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Jeden Abend aß er schnell (aber nicht zu schnell) und fuhr dann zum Museum der Errungenschaften der Familie, um das Labyrinth der bis zur Decke reichenden beleuchteten Karten zu studieren, bis das Museum zehn Minuten vor der Fernsehzeit geschlossen wurde. Einmal ging er nach dem letzten Gong hin – eineinhalb Stunden zu Fuß – aber er stellte fest, dass die Karten im Schein der Taschenlampe nicht zu lesen waren, weil die Markierungen auf der glatten, glänzenden Oberfläche verschwanden. Das Licht hinter den Karten wagte er nicht einzuschalten, da es anscheinend mit dem Beleuchtungssystem für die ganze Halle gekoppelt war und der entstehende Mehrverbrauch an Energie Uni hätte alarmieren können. An einem Sonntag nahm er Mary KK mit und schickte sie zu der Ausstellung »Das Universum von morgen«, während er drei Stunden lang pausenlos die Landkarten studierte.

Er fand nichts: keine Insel ohne Stadt oder Industrieanlage, keinen Berggipfel ohne Weltraumbeobachtungs- oder Klimasteuerungs-Zentrum, keinen Quadratkilometer Land oder Meeresboden, der nicht für Bergbau oder für landwirtschaftliche Zwecke oder zur Errichtung von Häusern oder Flughäfen oder Parks für die Acht-Milliarden-Familie genutzt wurde. Der Sinnspruch, der in goldenen Lettern über dem Eingang zur Landkartenabteilung stand – Die Erde ist unser Erbe, wir nutzen sie weise und ohne Verschwendung –, schien wahr zu sein, so wahr, dass selbst für die kleinste Gemeinschaft außerhalb der Familie kein Platz blieb.

Leopard starb, und Sparrow sang. King hüllte sich in Schweigen und spielte an dem Getriebe einer vV-Erfindung herum, und Snowflake verlangte schon wieder Sex.

Chip sagte zu Lilac: »Nichts, gar nichts.«

»Zu Anfang müssen Hunderte kleiner Kolonien bestanden haben«, sagte sie. »Eine davon muss alles überdauert haben.«

»Dann besteht sie aus einem halben Dutzend Mitgliedern, die irgendwo in einer Höhle hausen«, sagte er.

»Bitte, schau weiter nach«, sagte sie. »Du kannst nicht jede Insel überprüft haben.«

Im Dunkeln des Autos aus dem zwanzigsten Jahrhundert, das Lenkrad in der Hand haltend, ließ er sich das Problem durch den Kopf gehen, während er die verschiedenen Schalter und Hebel bewegte, und je mehr er darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien ihm eine Stadt oder auch nur eine Siedlung von Unheilbaren. Selbst wenn er ein entlegenes Gebiet auf der Landkarte übersehen hatte – konnte eine Siedlung überhaupt existieren, ohne dass Uni davon erfuhr? Jeder Mensch hinterließ Spuren in seiner Umgebung; tausend, ja schon hundert Menschen würden die Temperatur eines Gebiets in die Höhe treiben, die Flüsse mit ihren Abfällen und vielleicht die Luft mit ihren primitiven Feuern verschmutzen. Das Land oder das Meer würde in mehreren Kilometern Umkreis auf wahrnehmbare Weise durch ihre Gegenwart in Mitleidenschaft gezogen.

Also hätte Uni längst von der Existenz der theoretischen Stadt gewusst – und wie reagiert? Er hätte Ärzte und Berater und tragbare Behandlungsanlagen entsandt und die Unheilbaren »kuriert« und sie zu »gesunden« Mitgliedern gemacht.

