nicht wahr?«

»Niemand hat mir gesagt, ich solle Fehler machen«, sagte Chip. »Warum sollte ich auch?«

Der Mann tippte auf den Bericht. »Schau doch nur, wie übel es mit seinen Enzymen aussieht«, sagte er zu der Frau. »Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen.«

»Er wurde hier und hier und hier ganz schlimm überbehandelt. Wir wollen Uni die Daten übergeben und dafür sorgen, dass er wieder in Ordnung kommt.«

»Ich möchte, dass Jesus HL ihn sieht.«

»Warum?«

»Weil ich mir Sorgen mache

»Ich kenne keine kranken Mitglieder«, sagte Chip. »Sonst würde ich es meinem Berater sagen.«

»So«, sagte die Frau, »und weswegen wolltest du ihn gestern Morgen sprechen?«

»Gestern?«, sagte Chip. »Ich dachte, es sei mein Tag. Ich habe die Tage verwechselt.«

»Gehen wir, bitte«, sagte die Frau und stand auf, den Block in der Hand. Sie verließen das Büro und schritten den Flur entlang. Die Frau legte den Arm um Chips Schultern, aber sie lächelte nicht. Der Mann ging hinter ihnen.

Am Ende des Flurs kamen sie zu einer Tür mit der Nummer 600A und einem braunen Schildchen, auf dem in weißen Buchstaben Leiter der Chemotherapeutischen Abteilung stand. Sie traten in einen Vorraum, wo ein Mitglied hinter einem Schreibtisch saß. Die Ärztin sagte ihm, sie wollten Jesus HL zu einem diagnostischen Problem konsultieren, und das Mitglied stand auf und ging durch eine andere Tür hinaus.

»Reine Zeitverschwendung«, sagte der Mann.

Die Frau sagte: »Das hoffe ich, glaube mir.«

Das Vorzimmer war kärglich möbliert: zwei Stühle, ein leerer, niedriger Tisch und Wei spricht zu den Chemotherapeuten. Chip nahm sich vor, möglichst nichts von Snowflakes heller Haut und Lilacs weniger-als-normal-schrägen Augen zu sagen, falls man ihn zum Sprechen brachte. Das Mitglied kam zurück und hielt die Tür auf.

Sie betraten ein großes Büro. Ein hageres, grauhaariges Mitglied zwischen fünfzig und sechzig – Jesus HL – saß hinter einem großen, unordentlichen Schreibtisch.

Er nickte den Ärzten zu, als sie näher kamen, und warf einen abwesenden Blick auf Chip. Er wies mit der Hand auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Chip setzte sich.

Die Ärztin übergab Jesus HL den Block. »Das kommt mir nicht ganz geheuer vor«, sagte sie. »Ich fürchte, er simuliert.«

»Obwohl die enzymologische Untersuchung das Gegenteil beweist«, sagte der andere Arzt.

Jesus HL lehnte sich in seinem Stuhl zurück und vertiefte sich in den Bericht. Die Ärzte standen neben dem Schreibtisch und beobachteten Jesus. Chip versuchte, neugierig, aber nicht besorgt zu wirken. Er sah Jesus HL einen Augenblick lang aufmerksam an, dann schaute er auf den Schreibtisch, wo alle möglichen Papiere kreuz und quer durcheinander lagen. Auch ein altmodisches Telecomp in einem abgenutzten Gehäuse war von Papieren bedeckt. Ein mit Bleistiften und Linealen vollgestopftes Trinkgefäß stand neben einem gerahmten Foto von Jesus HL in jüngeren Jahren, wie er lächelnd vor Unis Dom stand. Zwei Souvenir-Briefbeschwerer, ein ungewöhnlicher rechteckiger aus CHI 61 332 und ein runder aus ARG 20 400, standen auf dem Tisch, aber beide nicht auf Papier.

Jesus HL studierte den Bericht von oben bis unten und drehte das Formular um, damit er auch die Rückseite lesen konnte.

Die Ärztin sagte: »Ich würde ihn gerne über Nacht hierbehalten und einige der Tests morgen noch einmal durchführen.«

Der Mann sagte: »Du vergeudest nur ...«

»Oder noch besser wäre es, ihn jetzt unter TP zu befragen«, sagte die Frau lauter.

