3

Chip vergaß nicht, was Papa Jan ihm gesagt hatte, und in den folgenden Wochen und Monaten dachte er oft daran, sich etwas zu wünschen, etwas tun zu wollen, wie Papa Jan sich mit zehn Jahren gewünscht hatte, Uni mitzubauen. Alle paar Nächte lag er eine Stunde oder länger wach und dachte über die verschiedenen Aufgaben und Klassifizierungen nach, die er kannte – Bauleiter wie Papa Jan, Laborant wie sein Vater, Plasmaphysiker wie seine Mutter, Fotograf wie ein Freund seines Vaters; Arzt, Berater, Zahnarzt, Kosmonaut, Schauspieler, Musiker. Sie erschienen ihm alle ziemlich gleich, aber bevor er sich eine wirklich wünschen konnte, musste er sich für eine entscheiden. Ein merkwürdiger Gedanke – zu suchen, zu wählen, zu entscheiden. Er fühlte sich dabei ganz klein werden und doch auch ganz groß, beides zur gleichen Zeit.

Eines Nachts fand er, es wäre vielleicht interessant, große Gebäude zu entwerfen, wie die kleinen, die er vor langer, langer Zeit mit einem Baukasten (blinkendes rotes Nein von Uni) gebaut hatte. Das war in der Nacht vor einer Behandlung – die richtige Zeit für Wünsche, wie Papa Jan gesagt hatte. In der nächsten Nacht sah er gar keinen Unterschied mehr zwischen einem Baumeister und den anderen Klassifizierungen, ja, der Gedanke, sich eine bestimmte Klassifizierung zu wünschen, schien ihm überhaupt dumm und vV, und er schlief sofort ein.

In der Nacht vor seiner nächsten Behandlung dachte er wieder daran, Gebäude zu entwerfen – in lauter verschiedenen Formen, nicht nur den drei üblichen –, und er überlegte sich, warum er einen Monat zuvor das Interesse daran verloren hatte. Behandlungen sollten Krankheiten verhüten und verklemmte Mitglieder gelöst machen und verhindern, dass Frauen zu viele Babys bekamen und den Männern Haare im Gesicht wuchsen. Doch warum sollten sie einen interessanten Gedanken uninteressant erscheinen lassen? Das aber bewirkten sie einen Monat nach dem anderen.

Er vermutete, es könnte eine Form von Selbstsucht sein, sich solche Gedanken zu machen. Aber selbst wenn das zutraf, war ihr Ausmaß doch so gering – sie nahm nur eine oder zwei Stunden Schlaf in Anspruch, nie Schul- oder Fernsehzeit –, dass er sich nicht die Mühe machte, sie Bob NE gegenüber zu erwähnen. Von einer momentanen Nervosität oder einem gelegentlichen Traum sprach er ja ebenso wenig. Jede Woche, wenn Bob fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte er: »Ja, große Klasse, keine Reibung.« Er passte auf, dass sich seine Gedanken nicht zu oft oder zu lange mit seinen Wünschen befassten, damit er immer genügend Schlaf bekam, und morgens beim Waschen prüfte er sein Gesicht im Spiegel, ob er noch normal aussah. Er sah normal aus – von seinem Auge abgesehen, natürlich.

Im Jahr 146 wurden Chip und seine Familie, wie die meisten Mitglieder in ihrem Gebäude, nach AFR 71 680 versetzt. Das neue Gebäude, in dem sie wohnten, war nagelneu, hatte grüne Teppiche anstatt graue in den Fluren, größere Fernsehschirme und gepolsterte, aber nicht verstellbare Möbel.

Vieles in ’71 680 war ungewohnt. Das Klima war wärmer und die Overalls leichter und heller; die Einschienenbahn war alt und langsam und hatte oft eine Panne, und die Vollnahrungskuchen waren in grünlicher Folie verpackt und schmeckten salzig und ein bisschen komisch.

Die neue Beraterin von Chip und seiner Familie hieß Mary CZ14L8584. Sie war ein Jahr älter als Chips Mutter, obgleich sie ein paar Jahre jünger aussah.

Nachdem Chip sich erst einmal an das Leben in ’71 680 gewöhnt hatte – wenigstens die Schule war nicht anders –, fing er wieder an, »Wünsche zu denken«. Er sah jetzt, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Klassifizierungen gab, und überlegte, welche ihm Uni wohl zuteilen würde, wenn es so weit war. Uni mit seinen zwei Stockwerken voll kalter Stahlblöcke, seiner leeren, hallenden Härte ... Er wünschte, Papa Jan hätte ihn mit in den untersten Stock genommen, wo es Mitglieder gab. Es war angenehmer, sich vorzustellen, dass man von Uni und ein paar Mitgliedern klassifiziert wurde und nicht von Uni allein. Wenn er eine Klassifizierung erhielt, die ihm nicht passte, und Mitglieder da wären, könnte man ihnen vielleicht erklären ...

Papa Jan rief zweimal im Jahr an. Er sagte, er beantrage mehr Gespräche, bekomme aber nur zwei bewilligt. Er sah älter aus und lächelte müde. Ein Teil von USA 60 607 wurde umgebaut, und er war dafür verantwortlich. Chip hätte ihm gerne gesagt, dass er versuchte, sich etwas zu wünschen, aber er konnte es nicht, während die anderen mit ihm vor dem Bildschirm standen. Einmal sagte er, als ein Gespräch beinahe zu Ende war: »Ich versuche es«, und Papa Jan lächelte wie früher und sagte: »Du bist richtig, Junge.«

Als das Gespräch beendet war, sagte Chips Vater: »Was versuchst du?«

»Nichts«, sagte Chip.

»Du musst doch irgendetwas gemeint haben«, sagte sein Vater.

Er zuckte die Achseln.

Mary CZ fragte ihn auch, als Chip das nächste Mal zu ihr kam. »Was hast du gemeint, als du zu deinem Großvater sagtest, du versuchtest es?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Chip.