Wenn sie sich nicht verteidigt hatten, natürlich ... Ihre Vorfahren waren bald nach der Vereinigung aus der Familie geflüchtet, als Behandlungen freiwillig waren; oder später, als sie Pflicht waren, aber noch nicht so wirkungsvoll wie heute. Sicher hatten einige dieser Unheilbaren ihre Zufluchtsorte mit tödlichen Waffen verteidigt. Würden sie diese Sitte und auch die Waffen nicht der folgenden Generation überliefert haben? Was würde Uni heute, im Jahre 162, tun, wenn eine bewaffnete, zur Verteidigung bereite Gemeinschaft einer waffenlosen, unkämpferischen Familie gegenüberstünde? Was hätte er getan, wären vor fünf oder fünfundzwanzig Jahren Anzeichen für die Existenz einer solchen Siedlung entdeckt worden? Sie geduldet und ihre Einwohner ihrer »Krankheit« überlassen und ihnen ein paar Quadratkilometer der Welt geschenkt? Die Stadt mit LPK besprüht? Was aber, wenn die Flugzeuge abgeschossen werden konnten? Würde Uni in seinen kalten Stahlblöcken entscheiden, dass die Kosten dieser »Heilung« im Verhältnis zu ihrem Nutzen zu hoch waren?

Er stand zwei Tage vor einer Behandlung, und sein Geist war so rege wie nie zuvor. Er wünschte, er würde noch aktiver. Er spürte, dass es unmittelbar hinter den Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeit etwas gab, das ihm noch entging.

Wenn Uni die Stadt duldete, anstatt Mitglieder und Zeit und technische Mittel für ihre »Heilung« zu opfern – was dann? Da war noch eine andere Möglichkeit, ein nächster Gedanke, der von diesem ersten abzuleiten war und auf den er noch kommen musste.

Am Donnerstag, dem Tag vor seiner Behandlung, rief er im Medizentrum an und klagte über Zahnschmerzen. Man schlug ihm einen Termin für Freitagmorgen vor, aber er sagte, er komme am Samstagmorgen ohnehin zu seiner Behandlung, und so könnte man vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Zahnschmerzen seien nicht schlimm – nur ein leichtes Ziehen. Er wurde für Samstagmorgen 8.15 Uhr bestellt.

Dann rief er Bob RO an und sagte ihm, er müsse am Samstag um 8.15 Uhr zum Zahnarzt, und fragte, ob es nicht eine gute Idee wäre, ihm dann auch seine Behandlung zu geben? Zwei Fliegen mit einer Klappe – »Das ginge wahrscheinlich schon«, sagte Bob. »Bleib dran« – und er schaltete an seinem Telecomp herum. »Du bist Li RM –«

»Fünfunddreißig M4419.«

»Richtig«, sagte Bob, Tasten drückend.

Chip saß da und schaute unbeteiligt zu.

»Samstagmorgen 8.05 Uhr«, sagte Bob.

»Fein«, sagte Chip. »Danke.«

»Danke Uni«, sagte Bob.

Nun war der Abstand zwischen zwei Behandlungen um einen Tag größer als bisher.

In dieser Nacht, der Nacht zum Freitag, regnete es, und er blieb in seinem Zimmer, an seinem Schreibtisch, die Stirn auf die Fäuste gestützt, und dachte nach und wünschte, er wäre im Museum und könnte rauchen.

Wenn eine Unheilbaren-Stadt existierte und Uni davon wusste und sie ihren bewaffneten Verteidigern überließ, dann – dann ...

Dann würde Uni nicht zulassen, dass die Familie davon erfuhr – und sich ängstigte oder, in manchen Fällen, in Versuchung geführt wurde – und er würde den Apparat für die Landkartenerstellung mit manipulierten Daten füttern.

Natürlich! Wie konnte man in schöne Familien-Landkarten vermutlich ungenutzte Gebiete eintragen? »Schau nur einmal den Ort hier an, Papi!«, ruft ein Kind bei einem Besuch im MEF. »Warum nutzen wir unser Erbe nicht weise und ohne Verschwendung?« Und Papi antwortet: »Ja, das ist komisch ...« Also würde man die Stadt als IND 99 999 oder als Große Schreibtischlampen-Fabrik bezeichnen und niemanden näher als fünf Kilometer an sie herankommen lassen. Eine Insel würde gar nicht eingezeichnet, sondern durch blaues Meer ersetzt werden.

