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Anfang September 172 verließen sieben Männer und Frauen in Begleitung einer »Schäferin« namens Anna die Andamanen im Golf der Beständigkeit, um Uni zu überfallen und zu zerstören. Die Fortschritte, die sie machten, wurden bei jeder Mahlzeit im Speiseraum der Programmierer bekannt gegeben. Zwei Mitglieder der Gruppe »scheiterten« am Flughafen in SEA 77 120 (Kopfschütteln und Seufzer der Enttäuschung), und zwei weitere tags darauf in einer Wagenstation in EUR 46 209 (Kopfschütteln und Seufzer der Enttäuschung). Am Abend des zehnten September kamen die anderen drei – ein junger Mann und eine junge Frau und ein älterer Mann – im Gänsemarsch in die Haupthalle.

Sie hatten die Hände auf dem Kopf und sahen ärgerlich und ängstlich aus. Hinter ihnen steckte eine stämmige Frau grinsend ihre Pistole in die Tasche.

Die drei rissen blöde die Augen auf, und die Programmierer, unter ihnen Chip und Deirdre, erhoben sich lachend und applaudierten. Chip lachte laut und klatschte kräftig in die Hände. Alle Programmierer lachten laut und klatschten kräftig, als die Neuankömmlinge die Hände sinken ließen und einander ansahen und sich zu ihrer lachenden, applaudierenden Schäferin umdrehten.

Wei, in goldgesäumtem Grün, trat lächelnd zu ihnen und schüttelte ihnen die Hand. Die Programmierer ermahnten einander, leise zu sein. Wei fasste an seinen Kragen und sagte: »Von hier aufwärts wenigstens. Von hier abwärts ...« Die Programmierer lachten und ermahnten einander wieder zur Ruhe. Sie kamen näher, um zuzuhören und zu gratulieren.

Nach ein paar Minuten schlüpfte die stämmige Frau aus dem Gewühl und verließ die Halle. Sie bog nach rechts und ging auf eine schmale, nach oben führende Rolltreppe zu. Chip folgte ihr.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er.

»Danke«, sagte die Frau, die sich müde lächelnd nach ihm umsah. Sie war etwa vierzig, hatte Schmutz im Gesicht und Ringe unter den Augen. »Wann bist du angekommen?«, fragte sie.

»Vor ungefähr acht Monaten«, sagte Chip.

»Mit wem?« Die Frau betrat die Rolltreppe.

Chip trat hinter ihr auf die Stufen. »Dover«, sagte er.

»Oh«, sagte sie. »Ist er noch hier?«

»Nein«, sagte Chip. »Er ist letzten Monat wieder ausgeschickt worden. Deine Leute sind nicht mit leeren Händen gekommen, was?«

»Mir wäre es anders lieber gewesen«, sagte die Frau. »Meine Schulter tut höllisch weh. Ich habe die Tornister beim Aufzug gelassen. Jetzt gehe ich zurück, um sie zu holen.« Sie trat von der Rolltreppe und ging auf der Rückseite um sie herum.

Chip ging mit ihr. »Ich helfe dir dabei«, sagte er.

»Nicht nötig, ich werde einen von den Jungen mitnehmen«, sagte die Frau und bog nach rechts ab.

»Nein, es macht mir nichts aus«, sagte Chip.

Sie gingen den Korridor entlang, an der Glaswand des Schwimmbeckens vorbei. Die Frau sah hinein und sagte: »Da drin werde ich in einer Viertelstunde sein.«

»Ich schließe mich an«, sagte Chip.

Die Frau warf ihm einen Blick zu. »In Ordnung«, sagte sie.

Boroviev und ein Mitglied kamen ihnen im Flur entgegen. »Anna! Grüß dich!«, sagte Boroviev, und die Augen in seinem verwitterten Gesicht funkelten. Das Mitglied, ein Mädchen, lächelte Chip zu.