»Li«, sagte Mary und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Du hast gesagt, du versuchtest es. Was?«

»Ihn nicht zu vermissen«, sagte er. »Als er nach USA versetzt wurde, sagte ich ihm, ich würde ihn vermissen, und er sagte, ich sollte versuchen, nicht an ihn zu denken; alle Mitglieder seien gleich, und er würde ohnehin anrufen, sooft er könne.«

»Oh«, sagte Mary und sah Chip immer noch an, nun aber unsicher. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte sie.

Chip zuckte die Achseln.

»Und vermisst du ihn tatsächlich

»Nur ein bisschen«, sagte Chip. »Ich versuche dagegen anzugehen.«

Der Sex begann, und daran zu denken, war noch schöner, als sich in Gedanken etwas zu wünschen. Obwohl er bereits gelernt hatte, dass Orgasmen etwas überaus Erfreuliches seien, hatte er keine Ahnung gehabt, wie beinahe unerträglich herrlich die Augenblicke der höchsten Spannung, die Explosion der Ekstase und der erschöpfte und schwerelose Zustand der Befriedigung danach waren. Niemand hatte eine Ahnung davon gehabt, keiner seiner Klassenkameraden. Sie sprachen von nichts anderem und hätten liebend gerne nur noch dafür gelebt. Chip konnte kaum an Mathematik und Elektronik denken, geschweige denn an die Unterschiede zwischen den einzelnen Klassifizierungen.

Nach ein paar Monaten jedoch wurden alle ruhiger und gewöhnten sich an das neue Vergnügen und verwiesen es auf die ihm zukommende Rolle im Wochenplan als Samstagabend-Zeitvertreib.

Eines Abends, als er vierzehn war, radelte Chip mit einer Gruppe von Freunden zu einem schönen weißen Strand wenige Kilometer nördlich von AFR 71 680. Dort schwammen sie, planschten und tummelten sich in den Wellen, deren Schaum von der sinkenden Sonne rosig gefärbt wurde. Sie machten ein Feuer auf dem Sand und saßen auf Decken im Kreis und verzehrten ihre Kuchen und ihre Cola und knusprige süße Stücke einer aufgeklopften Kokosnuss. Ein Junge spielte Lieder auf einem Plattenspieler, und dann teilte sich die Gruppe in fünf Paare auf, jedes auf seiner eigenen Decke.

Das Mädchen, das Chip hatte, hieß Anna VF, und nach ihrem Orgasmus – dem besten, den Chip je erlebt hatte; oder zumindest kam es ihm so vor – war er von Zärtlichkeit für sie erfüllt und wünschte, er könnte ihr, um ihr sein Gefühl zu beweisen, etwas schenken; so wie die wunderschöne Muschel, die Yin AP von Karl GG bekommen hatte, oder Li OS Lied auf der Schallplatte, das nun leise für das Mädchen erklang, mit dem er zusammenlag. Chip hatte nichts für Anna, keine Muschel, kein Lied, gar nichts, ausgenommen vielleicht seine Gedanken.

»Würdest du gerne über etwas Interessantes nachdenken?«, fragte er, auf dem Rücken liegend, einen Arm um sie gelegt.

»Mhm«, sagte sie und schmiegte sich dichter an ihn. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihr Arm über seiner Brust.

Er küsste ihre Stirn. »Denk mal an all die verschiedenen Klassifizierungen, die es gibt –«, sagte er.

»Mhm.«

»Und versuche zu entscheiden, welche du aussuchen würdest, wenn du müsstest.«

»Eine aussuchen?«

»Ja.«

»Wie meinst du das?«

»Eine wählen. Eine bekommen. In einer sein. Welche Klassifizierung wäre dir am liebsten? Ärztin, Ingenieurin, Beraterin ...«

Sie stemmte ihren Kopf in die Hand und sah ihn verständnislos an. »Was meinst du damit?«, fragte sie.

Er seufzte ein wenig und sagte: »Wir werden klassifiziert, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Nimm einmal an, wir würden nicht klassifiziert, sondern müssten es selbst tun.«

»Das ist blöd«, sagte sie und ließ ihre Finger über seine Brust gleiten.

»Es ist interessant, darüber nachzudenken.«

»Komm, wir machen’s noch mal«, sagte sie.

»Warte eine Minute«, sagte er. »Denk nur an die verschiedenen Klassifizierungen. Nimm an, es stünde uns frei ...«

»Das will ich nicht«, sagte sie und unterbrach ihr Fingerspiel. »Wir werden klassifiziert, da gibt es nichts zu überlegen. Uni weiß, was wir ...«

»Ach, Kampf Uni«, sagte Chip. »Stell dir nur eine Minute lang vor, wir lebten in –« Anna schnellte von ihm weg und legte sich auf den Bauch, steif und reglos, das Gesicht von ihm abgewandt.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Du tust mir leid«, sagte sie. »Du bist krank.«»Nein«, sagte er.

Sie schwieg.

Er setzte sich auf und sah voll Verzweiflung auf ihren steifen Rücken. »Es ist mir nur so herausgerutscht«, sagte er. »Entschuldige bitte.«

Sie sagte immer noch nichts.

»Es ist nur ein Wort, Anna«, sagte er.

»Du bist krank«, sagte sie.

»Oh, Hass.«

»Verstehst du nun, was ich meine?«

»Hör zu, Anna«, sagte er. »Vergiss es. Vergiss das Ganze, ja? Vergiss es einfach.« Er kitzelte sie zwischen den Schenkeln, aber sie ergriff seine Hand und stoppte ihn.

»Ach, komm, Anna«, sagte er. »Ich habe gesagt, es tut mir leid, oder nicht? Los, wir machen’s noch mal. Ich lecke dich auch vorher, wenn du willst.«

Nach einer Weile entspannte sie sich und ließ sich kitzeln.

Dann drehte sie sich um, richtete sich auf und sah ihn an. »Bist du krank, Li?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er und zwang sich zum Lachen, »natürlich nicht.«

»So etwas habe ich noch nie gehört«, sagte sie. »›Uns selbst zu klassifizieren.‹ Wie könnten wir das denn? Wie könnten wir jemals genug wissen?«

»Es ist nur etwas, an das ich ab und zu denke«, sagte er. »Nicht sehr oft. Eigentlich fast nie.«

»Es ist so ein – ein komischer Gedanke«, sagte sie. »Es klingt so – ich weiß nicht – so vV.«

»Ich werde nicht mehr daran denken«, sagte er und hob die rechte Hand, sodass sein Armband zurückrutschte. »Bei der Liebe zur Familie«, sagte er. »Komm, leg dich hin, und ich lecke dich.«

Mit bekümmertem Gesicht streckte sie sich auf der Decke aus.