Und daher war es sinnlos, Landkarten anzusehen. Unheilbaren-Städte konnte es hier oder da oder überall geben – oder überhaupt nirgends. Die Landkarten bewiesen nichts, weder im positiven noch im negativen Sinn. Hatte er sich den Kopf zerbrochen, nur um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass es von Anfang an eine Dummheit gewesen war, die Landkarten abzusuchen, und dass es absolut keine Möglichkeit gab, die Stadt zu finden; außer vielleicht, wenn man die ganze Erde zu Fuß durchmaß? Nieder mit Lilac und ihren Wahnsinnsideen!

Nein – nieder mit Uni!

Eine halbe Stunde lang konzentrierte er seine ganzen Geisteskräfte auf das Problem, wie man eine theoretische Stadt in einer nicht zu bereisenden Welt finden kann; schließlich gab er es auf und legte sich schlafen. Im Bett dachte er an Lilac, an den Kuss, den sie abgewehrt, und den Kuss, den sie ihm gewährt hatte, und an seine merkwürdige sexuelle Erregung, als sie ihm ihre weich aussehenden, gewölbten Brüste gezeigt hatte ...

Am Freitag war er nervös und angespannt. Er hielt es kaum aus, sich normal zu benehmen, und konnte den ganzen Tag, im Zentrum, beim Abendessen, beim Fernsehen und im Foto-Klub, kaum atmen. Nach dem letzten Gong ging er zu Snowflakes Haus hinüber – »Au«, sagte sie, »morgen kann ich mich nicht mehr rühren!« – und dann ins vV. Er durchkreiste die Säle im Schein der Taschenlampe. Der Gedanke, die Stadt könnte existieren, vielleicht sogar irgendwo in der Nähe, ging ihm nicht aus dem Kopf. Er besah sich das ausgestellte Geld und den Gefangenen in seiner Zelle (wir zwei, Bruder) und die Türschlösser und die Kameras für die zweidimensionalen Fotos.

Eine Möglichkeit sah er, aber dazu müsste die Gruppe Dutzende von Mitgliedern umfassen. Dann könnte jeder anhand seiner eigenen begrenzten Kenntnisse die Landkarten prüfen. Er selbst zum Beispiel könnte die genetischen Laboratorien und Forschungszentren und die Städte kontrollieren, die er gesehen oder von denen er durch andere Mitglieder gehört hatte. Lilac könnte die Beratungsstellen und andere Städte prüfen ... Aber dafür wären unbegrenzte Zeit und ein ganzes Heer unterbehandelter Komplizen notwendig. Er hörte im Geiste schon, wie King tobte.

Er blickte auf die Landkarte von 1951 und staunte, wie immer, über die merkwürdigen Namen und das Gewirr der Grenzen. Und doch konnten die Mitglieder damals gehen, wohin sie wollten – mehr oder weniger! In die Landkarte waren neue, saubere Stücke eingeklebt, die genau in das unterteilende Liniennetz eingepasst waren und im Schein der Taschenlampe am Rand feine Schatten warfen. Hätte sich der Lichtstrahl nicht bewegt, dann wären die blauen Rechtecke vollkommen –

Blaue Rechtecke!

Wenn die Stadt eine Insel wäre, würde sie nicht eingezeichnet, sondern durch blaues Meer ersetzt.

Und blaues Meer müsste auch auf den vV-Karten an ihre Stelle treten. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Er ließ den Lichtkegel über die glasbedeckten Landkarten hin und her wandern und zählte die Kartenabschnitte, die Schatten warfen. Acht waren es – alle blau, alle im Meer und gleichmäßig verteilt. Fünf davon füllten ein einzelnes Rechteck des Liniennetzes aus, drei weitere je ein doppeltes. Eines der einzelnen Rechtecke war direkt vor der indischen Küste in die Karte eingefügt, im »Golf von Bengalen« – dem Golf der Beständigkeit.