»Grüß dich!«, sagte die Frau und schüttelte Boroviev die Hand. »Wie geht’s dir?«

»Gut!«, sagte Boroviev. »Oh, du siehst erschöpft aus!«

»Bin ich auch.«

»Aber es ist alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte die Frau. »Sie sind unten. Ich will gerade die Tornister beseitigen.«

»Gönn dir ein wenig Ruhe«, sagte Boroviev.

»Darauf kannst du dich verlassen«, sagte die Frau lächelnd. »Sechs Monate lang.«

Boroviev lächelte Chip zu, nahm das Mitglied bei der Hand und ging an ihnen vorbei den Flur hinunter. Die Frau und Chip gingen geradeaus auf die Stahltür am Ende des Flurs zu. Sie kamen an dem Bogengang zum Garten vorbei, wo jemand sang und Gitarre spielte.

»Was für Bomben hatten sie?«, fragte Chip.

»Primitive Plastikdinger«, sagte die Frau. »Werfen und – bumm! Ich bin froh, wenn sie im Abfalleimer liegen.«

Die Stahltür glitt auf, sie gingen hindurch und bogen nach rechts ab. Ein weiß gekachelter Flur mit rasterbewachten Türen auf der linken Seite lag vor ihnen.

»In welchem Ausschuss bist du?«, fragte die Frau.

»Warte eine Sekunde«, sagte Chip, blieb stehen und ergriff ihren Arm. Sie blieb stehen und drehte sich um, und er versetzte ihr einen Schlag in den Magen, drückte ihr die Hand aufs Gesicht und schmetterte ihren Hinterkopf mit voller Wucht gegen die Wand. Er riss ihren Kopf wieder nach vorne, schmetterte ihn noch einmal gegen die Wand und ließ die Frau los. Sie sank schwerfällig zu Boden – eine Kachel war zersprungen – fiel auf die Seite und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Ein Knie hatte sie angezogen.

Chip ging auf die nächste Tür zu und öffnete sie. Sie führte in ein Badezimmer mit zwei Toiletten. Die Tür mit einem Fuß aufhaltend, bückte er sich und packte die Frau unter den Armen. Ein Mitglied, ein Junge von etwa zwanzig Jahren, kam in den Korridor und starrte ihn an.

»Hilf mir«, sagte Chip. Der Junge kam herüber. Er war ganz blass im Gesicht. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Nimm ihre Beine«, sagte Chip. »Sie ist ohnmächtig geworden.«

Sie trugen die Frau in das Badezimmer und legten sie auf den Boden. »Sollten wir sie nicht sofort ins Medizentrum bringen?«, fragte der Junge.

»In einer Minute«, sagte Chip. Er kniete neben der Frau nieder, griff in die Tasche ihres gelben Paplon-Overalls und zog ihre Pistole heraus. Er richtete sie auf den Jungen. »Dreh dich um zur Wand«, sagte er. »Gib keinen Ton von dir.«

Der Junge starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, drehte sich um und stand mit dem Gesicht zur Wand zwischen den Toiletten.

Chip stand auf, nahm die Pistole in beide Hände und stellte sich mit gespreizten Beinen über die Frau. Er umklammerte den Lauf der Pistole und ließ den Kolben mit voller Wucht auf den kurz geschorenen Kopf des Jungen niedersausen. Der Schlag zwang den Jungen in die Knie. Er fiel nach vorne zur Wand und dann zur Seite, bis er mit dem Kopf am Abflussrohr hängen blieb. In seinem kurzen, schwarzen Haar glänzte es rot.

Chip sah auf die Pistole. Er drehte sie um, sodass er sie schussbereit in der Hand hielt, entsicherte sie mit dem Daumen und richtete sie auf die hintere Wand des Badezimmers. Ein roter Strahl zischte durch die Luft, zerschmetterte eine Kachel und bohrte Schutt aus der Wand. Chip steckte die Pistole in die Tasche, ohne sie loszulassen, stieg über die Frau hinweg und ging zur Tür.

Er trat auf den Flur hinaus, zog die Tür ganz zu und machte sich auf den Weg. Die Pistole in seiner Tasche hielt er immer noch in der Hand. Er kam zum Ende des Flurs und bog nach links ab.