Am nächsten Morgen um fünf vor zehn rief Mary CZ Chip an und bat ihn, zu ihr zu kommen.

»Wann?«, fragte er.

»Jetzt gleich!«

»Ist gut«, sagte er, »ich komme gleich hinunter.«

Seine Mutter sagte: »Warum will sie dich denn an einem Sonntag sehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Chip.

Aber er wusste es. Anna VF hatte ihren Berater angerufen.

Er fuhr im Aufzug hinab, immer tiefer, immer tiefer, und überlegte sich, wie viel Anna wohl erzählt hatte, und was er sagen sollte; und plötzlich überkam ihn der Wunsch, zu weinen und Mary zu gestehen, dass er krank und selbstsüchtig und verlogen war. Die Mitglieder in den aufwärtsfahrenden Lifts lächelten zufrieden und gelöst. Die fröhliche Musik aus den Lautsprechern passte zu ihnen; keiner außer ihm war unglücklich oder schuldbewusst.

In den Beratungsbüros herrschte eine merkwürdige Stille. In einigen Kabinen sprachen Mitglieder mit ihren Beratern, aber die meisten standen leer, die Schreibtische waren aufgeräumt, und die Stühle warteten. In einer Kabine beugte sich ein Mitglied in grünem Overall über ein Telefon und hantierte mit einem Schraubenzieher daran herum.

Mary stand auf ihrem Stuhl und dekorierte das Bild Wei spricht zu den Chemotherapeuten mit einem Stück Weihnachtsgirlande. Auf dem Tisch lagen noch zwei, eine rote und eine grüne, und daneben standen Marys offenes Telecomp und ein Teegefäß.

»Li?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Das ging aber schnell. Setz dich.«

Chip setzte sich. Grüne Zeichen leuchteten in Reihen auf dem Bildschirm des Telecomps auf. Der Antwortknopf wurde durch einen Briefbeschwerer, ein Souvenir aus RUSS 81 655, nach unten gedrückt. »Bleib droben«, sagte Mary zu der Girlande und sprang vom Stuhl, um ihr Werk zu betrachten. Die Girlande blieb an ihrem Platz.

Mary drehte ihren Stuhl herum und lächelte Chip zu, als sie sich hinsetzte. Sie sah auf den Bildschirm des Telecomp, griff dabei nach ihrem Teegefäß und nippte daran. Sie stellte es ab und sah Chip an und lächelte. »Ein Mitglied sagt, du brauchtest Hilfe«, sagte sie. »Das Mädchen, mit dem du gestern Nacht geschlafen hast. Anna« – sie warf einen schnellen Blick auf den Bildschirm – »VF35H6143.«

Chip nickte. »Ich habe ein schmutziges Wort gebraucht«, sagte er.

»Zwei«, sagte Mary, »aber das ist nicht von großer Bedeutung. Wichtig sind vielmehr einige der anderen Dinge, die du gesagt hast, darüber, welche Klassifizierung du dir aussuchen würdest, wenn wir dafür nicht UniComp hätten.«

Chip wandte den Blick von Mary und sah die rote und grüne Weihnachtsgirlande an.

»Denkst du oft darüber nach, Li?«, fragte Mary.

»Nur manchmal«, sagte Chip. »In der Freistunde oder nachts, nie während des Unterrichts oder zur Fernsehzeit.«

»Auch die Nachtstunden zählen«, sagte Mary. »Dann solltest du schlafen.«

Chip sah sie an und schwieg.

»Wann hat es angefangen?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vor ein paar Jahren. In Eur.«

»Dein Großvater«, sagte sie.

Er nickte.

Sie schaute auf den Bildschirm, dann wieder, ganz traurig, auf Chip. »Ist dir noch nie eingefallen, dass ›entscheiden‹ und ›aussuchen‹ Anzeichen von Selbstsucht sind? Akte der Selbstsucht?«

»Doch, vielleicht schon«, sagte Chip und sah auf die Fingerspitze, mit der er über die Kante der Schreibtischplatte fuhr.

»Oh, Li«, sagte Mary. »Wozu bin ich denn da? Wozu gibt es Berater? Um uns zu helfen, nicht wahr?«

Er nickte.

»Warum hast du mir nichts gesagt? Oder deinem Berater in Eur? Warum hast du gewartet und dich um den Schlaf gebracht und diese Anna erschreckt?«

Chip zuckte die Achseln und sah immer noch auf seine Fingerspitze, die die Schreibtischplatte entlangstrich, und auf das Dunkle unter dem Fingernagel. »Es war irgendwie – interessant«, sagte er.

»Irgendwie interessant«, sagte Mary. »Es wäre auch interessant gewesen, an das vorvereinigungsmäßige Chaos zu denken, das wir hätten, wenn wir wirklich unsere eigenen Klassifizierungen aussuchten. Hast du daran gedacht?«

»Nein«, sagte Chip.

»Nun, dann tu es. Stell dir vor, was geschähe, wenn hundert Millionen Mitglieder beschlössen, Fernsehschauspieler zu werden, und nicht ein einziges, in einem Krematorium zu arbeiten.«

Chip blickte zu ihr hoch. »Bin ich sehr krank?«, fragte er.

»Nein«, sagte Mary, »aber ohne Annas Hilfsbereitschaft hätte es so weit kommen können.« Sie nahm den Briefbeschwerer von dem Antwortknopf des Telecomps, und die grünen Zeichen verschwanden vom Bildschirm. »Berühren«, sagte sie.