Er legte die Taschenlampe auf einen der Schaukästen und ergriff die große Karte an beiden Seiten ihres Rahmens. Er nahm sie vom Haken und holte sie herunter, lehnte ihre verglaste Vorderseite gegen seine Knie und nahm die Taschenlampe wieder in die Hand.

Der Rahmen war alt, aber seine graue Papierrückseite wirkte verhältnismäßig neu. Am unteren Ende waren die Buchstaben EV aufgestempelt. Er trug die Karte an ihrem Aufhänger durch die Halle, die Rolltreppe hinab und durch die Halle im zweiten Stock in den Lagerraum. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, breitete er die Karte mit der Vorderseite nach unten vorsichtig über den Tisch.

Mit der Ecke eines Fingernagels schlitzte er das Papier, das sich straff über die Rückseite des Rahmens spannte, am unteren Ende und an den Seiten auf, schlug es zurück und drückte es fest, sodass der Rahmen frei lag. Auf der Innenseite war der Rahmen mit weißem Pappdeckel ausgelegt, der mit zahlreichen kurzen Drahtstiften befestigt war.

Er wühlte in den Kartons mit den kleineren Relikten, bis er eine rostige Zange mit einem gelben Klebezettel am Griff fand. Mit der Zange zog er die Drahtstifte aus dem Rahmen, hob den Pappdeckel heraus und dann ein weiteres Stück Pappe, das darunter lag.

Auf der Rückseite der Karte waren braune Flecken, aber kein Riss und keine Löcher, die das Überkleben gerechtfertigt hätten. Schwach zeichnete sich ein brauner Schriftzug ab: Wyndham, MUS-2161 – wohl eine Art früher NN.

Er zupfte am Rand der Karte und hob sie von dem Glas hoch, drehte sie um und hielt sie über seinen Kopf gegen das weiße Deckenlicht.

Hinter jeder aufgeklebten Stelle tauchten Inseln auf: hier eine große, »Madagaskar«, dort eine Gruppe von kleinen, »Azoren«. Das blaue Rechteck über dem Golf der Beständigkeit verdeckte vier kleine, die »Andamanen«. Er konnte sich nicht erinnern, eine dieser überdeckten Inseln auf den Landkarten im MEF gesehen zu haben.

Er steckte die Karte wieder in den Rahmen zurück, mit der Vorderseite nach oben, stützte die Hände auf den Tisch und betrachtete die Karte. Er lächelte über ihre wunderliche Altertümlichkeit und die acht fast unsichtbaren Rechtecke. Lilac!, dachte er, warte, bis du das hörst!

Er legte die Karte mit dem Rahmen zurück, und stellte die Taschenlampe darunter, um die vier kleinen »Andamanen« und die Küstenlinie des »Golf von Bengalen« auf ein Blatt Papier durchzupausen. Dann notierte er sich die Namen und die Lage der anderen Inseln und den Maßstab der Karte, der in »Meilen« anstatt in Kilometern angegeben war.

Zwei mittelgroße Inseln, die »Falklandinseln«, lagen vor der Küste von Arg (»Argentinien«), gegenüber von »Santa Cruz«, das anscheinend mit ARG 20 400 identisch war. Er fühlte sich dadurch an irgendetwas erinnert, kam aber nicht dahinter, was es war.