»Zeit- und Materialverschwendung«, sagte der Mann.

»Sind wir Ärzte oder Rationalisierungsfachleute?«, fragte ihn die Frau in scharfem Ton.

Jesus HL legte den Aktendeckel nieder und sah Chip an. Er stand auf und kam um den Tisch herum. Die Ärzte traten schnell aus dem Weg, um ihn vorbeizulassen. Groß und mager stand er direkt vor Chips Stuhl; auf seinem Overall mit dem roten Kreuz waren gelbe Flecke zu sehen. Er nahm Chips Hände von den Armlehnen, drehte sie um und besah sich die schweißglänzenden Innenflächen. Er ließ eine Hand los und fühlte bei der anderen den Puls. Chip zwang sich, unbefangen aufzublicken. Jesus HL sah ihn einen Augenblick lang forschend an, dann kam ihm ein Verdacht – nein, es war Gewissheit! –, und er lächelte verächtlich, weil er Chip durchschaut hatte. Chip fühlte sich ausgebrannt und besiegt.

Jesus HL ergriff Chip beim Kinn, beugte sich herab und sah ihm aus nächster Nähe in die Augen. »Mach die Augen auf, so weit du kannst«, sagte er. Seine Stimme war die von King. Chip starrte ihn an.

»Gut so«, sagte er. »Starr mich an, als hätte ich etwas Schockierendes gesagt.« Es war Kings Stimme – unverkennbar. Chip riss den Mund auf. »Bitte nicht sprechen«, sagte King-Jesus HL und drückte Chips Kinnladen schmerzhaft zusammen. Er starrte Chip in die Augen und drehte seinen Kopf nach links und nach rechts; dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Er ging wieder um den Tisch herum und setzte sich, nahm die Akte in die Hand, warf einen Blick darauf und reichte sie lächelnd der Ärztin. »Du hast dich geirrt, Anna«, sagte er. »Du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe schon viele Mitglieder gesehen, die simulieren. Der hier gehört nicht dazu. Trotzdem möchte ich dich für deine Sorgfalt loben.« Zu dem Mann sagte er: »Weißt du, sie hat recht, Jesus, wir dürfen nicht zu sehr auf Wirtschaftlichkeit achten. Wenn es um die Gesundheit eines Mitglieds geht, kann sich die Familie ein wenig Verschwendung leisten. Was ist die Familie schließlich, wenn nicht die Summe ihrer Mitglieder?«

»Danke, Jesus«, sagte die Frau lächelnd. »Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.«

»Leitet diese Unterlagen an Uni weiter«, sagte King, der sich umdrehte und Chip ansah, »damit unser Bruder hier in Zukunft richtig behandelt werden kann.«

»Ja, sofort.« Die Frau winkte Chip. Er erhob sich von seinem Stuhl. Sie verließen das Büro. Auf dem Flur drehte sich Chip um. »Ich danke dir«, sagte er.

King saß hinter seinem unordentlichen Schreibtisch und sah ihn an – ohne Lächeln, ohne einen Funken Freundschaft. »Danke Uni«, sagte er.

Er war noch keine Minute in seinem Zimmer, als Bob anrief. »Ich habe gerade einen Bericht vom Haupt-Medizentrum erhalten«, sagte er. »Deine Behandlungen waren nicht ganz korrekt, aber von nun an werden sie genau richtig sein.«

»Gut«, sagte Chip.

»Deine Geistesabwesenheit und deine Müdigkeit werden im Lauf der nächsten Woche allmählich verschwinden, und dann wirst du wieder ganz der Alte sein.«

»Das hoffe ich.«

»Ganz bestimmt. Hör zu, Li, soll ich dich morgen außer der Reihe drannehmen, oder warten wir bis nächsten Dienstag?«

»Lassen wir es ruhig bei Dienstag.«

»Fein«, sagte Bob. Er grinste. »Weißt du was? Du siehst schon besser aus.«

»Ich fühle mich auch ein wenig besser«, sagte Chip.