Chip berührte den Raster mit seinem Armband, und Mary begann die Input-Tasten zu bedienen. »Du hast seit deinem ersten Schultag Hunderte von Tests mitgemacht, und UniComp hat jedes Ergebnis gespeichert.« Ihre Finger flogen über die zwölf schwarzen Tasten. »Du hast Hunderte von Sitzungen mit deinen Beratern hinter dir«, sagte sie, »und auch über diese weiß UniComp Bescheid. Er weiß, welche Aufgaben zu erfüllen sind und wer dafür geeignet ist. Er weiß alles. Also, wer kann die Klassifizierung besser und sachgerechter vornehmen, du oder UniComp?«

»UniComp, Mary«, sagte Chip. »Das weiß ich. Ich wollte es gar nicht wirklich selbst tun; ich habe nur – nur darüber nachgedacht, was wäre, wenn – nichts weiter.«

Mary war mit den Tasten fertig und drückte den Antwortknopf. Grüne Zeichen erschienen auf dem Schirm. Mary sagte: »Geh in den Behandlungsraum.«

Chip sprang auf die Füße. »Danke«, sagte er.

»Danke Uni«, sagte Mary. Sie stellte das Telecomp ab, klappte es zu und legte die Griffe um.

Chip zögerte. »Werde ich wieder gesund?«, fragte er.

»Ganz und gar«, sagte Mary. Sie lächelte beruhigend.

»Tut mir leid, dass du meinetwegen am Sonntag hereinkommen musstest«, sagte Chip.

»Das macht nichts«, sagte sie. »So werde ich wenigstens einmal im Leben vor dem 24. Dezember mit meiner Weihnachtsdekoration fertig werden.«

Chip verließ die Beratungsbüros und ging in den Behandlungsraum. Obwohl nur ein Apparat in Betrieb war, standen nur drei wartende Mitglieder davor. Als er an die Reihe kam, steckte er seinen Arm in die gummiumrandete Öffnung, so weit er konnte, und spürte voll Dankbarkeit, wie der Raster ihn berührte und die Infusionsscheibe sich warm an ihn schmiegte. Er wünschte, das Kitzeln-Piken-Stechen möge lange dauern und ihn für immer und vollständig heilen; aber es ging noch schneller als sonst, und er bekam Angst. Vielleicht war der Kontakt zwischen Uni und der Anlage unterbrochen oder sie enthielt nicht genug Chemikalien! Konnte es nicht sein, dass sie an einem ruhigen Sonntagmorgen achtlos bedient wurde?

Doch seine Sorgen verflogen bald, und als er im Aufzug nach oben fuhr, erschien ihm alles viel besser – er selbst, Uni, die Familie, die Welt, das Universum.

Als er in die Wohnung kam, rief er als Erstes Anna an und bedankte sich bei ihr.

Mit fünfzehn wurde er als 663D klassifiziert – Genetik-Taxonomist vierter Klasse – und nach RUS 41 500 an die Akademie für Genetische Wissenschaft versetzt. Er übte sich in Labortechniken und wurde in die Vererbungslehre, in Mutation und Transplantation-Theorie eingeführt; er lief Schlittschuh und spielte Fußball und besuchte das vV-Museum und das Museum der Errungenschaften der Familie; er hatte eine Freundin namens Anna aus Jap und dann eine andere namens Peace aus Aus. Am Donnerstag, dem 18. Oktober 151, blieb er, wie alle anderen von der Akademie, bis morgens vier Uhr auf, um den Start der Altaira zu verfolgen, und dann verschlief und vertrödelte er den halben freien Tag danach.

Eines Nachts riefen seine Eltern ganz unerwartet an. »Es ist etwas Schlimmes passiert«, sagte seine Mutter. »Papa Jan ist heute Morgen gestorben.«

Die Trauer, die ihn überkam, war offensichtlich in seinem Gesicht zu lesen, denn seine Mutter sagte: »Er war zweiundsechzig, Chip. Er hat sein Leben gelebt.«

»Niemand lebt ewig«, sagte Chips Vater.

»Ja«, sagte Chip. »Ich hatte vergessen, wie alt er war. Wie geht es euch? Ist Peace schon klassifiziert worden?«

Als sie ihr Gespräch beendet hatten, brach er zu einem Spaziergang auf, obwohl es beinahe zehn Uhr abends war und draußen Regen fiel. Er ging in den Park. Alle kamen schon heraus. »Noch sechs Minuten«, sagte ein Mitglied und lächelte ihm zu.

Er kümmerte sich nicht darum. Er wollte nass werden, sich richtig durchregnen lassen. Er wusste nicht warum, aber er wollte es.

Er setzte sich auf eine Bank und wartete. Der Park war leer. Alle waren gegangen. Er dachte an Papa Jan, wie er immer das Gegenteil von dem sagte, was er meinte, und wie er dann tief im Innern von Uni, in eine blaue Decke gewickelt, sagte, was er wirklich dachte.

Auf die Rückenlehne der Bank auf der anderen Seite des Fußwegs hatte jemand mit roter Kreide ein windschiefes KAMPF UNI geschrieben. Ein anderer oder vielleicht dasselbe kranke Mitglied, das sich nachher wieder geschämt hatte – hatte die Inschrift mit Weiß durchgestrichen. Der Regen begann sie abzuwaschen, und weiße und rote Kreise vermischten sich zu einem rosaroten Rinnsal, das die Banklehne besudelte.

Chip wandte sein Gesicht zum Himmel und hielt es unbewegt dem Regen entgegen. Er versuchte sich vorzustellen, dass er vor Trauer weinte.

Zu Anfang von Chips drittem und letztem Jahr auf der Akademie fand ein komplizierter Austausch der Kabinen im Schlafsaal statt, damit alle näher bei ihrem Freund oder ihrer Freundin lagen. Auch Chip zog um und war nun zwei Kabinen von Yin DW entfernt. Direkt gegenüber auf der anderen Seite des Ganges schlief ein Mitglied namens Karl WL, der kleiner als normal war, oft einen grünen Skizzenblock mit sich herumtrug und selten von sich aus ein Gespräch anfing, obwohl ihm immer rasch eine Antwort einfiel.

Dieser Karl WL hatte einen außergewöhnlich konzentrierten Ausdruck in den Augen, als ob er der Antwort auf schwierige Fragen dicht auf der Spur wäre. Einmal bemerkte Chip, wie er nach Beginn der ersten Fernsehstunde aus dem Aufenthaltsraum verschwand und erst kurz vor Ende der zweiten wieder hereinschlüpfte, und eines Nachts im Schlafsaal sah er ein schwaches Leuchten durch Karls Bettdecke dringen, nachdem die Lichter ausgeschaltet waren.