Er maß die Andamanen ab: Die drei, die am dichtesten zusammenlagen, waren insgesamt über einhundertundzwanzig »Meilen« lang – rund zweihundert Kilometer, wenn er sich richtig erinnerte. Platz genug für mehrere Städte! Von der anderen Seite des Golfs der Beständigkeit, von SEA 77 122, wären sie am schnellsten zu erreichen, wenn er und Lilac (und King? Snowflake? Sparrow?) es wollten. Wenn sie wollten? Natürlich würden sie dorthin gehen, jetzt, nachdem er die Inseln gefunden hatte. Irgendwie würde es ihnen schon gelingen! Es musste gelingen! Er drehte die Karte in dem Rahmen wieder nach vorne um, legte die Pappdeckel darauf und schlug die Drahtstifte mit einem Griff der Zange wieder in die Löcher und überlegte, warum ARG 20 400 und die »Falklandinseln« ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen. Er schob die Unterlage des Rahmens wieder unter den Aufhänger – Sonntagnacht würde er einen Klebestreifen mitbringen und es besser machen – und trug die Landkarte zurück in den dritten Stock. Er hängte sie an ihren Haken und vergewisserte sich, dass die lose Unterlage an der Seite nicht hervorschaute.

ARG 20 400 ... Kürzlich war im Fernsehen gezeigt worden, wie unter der Stadt eine neue Zinkmine erschlossen wurde. Schien sie ihm deshalb bemerkenswert? Dort gewesen war er bestimmt noch nie ...

Er ging ins Erdgeschoss und holte die Tabakblätter hinter dem Warmwasserbehälter hervor. Er trug sie in den Lagerraum, nahm seine Rauchsachen aus dem Karton, in denen er sie aufbewahrte, setzte sich an den Tisch und begann die Blätter zu schneiden.

Könnte es noch einen anderen Grund geben, warum die Inseln verdeckt und nicht in die Landkarte eingetragen wurden? Und wer war dafür verantwortlich?

Genug. Er hatte das Denken satt und ließ seinen Geist schweifen – zu der glänzenden Schneide des Messers, zu Hush und Sparrow, wie sie Tabak schnitten, als, er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte Hush gefragt, woher die Samen kämen, und sie hatte gesagt, von King.

Und da fiel ihm ein, wo er ARG 20 400 gesehen hatte – die NN, nicht die Stadt selbst.

Eine schreiende Frau in zerrissenem Overall wurde von zwei Mitgliedern in Rot-Kreuz-Overalls in das Haupt-Medizentrum geführt. Sie hielten sie, auf jeder Seite einer, an den Armen und schienen auf sie einzureden, aber sie schrie immer weiter in kurzen, schrillen Schreien – einer genau wie der andere –, die von den Mauern des Gebäudes widerhallten und sich draußen in der Nacht fortpflanzten. Die Frau schrie immer weiter, und die Mauern und die Nacht schrien mit ihr.

Er wartete, bis die Frau und die Mitglieder, die sie führten, in dem Gebäude verschwunden waren und die Schreie immer leiser wurden und schließlich verstummten, dann überquerte er langsam den Gehweg und ging hinein. Er taumelte, als hätte er Gleichgewichtsstörungen, auf den Raster am Eingang zu, ließ sein Armband unterhalb der Tafel auf Metall klirren und ging langsam und normal zu einer nach oben führenden Rolltreppe. Er betrat sie und glitt aufwärts, die Hand auf dem Geländer. Irgendwo in dem Gebäude schrie immer noch die Frau, aber dann hörte sie auf.

Der zweite Stock war beleuchtet. Ein Mitglied, das mit einem Tablett voll Gläsern im Flur an ihm vorbeiging, nickte Chip zu. Er nickte zurück.

Der dritte und der vierte Stock waren ebenfalls beleuchtet, aber die Rolltreppe zum fünften war außer Betrieb, und droben war es dunkel. Er stieg die Stufen zum fünften und sechsten Stock hinauf.

Er schritt im Schein der Taschenlampe den Flur im sechsten Stock entlang – aber jetzt schnell, nicht langsam – an den Türen vorbei, durch die er mit den zwei Ärzten gegangen war; der Frau, die ihn »junger Bruder« genannt hatte, und dem Mann mit der Narbe auf der Backe, der ihn beobachtet hatte. Er ging auf das Ende des Korridors zu und richtete den Lichtkegel auf die Tür mit der Aufschrift 600A und Leiter der Chemotherapeutischen Abteilung.