Als Chip einmal samstagnachts – eigentlich war es schon Sonntagmorgen – leise aus Yin DW’s Kabine zu seiner eigenen zurückging, sah er Karl im Schlafanzug auf dem Bett sitzen. Er hielt seinen Skizzenblock unter das Licht einer Taschenlampe auf dem Schreibtisch und zeichnete mit raschen, ruckartigen Handbewegungen. Die Glühbirne der Taschenlampe war so abgedeckt, dass nur ein dünner Lichtstrahl herausdrang. Chip ging näher zu Karl und sagte: »Kein Mädchen diese Woche?« Karl schreckte zusammen und klappte den Block zu. In der Hand hielt er ein Stück Holzkohle.

»Entschuldige, dass ich dich überrascht habe«, sagte Chip.

»Macht nichts«, sagte Karl. Von seinem Gesicht waren in dem trüben Licht nur das Kinn und die Backenknochen zu erkennen. »Ich war früh fertig. Peace KG. Bleibst du nicht die ganze Nacht bei Yin?«

»Sie schnarcht«, sagte Chip.

Karl gluckste belustigt. »Ich lege mich jetzt hin«, sagte er.

»Was machst du denn?«

»Nur ein paar genetische Schaubilder«, sagte Karl. Er schlug den Deckel des Blocks zurück und zeigte Chip das erste Blatt. Chip kam näher, beugte sich nieder und schaute – auf Querschnitte von Genen in B 3, die sorgfältig mit einer Feder gezeichnet und schraffiert waren. »Ich habe es mit Holzkohle versucht«, sagte Karl, »aber das klappt nicht.« Er schloss den Block, legte die Holzkohle auf das Pult und knipste die Taschenlampe aus. »Schlaf gut«, sagte er.

»Danke«, sagte Chip. »Du auch.«

Er ging in seine eigene Kabine und kroch ins Bett. Er überlegte sich, ob Karl tatsächlich genetische Schaubilder gezeichnet hatte, für die Holzkohle wohl das ungeeignetste Material war. Wahrscheinlich sollte er mit seinem Berater, Li YB, darüber sprechen, dass Karl so geheimnisvoll tat und sich manchmal gar nicht wie ein Mitglied benahm; aber er beschloss, noch eine Weile zu warten, bis er sicher war, dass Karl Hilfe brauchte. Er wollte nicht Li YB’s und Karls Zeit und seine eigene vergeuden, indem er unnötig Alarm schlug.

Ein paar Wochen später kam Weis Geburtstag, und nach dem Festumzug fuhren Chip und ein rundes Dutzend andere Studenten zum Vergnügungsgarten hinaus, um dort den Nachmittag zu verbringen. Sie ruderten eine Weile und schlenderten dann durch den Zoo. Als sie vor einem Springbrunnen standen, sah Chip Karl WL auf dem Geländer vor dem Pferdegehege sitzen. Er hielt seinen Skizzenblock auf den Knien. Chip entschuldigte sich bei den anderen und ging hinüber.

Karl sah ihn kommen, lächelte ihn an und klappte den Block zu. »War das nicht ein toller Festzug?«, sagte er.

»Wirklich Klasse«, sagte Chip. »Zeichnest du die Pferde?«

»Ich versuch’s mal.«

»Darf ich sehen?«

Karl sah ihm einen Moment in die Augen, dann sagte er: »Klar, warum nicht?« Er blätterte den Block durch, öffnete ihn in der Mitte und ließ Chip einen sich aufbäumenden Hengst in Holzkohle sehen, der dunkel und kraftvoll die Seite füllte. Muskeln wölbten sich unter dem glänzenden Fell; seine Augen rollten wild, und seine Vorderbeine bebten. Chip war völlig überrascht, wie lebendig und eindrucksvoll die Zeichnung war. Noch nie hatte er ein Pferdebild gesehen, das diesem auch nur annähernd gleichkam. Er suchte nach Worten und brachte nur heraus: »Das ist – großartig, Karl! Klasse!«

»Es ist nicht naturgetreu«, sagte Karl.

»Doch!«

»Nein!«, sagte Karl. »Wenn es naturgetreu wäre, würde ich an der Kunstakademie studieren.«

Chip sah die echten Pferde in dem Gehege an und dann wieder Karls Zeichnung, dann wieder die Pferde, und er erkannte, dass ihre Beine dicker und ihre Flanken schmaler waren.

»Du hast recht«, sagte er und sah wieder die Zeichnung an. »Es ist nicht naturgetreu, aber irgendwie besser als naturgetreu.«

»Danke«, sagte Karl. »Das möchte ich erreichen. Ich bin noch nicht fertig.«

Chip schaute ihn an und fragte: »Hast du schon mehr gemacht?«

Karl schlug die vorhergehende Seite um und zeigte ihm einen sitzenden Löwen – stolz und wachsam. In der linken unteren Ecke der Seite stand ein A in einem Kreis. »Wunderschön!«, sagte Chip. Karl drehte andere Seiten um; da gab es zwei Rehe, einen Affen, einen Adler im Flug, zwei Hunde, die sich beschnupperten, und einen kauernden Leoparden. Chip lachte. »Du hast ja den ganzen Zoo beisammen!«

»Nein«, sagte Karl.

In der Ecke trug jede Zeichnung das von einem Kreis umgebene A.

»Was bedeutet das?«, fragte Chip.

»Früher haben Künstler ihre Bilder immer signiert, damit man sehen konnte, wer sie geschaffen hat.«

»Ich weiß«, sagte Chip, »aber warum ein A?«

»Oh«, sagte Karl und blätterte die Seiten einzeln um. »Es steht für Ashi«, sagte er. »So nennt mich meine Schwester.« Er kam zu dem Pferd, zog eine neue Linie am Bauch und betrachtete die Pferde in dem Gehege mit seinem konzentrierten Blick, der nun ein Objekt und einen Grund hatte.

»Ich habe auch einen besonderen Namen«, sagte Chip. »Chip. Mein Großvater hat mich so genannt.«

»Chip? Span?«

»Das bedeutet ›Span vom alten Holz‹. Ich soll wie der Großvater meines Großvaters sein.« Chip sah Karl zu, wie er die Hinterbeine des Pferdes deutlicher herausarbeitete, und trat dann zur Seite. »Ich gehe besser zu meiner Gruppe zurück«, sagte er. »Aber deine Bilder sind große Klasse. Es ist eine Schande, dass du nicht als Maler klassifiziert wurdest.«

Karl sah ihn an. »Ich wurde es aber nicht«, sagte er, »deshalb zeichne ich nur sonntags und feiertags und in der Freistunde. Ich achte darauf, dass meine Arbeit und meine sonstigen Pflichten nie darunter leiden.«

»Richtig«, sagte Chip. »Bis später im Schlafsaal.«

An diesem Abend kam Chip nach dem Fernsehen in seine Kabine zurück und fand das Pferdebild auf seinem Schreibtisch. Karl fragte in seiner Kabine: »Willst du es haben?«

»Ja«, sagte Chip. »Danke. Es ist großartig.« Die Zeichnung war noch lebendiger und kraftvoller als zuvor. In einer Ecke stand ein A, das von einem Kreis umschlossen war.

Chip heftete die Zeichnung auf das schwarze Brett hinter dem Schreibtisch, und als er gerade fertig war, kam Yin DW herein, um ein Universe-Heft zurückzubringen, das sie ausgeliehen hatte. »Woher hast du das?«, fragte sie.

»Es stammt von Karl WL«, sagte Chip.

»Sehr hübsch, Karl«, sagte Yin. »Du zeichnest gut.«

Karl, der gerade in seinen Schlafanzug schlüpfte, sagte: »Danke, es freut mich, dass es dir gefällt.«

Zu Chip gewandt flüsterte Yin: »Die Proportionen stimmen überhaupt nicht, aber lass es trotzdem da. Es war nett von dir, dass du es aufgehängt hast.«

Ab und zu gingen Chip und Karl in der Freistunde in das vV-Museum. Karl machte Skizzen vom Mastodon und vom Bison, von den Höhlenmenschen in ihren Tierfellen, den Soldaten und Matrosen in ihren zahllosen verschiedenen Uniformen. Chip betrachtete die uralten Autos und Schreibmaschinen, die Safes und Handschellen und Fernsehgeräte. Er studierte die Bilder und Modelle der Bauwerke von einst: die Kirchen mit ihren Türmen und Pfeilern, die Schlösser mit ihren Zinnen, die großen und kleinen Häuser mit ihren Fenstern und verschließbaren Türen. Es wäre sicher ein angenehmes und erhebendes Gefühl, von seinem Zimmer oder seinem Arbeitsplatz auf die Welt zu schauen, und von außen musste ein Haus bei Nacht mit vielen erleuchteten Fenstern hübsch oder sogar schön ausgesehen haben.

Eines Nachmittags kam Karl in Chips Kabine und stellte sich, die Fäuste in die Seite gestemmt, neben den Schreibtisch. Chip sah zu ihm auf und glaubte, Karl habe Fieber oder eine noch schlimmere Krankheit; sein Gesicht war gerötet, die Augen ganz schmal, sein Blick seltsam starr. Aber nein, nicht Fieber war daran schuld, sondern Zorn, ein Zorn, wie Chip ihn nie zuvor gesehen hatte; der so heftig war, dass Karl, als er zu sprechen versuchte, anscheinend seine Lippen nicht bewegen konnte. Ängstlich fragte Chip: »Was hast du?«

»Li«, sagte Karl. »Hör zu. Tust du mir einen Gefallen?«

»Klar! Natürlich!«

Karl beugte sich dicht zu ihm vor und flüsterte: »Beantrage einen Zeichenblock für mich, ja? Ich habe gerade einen verlangt und nicht bekommen. Fünfhundert von den verdammten Dingern lagen auf einem riesigen Stapel, und ich musste meinen zurückgeben!«

Chip starrte ihn an.

»Du beantragst einen, ja?«, sagte Karl. »Jeder kann in seiner Freizeit ein wenig zeichnen, stimmt’s? Du gehst hinunter, nicht wahr?«

Ganz unglücklich sagte Chip: »Karl –«

Karl sah ihn an, und sein Zorn verflog. »Nein«, sagte er und richtete sich auf, »ich habe – ich habe nur die Nerven verloren, es tut mir leid. Entschuldige, Bruder. Vergiss es.« Er klopfte Chip auf die Schulter. »Ist schon wieder in Ordnung«, sagte er. »Ich werde in einer Woche oder so wieder einen Antrag stellen. Ich habe ohnehin zu viel gezeichnet, glaube ich. Uni weiß es am besten.« Er ging den Flur hinunter zum Badezimmer.

Chip drehte sich wieder um zu seinem Schreibtisch und stützte sich auf die Ellbogen. Zitternd verbarg er sein Gesicht in den Händen.

Das geschah an einem Dienstag. Woodstags um 10.40 Uhr ging Chip jede Woche zu seinem Berater, und diesmal würde er Li YB von Karls Krankheit erzählen. Jetzt konnte keine Rede mehr davon sein, dass er voreilig Alarm schlug, im Gegenteil: Es war unverantwortlich gewesen, so lange zu warten. Beim ersten deutlichen Anzeichen hätte er etwas sagen müssen – als Karl sich vom Fernsehen davongeschlichen hatte (um zu zeichnen, natürlich) oder sogar schon, als er Karls seltsamen Blick bemerkte. Warum, zum Hass, hatte er gewartet? Im Geiste hörte er schon Li YB’s freundlichen Vorwurf: »Du warst kein sehr guter Hüter deines Bruders, Li.«

Frühmorgens am Woodstag beschloss er jedoch, sich ein paar Overalls und den neuen Genetiker zu holen. Er ging hinunter in das Versorgungszentrum, nahm einen Genetiker und ein paar Overalls und ging ein Stück weiter und kam zur Abteilung Zeichenbedarf. Er sah den Stapel grüner Zeichenblöcke; fünfhundert waren es nicht, aber siebzig oder achtzig, und niemand schien sich um sie zu reißen. Er ging weg, weil er dachte, er müsse den Verstand verlieren. Doch wenn Karl versprach, nur dann zu zeichnen, wenn er durfte ...