Er ging durch den Vorraum und betrat Kings Büro. Der große Schreibtisch war nun besser aufgeräumt: das abgenutzte Telecomp, ein Stoß Broschüren, ein Bleistiftbehälter – und die zwei Briefbeschwerer, der ungewöhnliche viereckige und der normale runde. Er hob den runden hoch – ARG 20 400 stand darauf – und wog den kühlen, metallüberzogenen Gegenstand einen Augenblick in der Hand. Dann stellte er ihn wieder neben das Foto des jungen, lächelnden King vor Unis Dom.

Er ging um den Schreibtisch herum, öffnete die mittlere Schublade und durchsuchte sie, bis er eine in einer Plastikhülle steckende Personalliste der Abteilung fand. Er las die halbe Spalte voller Jesuse durch und stieß dann auf Jesus HL09E6290. Seine Klassifizierung war 080 A, und er wohnte in G 35, Zimmer 1744.

Vor der Tür blieb er eine kleine Weile stehen, denn plötzlich fiel ihm ein, dass Lilac auch dort sein könnte. Womöglich lag sie neben King und schlief unter seinem ausgestreckten, besitzergreifenden Arm. Gut!, dachte er. Soll sie es aus erster Hand erfahren! Er öffnete die Tür, trat ein und schloss sie leise hinter sich. Er richtete seine Taschenlampe auf das Bett und knipste sie an.

King war allein. Sein grauer Kopf lag in seinen verschränkten Armen verbergen.

Chip war froh und enttäuscht; aber doch mehr froh. Er würde es Lilac später sagen, triumphierend zu ihr kommen und von all seinen Entdeckungen berichten.

Er machte das Licht an, schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie in die Tasche. »King«, sagte er.

Der Kopf und die Arme in den Schlafanzugärmeln rührten sich nicht. »King«, sagte er, trat vor und stellte sich neben das Bett. »Wach auf, Jesus HL«, sagte er.

King wälzte sich auf den Rücken und legte eine Hand über seine Augen. Er spreizte die Finger, und ein Auge blinzelte dazwischen hindurch.

»Ich möchte mit dir sprechen«, sagte Chip.

»Was machst du hier?«, fragte King. »Wie spät ist es?«

Chip warf einen Blick auf die Uhr. »Vier Uhr fünfzig«, sagte er.

King setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Was, zum Hass, geht hier vor?«, fragte er. »Was machst du hier?«

Chip zog den Schreibtischstuhl neben das Fußende des Bettes und setzte sich. Der Raum war in Unordnung, aus dem Müllschlucker ragten stecken gebliebene Overalls hervor, und auf dem Fußboden waren Teeflecke.

King hustete in seine Faust, hustete noch einmal. Ohne die Faust vom Mund zu nehmen, sah er Chip aus roten Augen an; seine Haare klebten strähnig an seiner Kopfhaut.

Chip sagte: »Ich will wissen, wie es auf den Falklandinseln ist.«

King ließ die Hand sinken. »Auf welchen Inseln?«, sagte er.

»Falkland«, sagte Chip. »Wo du die Tabaksamen her hast und das Parfüm für Lilac.«

»Das Parfüm habe ich selbst gemacht«, sagte King.

»Die Tabaksamen etwa auch?«

King sagte: »Die hat mir jemand geschenkt.«

»In ARG 20 400?«

Nach einem Augenblick nickte King.

»Woher hatte er sie?«

»Weiß ich nicht.«

»Du hast nicht gefragt?« – »Nein«, sagte King, »habe ich nicht. Warum gehst du nicht dahin zurück, wo du sein solltest? Wir können morgen Nacht darüber sprechen.«

»Ich bleibe«, sagte Chip. »Ich bleibe hier, bis ich die Wahrheit höre. Ich bin um 8.05 Uhr zu einer Behandlung bestellt. Wenn ich nicht rechtzeitig komme, ist es mit allen zu Ende – mit mir und dir und der Gruppe. Dann ist es aus mit dem Königsein.«

»Raus mit dir, du Bruderfeind«, sagte King.