Er ging zurück – »Jeder kann in seiner Freizeit ein wenig zeichnen, stimmt’s?« – und ergriff einen Block und eine Packung Kohlestifte. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen reihte er sich in die kürzeste Schlange ein. So tief wie möglich holte er Luft, noch einmal und noch einmal.

Er hielt sein Armband gegen den Raster, dann die Etikette der Overalls, den Genetiker, den Block und die Zeichenkohle. Die Antwort war jedes Mal ja. Er machte Platz für das nächste Mitglied.

Er ging in den Schlafsaal zurück. Karls Kabine war leer, das Bett urgemacht. Er ging in seine eigene Kabine und legte die Overalls in das Fach und den Genetiker auf den Schreibtisch. Auf das oberste Blatt des Zeichenblocks schrieb er, immer noch zitternd: Nur in der Freizeit, das musst du mir versprechen. Dann legte er den Block und die Zeichenkohle auf sein Bett, setzte sich an den Schreibtisch und sah sich den Genetiker an.

Karl kam in seine Kabine und fing an, sein Bett zu machen. »Gehört das dir?«, fragte Chip.

Karl blickte auf den Zeichenblock und die Kohlestifte auf Chips Bett.

Chip sagte: »Mir gehört es nicht.«

»O ja, danke«, sagte Karl, kam herüber und nahm die Sachen. »Vielen Dank.«

»Du solltest deine NN auf die erste Seite schreiben«, sagte Chip, »wenn du dein Zeug so herumliegen lässt.«

Karl ging in seine Kabine, schlug den Zeichenblock auf und schaute die erste Seite an. Er sah zu Chip hinüber, nickte, hob die rechte Hand und sagte feierlich: »Bei der Liebe zur Familie!«

Sie fuhren zusammen hinunter in die Unterrichtsräume. »Warum musstest du eine Seite unbrauchbar machen?«, fragte Karl.

Chip lächelte.

»Das soll kein Witz sein«, sagte Karl. »Hast du noch nie gehört, dass man eine Notiz auf einen Schmierzettel schreiben kann?«

»Christus, Marx, Wood und Wei«, sagte Chip.

Im Dezember dieses Jahres, 152, kam die schreckliche Nachricht, dass der Graue Tod in allen Marskolonien – außer einer – wütete und sie in neun Tagen vollkommen auslöschte. Wie in allen Einrichtungen der Familie herrschte auch in der Akademie für Genetische Wissenschaft hilfloses Schweigen, dann Trauer und endlich eine unerschütterliche Entschlossenheit, der Familie zu helfen, diesen bösen Schicksalsschlag zu überwinden. Alle arbeiteten härter und länger. Die Freizeit wurde auf die Hälfte reduziert, auch sonntags fand Unterricht statt, und Weihnachten war nur ein halber Tag frei. Nur die Genetik konnte neue Kräfte für kommende Generationen heranzüchten; jeder hatte es eilig, seine Ausbildung abzuschließen und seine erste echte Aufgabe zu erhalten. An jeder Mauer klebten schwarze Plakate, auf denen in weißen Lettern stand: DER MARS MUSS WIEDER UNSER SEIN.

Der neue Geist herrschte mehrere Monate. Erst zum Marxfest gab es wieder einen ganztägigen Feiertag; und dann wusste keiner so richtig etwas damit anzufangen. Chip und Karl und ihre Freundinnen fuhren im Ruderboot zu einer der Inseln im Vergnügungsgarten-See und legten sich auf einen großen, flachen Felsen in die Sonne. Karl zeichnete seine Freundin. Das war, soviel Chip wusste, das erste Mal, dass er einen lebenden Menschen zeichnete.

Im Juni beantragte Chip wieder einen Zeichenblock für Karl.

Ihre Ausbildung war – fünf Wochen vor dem Termin – beendet, und ihre ersten Posten wurden ihnen zugewiesen. Chip kam in ein Forschungslaboratorium für Virengenetik in USA 90058, Karl in das Institut für Enzymologie in JAP 50 319. Am Abend bevor sie die Akademie verließen, packten sie ihre Reisetornister. Karl zog grüne Zeichenblöcke aus seinen Schreibtischschubladen, hier ein Dutzend, dort ein halbes, noch mehr Blöcke aus anderen Schubladen. Er türmte sie alle auf seinem Bett auf. »Die kriegst du nie alle in deinen Tornister«, sagte. Chip.

»Habe ich auch nicht vor«, sagte Karl. »Die sind alle voll, ich brauche sie nicht mehr.« Er setzte sich auf das Bett, blätterte einen Block durch und riss zwei Zeichnungen heraus.

»Kann ich ein paar haben?«, fragte Chip.

»Klar«, sagte Karl und schubste ihm einen Block zu.

Er enthielt zum größten Teil Skizzen aus dem vV-Museum. Chip nahm sich eine von einem Armbrustschützen im Kettenhemd und eine, auf der sich ein Affe kratzte.

Karl raffte die meisten Blöcke zusammen und ging den Flur hinunter zum Müllschlucker. Chip legte den Block auf Karls Bett und nahm sich einen anderen. In diesem sah er einen Mann und eine Frau, beide nackt, in einer Parklandschaft außerhalb einer kahlen Großstadt stehen. Sie waren größer als normal, sehr schön und seltsam würdevoll. Die Frau sah ganz anders aus als der Mann, und zwar nicht nur im Genitalbereich: Ihre Haare waren länger, ihre Brüste traten hervor, und ihr ganzer Körper war weicher, sanfter und stärker gewölbt. Die Zeichnung war sehr gut, aber irgendetwas daran störte Chip, ohne dass er wusste, was es war. Er schlug weitere Seiten auf und erblickte andere Frauen und Männer. Die Bilder wurden sicherer und stärker, die Linien sparsamer und kühner; bessere Zeichnungen waren Karl nie gelungen, doch in jeder von ihnen lag etwas Störendes, Unausgewogenes, ein Mangel, den Chip nicht definieren konnte.