»Ich bleibe«, sagte Chip.

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Dann kann ich es auch nicht ändern«, sagte King, legte sich nieder und drehte sich auf den Bauch.

Chip blieb sitzen und sah auf King und wartete.

Nach einigen Minuten drehte King sich wieder um und richtete sich auf. Er schleuderte das Deckbett zur Seite, setzte sich auf die Bettkante und kratzte sich mit beiden Händen an den Schenkeln.

»Feuerland«, sagte er, »nicht ›Falkland‹. Sie kommen an Land, um Handel zu treiben. In Stoff und Leder gehüllte Kreaturen mit haarigem Gesicht.« Er sah Chip an. »Kranke, abstoßende Wilde«, sagte er, »deren Sprache kaum zu verstehen ist.«

»Sie existieren, sie haben überlebt.«

»Das ist aber auch alles. Ihre Hände sind von der Arbeit hart und rau wie Holz geworden. Sie bestehlen einander und leiden Hunger.«

»Aber sie sind nicht zur Familie zurückgekommen.«

»Sie wären besser dran, wenn sie es getan hätten«, sagte King. »Sie glauben immer noch an Religion und trinken Alkohol.«

»Wie lange leben sie?«, fragte Chip.

King sagte nichts.

»Länger als zweiundsechzig Jahre?«, fragte Chip.

Kings Augen wurden schmal und kalt. »Was ist denn so herrlich am Leben«, sagte er, »dass man es unendlich verlängern muss? Was ist am Leben hier oder am Leben dort so atemberaubend schön, dass man es mit zweiundsechzig nicht ohne große Kämpfe aufgeben kann? Ja, sie werden älter als zweiundsechzig! Einer hat behauptet, achtzig zu sein, und so, wie er aussah, habe ich es ihm geglaubt. Aber sie sterben auch jünger, mit dreißig, sogar schon mit zwanzig – daran sind die viele Arbeit und der Schmutz schuld und ihr ›Geld‹, das sie verteidigen müssen.«

»Das ist nur eine Inselgruppe«, sagte Chip. »Es gibt noch sieben andere.«

»Sie werden alle gleich sein«, sagte King. »Sie werden alle gleich sein.«

»Woher weißt du das?«

»Wie könnten sie anders sein?«, fragte King. »Christus, und Wei, wenn ich ein halbwegs menschliches Leben auf diesen Inseln für möglich halten würde, dann hätte ich etwas gesagt!«

»Du hättest auf jeden Fall etwas sagen sollen«, sagte Chip. »Direkt hier im Golf der Beständigkeit sind Inseln. Leopard und Hush hätten sie vielleicht erreicht und könnten noch am Leben sein.«

»Sie wären tot.«

»Dann hättest du ihnen überlassen sollen, wo sie sterben wollen«, sagte Chip. »Du bist nicht Uni.«

Er stand auf und stellte den Stuhl an den Schreibtisch zurück. Er schaute auf den Bildschirm des Telefons, griff zum Schreibtisch hinüber und zog die Berater-NN-Karte unter dem Rand hervor: Anna SG38P2823.

»Soll das heißen, dass du ihre NN nicht kennst?«, sagte King. »Wie macht ihr’s denn? Trefft ihr euch im Dunkeln? Oder bist du noch nicht bis zu ihren Gliedmaßen vorgedrungen?«

Chip steckte die Karte in seine Tasche. »Wir treffen uns überhaupt nicht!«, sagte er.

»Ach, komm«, sagte King, »ich weiß doch, was gespielt wird. Haltet ihr mich vielleicht für einen toten Mann?«

»Nichts wird gespielt«, sagte Chip. »Sie ist einmal ins Museum gekommen, und ich habe ihr die Listen der Français-Wörter gegeben, das war alles.«

»Kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte King. »Mach, dass du rauskommst, ja? Ich brauche meinen Schlaf!« Er legte sich auf das Bett zurück, schob seine Beine unter die Decke und zog die Decke über die Brust hoch.