Es traf ihn wie ein Blitzschlag. Sie hatten keine Armbänder!

Er sah zur Sicherheit noch einmal nach. Sein Magen krampfte sich zusammen. Fast wurde ihm übel. Keine Armbänder! Auf keiner Zeichnung Armbänder! Und es bestand nicht die Möglichkeit, dass die Zeichnungen unvollendet waren, denn jede trug das A im Kreis in einer Ecke. Er legte den Zeichenblock weg und setzte sich auf sein Bett und sah zu, wie Karl zurückkam und den Rest der Blöcke einsammelte und lächelnd davontrug.

Im Aufenthaltsraum wurde getanzt, aber wegen der Marskatastrophe war die Stimmung gedrückt, und die Feier dauerte nicht lange. Später ging Chip mit seiner Freundin in ihre Kabine. »Was hast du?«, fragte sie.

»Nichts.«

Auch Karl fragte ihn, als sie am Morgen die Bettdecken zusammenlegten. »Was hast du, Li?«

»Nichts.«

»Traurig, weil du von hier weg musst?«

»Ein bisschen.«

»Ich auch. Komm, gib mir deine Laken, und ich werfe sie in den Müllschlucker.«

»Wie ist seine NN?«, fragte Li YB.

»Karl WL35S7497«, sagte Chip.

Li YB kritzelte sie nieder. »Und was genau scheint ihm zu fehlen?«, fragte er. Chip wischte sich die Handflächen an den Schenkeln ab. »Er hat ein paar Bilder von Mitgliedern gezeichnet«, sagte er.

»Verhalten sie sich aggressiv?«

»Nein, nein«, sagte Chip. »Sie stehen oder sitzen einfach herum, treiben es miteinander oder spielen mit Kindern.«

»Und?«

Chip sah auf den Schreibtisch. »Sie haben keine Armbänder.«

Li YB sagte nichts. Sie sahen einander an. Nach einem kurzen Augenblick fragte Li YB: »Mehrere Bilder?«

»Ein ganzer Zeichenblock voll.«

»Und überhaupt keine Armbänder?«

»Kein einziges.«

Li YB atmete tief ein und ließ dann die Luft rasch und stoßweise durch die Zähne zischen. Er sah auf seinen Notizblock. »OKWL35S7497P«, sagte er. Chip nickte.

Er zerriss das Bild des Armbrustschützen, weil es aggressiv war, und auch die Affen-Zeichnung. Er trug die Schnipsel zum Müllschlucker und warf sie hinein.

Er verstaute die letzten paar Dinge in seinem Tornister – seine Schere und sein Mundstück und eine gerahmte Fotografie von seinen Eltern und Papa Jan – und drückte ihn zu.

Karls Freundin kam herein, schon mit dem Tornister über der Schulter. »Wo ist Karl?«, fragte sie.

»Im Medizentrum.«

»Oh«, sagte sie. »Richte ihm aus, dass ich mich verabschieden wollte, ja?«

»Klar.«

Sie küssten sich auf die Wange.

»Leb wohl«, sagte sie.

»Leb wohl.«

Sie ging den Flur hinunter. Andere Studenten, die nun keine Studenten mehr waren, kamen vorbei. Sie lächelten Chip zu und sagten ihm Lebewohl. Er blickte sich in der leeren Kabine um. Das Pferdebild hing immer noch an der Tafel. Er ging hinüber und schaute es an, sah wieder den Hengst, der sich so lebendig und wild aufbäumte. Warum hatte Karl sich nicht mit den Tieren im Zoo begnügt? Warum hatte er angefangen, lebende Menschen zu zeichnen?

Chip spürte in sich ein Gefühl aufkeimen und stärker werden, das ihm sagte, es sei falsch gewesen, Li YB von Karls Zeichnungen zu erzählen. Aber natürlich wusste er, dass er recht gehabt hatte. Wie konnte es denn falsch sein, einem kranken Bruder zu helfen? Falsch wäre es gewesen, nichts zu sagen, den Mund zu halten wie früher und zuzulassen, dass Karl weiterhin Mitglieder ohne Armbänder zeichnete und immer kränker wurde. Schließlich hätte er vielleicht sogar Mitglieder gezeichnet, die sich aggressiv verhielten. Die kämpften!

Natürlich hatte er recht gehabt.

Und dennoch verließ ihn das Gefühl nicht, dass er falsch gehandelt hatte, und es wuchs, ganz unsinnig, zu Schuldbewusstsein an.

Es kam jemand auf ihn zu, und er drehte sich hastig um, weil er glaubte, es sei Karl, der sich bei ihm bedanken wollte. Es war nicht Karl, nur jemand, der an seiner Kabine vorbei dem Ausgang zuging.

Aber was würde geschehen: Karl würde vom Medizentrum zurückkommen und sagen: »Ich danke dir für deine Hilfe, Li. Ich war wirklich krank, aber jetzt geht es mit sehr viel besser«, und er würde sagen: »Danke nicht mir, Bruder, danke Uni«, und Karl würde sagen: »Nein, nein«, und sich noch einmal bei ihm bedanken und ihm die Hand schütteln.

Plötzlich wünschte er, nicht da zu sein, um Karls Dank für seine Hilfe zu empfangen; er ergriff seinen Tornister und lief zum Flur – blieb kurz stehen, überlegte und rannte zurück. Er nahm das Pferdebild von der Wand, öffnete seinen Tornister auf dem Schreibtisch, steckte die Zeichnung zwischen die Seiten eines Kolleghefts, schloss den Tornister und ging hinaus.

Er hastete über die abwärtsfahrende Rolltreppe, rief anderen Mitgliedern Entschuldigungen nach, immer getrieben von der Angst, Karl könnte ihm nachkommen. Er bahnte sich seinen Weg bis in das unterste Geschoss, wo der Bahnhof war, und stellte sich in die Reihe der Mitglieder, die warteten, bis sie den Flughafen betreten durften. Er hielt den Kopf gerade und blickte nicht zurück. Endlich kam er zu dem Raster. Er stand einen Augenblick davor und berührte ihn mit seinem Armband. Ein grünes JA blinkte auf. Er stürzte durch die Sperre.