»Es ist nichts passiert«, sagte Chip. »Sie glaubt, sie verdanke dir zu viel.«

Mit geschlossenen Augen sagte King: »Aber das werden wir ihr bald austreiben, nicht wahr?«

Chip schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Du hättest uns davon erzählen müssen. Von Falkland.«

»Feuerland!«, sagte King, und dann sagte er nichts mehr. Er lag mit geschlossenen Augen da; seine Brust hob und senkte sich rasch unter der Bettdecke. Chip ging zur Tür und schaltete das Licht aus. »Wir sehen uns morgen Nacht«, sagte er.

»Ich hoffe, ihr kommt hin«, sagte King. »Nach Feuerland! Alle beide! Ihr habt es verdient!«

Chip öffnete die Tür und ging.

Kings Bitterkeit bedrückte ihn, aber nachdem er etwa eine Viertelstunde gegangen war, fühlte er sich allmählich wieder beschwingt und optimistisch und war stolz auf die Ergebnisse dieser Nacht.

In seiner rechten Tasche knisterten eine Landkarte des Golfs der Beständigkeit und der Andamanen mit den Namen und Standorten der anderen Inseln der Unheilbaren und Lilacs rot gedruckte NN-Karte. Christus, Marx, Wood und Wei, wozu würde er ganz ohne Behandlungen imstande sein?

Er zog die Karte heraus und las sie im Gehen. Anna SG38P2823. Er würde sie nach dem ersten Gong anrufen und ein Treffen während der abendlichen Freistunde mit ihr vereinbaren. Anna SG. Nein, sie war keine »Anna« – sie war Lilac, duftend, zart und schön wie Flieder. (Wer hatte den Namen ausgewählt? Sie oder King? Unglaublich! Der Hasser dachte, sie hätten sich getroffen und miteinander geschlafen. Wenn es wenigstens stimmte!) Achtunddreißig P, achtundzwanzig, dreiundzwanzig. Er ging eine Weile im Rhythmus der Zahlen, dann merkte er, dass er zu rasch ausschritt, und wurde langsamer. Die Karte steckte er in die Tasche.

Er würde vor dem ersten Gong wieder in seinem Gebäude sein, duschen, sich umziehen, Lilac anrufen, essen (er starb fast vor Hunger), dann um 8.05 Uhr zu seiner Behandlung und um 8.15 Uhr zur Zahnärztin gehen. (»Heute geht es mir viel besser, Schwester. Das Ziehen ist beinahe ganz verschwunden.«) Die Behandlung würde ihn betäuben – Kampf der Behandlung! –, aber nicht so sehr, dass er nicht Lilac von den Andamanen erzählen und Pläne schmieden könnte, wie er mit ihr – und Snowflake und Sparrow, wenn ihnen daran gelegen war – versuchen würde, dorthin zu gelangen. Snowflake würde wahrscheinlich lieber hierbleiben. Er hoffte es, denn dadurch würde alles sehr viel einfacher. Ja, Snowflake würde bei King bleiben, lachen und rauchen und mit ihm schlafen und sich mit diesem mechanischen Ballspiel amüsieren. Und er und Lilac würden gehen.

Anna SG, achtunddreißig P, achtundzwanzig dreiundzwanzig ...

Er erreichte das Gebäude um 6.22 Uhr. Zwei Frühaufsteherinnen, eine nackt, eine angezogen, kamen den Flur entlang. Er lächelte und sagte: »Guten Morgen, Schwestern.«

Er ging in sein Zimmer und schaltete das Licht ein, und auf seinem Bett lag Bob, der sich nun hastig aufrichtete und blinzelte. Sein Telecomp lag offen, mit blinkenden blauen und gelben Lichtern, auf dem Boden.