Ein Mitglied, das ihm entgegenkam, lächelte und sagte: »Grüß dich, Vater.«

Chip nickte im Vorübergehen. »Sohn«, sagte er.

Rechts vor ihm war eine Tür in der Wand. Er öffnete sie, ging hinein und stand in einem dunklen Gang.

Er zog die Pistole.

Auf der gegenüberliegenden Seite, fast im Dunkeln, sah er die rosaroten, braunen und orangeroten Gedächtnisspeicher für die Besucher, das goldene Kreuz und die goldene Sichel, die Uhr an der Wand – 9.33 Do 10. Sep. 172 J. V.

Er ging nach links, an den anderen Ausstellungsstücken vorbei, die unbeleuchtet vor sich hin dämmerten und im Licht einer offenen Tür zur Eingangshalle immer deutlicher zu erkennen waren.

Er ging auf die offene Tür zu.

Mitten in der Halle lagen drei Tornister, eine Pistole und zwei Messer auf dem Boden. Ein weiterer Tornister lag neben den Aufzugstüren.

Wei lehnte sich lächelnd zurück und zog an seiner Zigarette. »Glaubt mir«, sagte er, »in diesem Stadium empfindet jeder so. Aber selbst unsere hartnäckigsten Kritiker sehen schließlich ein, dass wir klug und richtig handeln.« Er blickte auf die Programmierer, die um die Stühle standen. »Ist es nicht so, Chip?«, sagte er. »Erzähle es ihnen.« Er sah lächelnd in die Runde.

»Chip ist hinausgegangen«, sagte Deirdre, und jemand sagte: »Auf Annas Spuren.« Ein anderer Programmierer sagte: »Schlimm, schlimm, Deirdre«, und Deirdre drehte sich um und sagte: »Mit Anna hat das gar nichts zu tun. Er ist nur mal rausgegangen und kommt gleich wieder.« »Ein bisschen geschwächt natürlich«, sagte jemand.

Wei schaute auf seine Zigarette und beugte sich vor und drückte sie aus. »Jeder hier wird bestätigen, was ich sage«, sagte er zu den Neuankömmlingen und lächelte. »Ihr entschuldigt mich, ja?«, sagte er. »Ich bin in einer kleinen Weile wieder da. Bleibt sitzen.« Er stand auf, und die Programmierer traten zur Seite und machten ihm Platz.

Ein Holzbrettchen teilte das Innere des Tornisters in zwei Hälften: Die eine war mit Stroh gefüllt, die andere mit Draht, Werkzeug, Papier, Kuchen und allem Möglichen. Chip streifte das Stroh zur Seite und stieß auf weitere Brettchen, die rechteckige, strohgefüllte Fächer bildeten. Er steckte die Finger in eines der Fächer und stieß nur auf Stroh und Luft. In einem anderen jedoch lag etwas Festes mit glatter Oberfläche. Er entfernte das Stroh und zog eine schwere, weißliche Kugel hervor, eine Handvoll lehmartiger Masse, an der Stroh klebte. Er legte sie auf den Boden und holte noch zwei andere heraus – ein weiteres Fach war leer – und eine vierte. Er riss den Holzrahmen aus dem Tornister, stellte ihn zur Seite und kippte Stroh, Werkzeuge und alles andere aus dem Tornister, machte die zwei anderen Tornister auf, nahm die Bomben heraus – aus einem Tornister fünf, aus dem anderen sechs – und legte sie zu den vieren. Für drei war noch Platz.

Er stand auf, um den vierten Tornister vom Aufzug zu holen. Ein Geräusch im Gang riss ihn herum – er hatte die Pistole bei den Bomben gelassen – aber der Gang war leer und dunkel, und das Geräusch (Geraschel von Seide?), wenn es überhaupt eines gegeben hatte, war nicht mehr zu vernehmen. Vielleicht hatte er nur sein eigenes Echo gehört. Ohne den Eingang aus den Augen zu lassen, ging er rückwärts auf den Tornister zu, ergriff ihn beim Riemen und trug ihn schnell zu den anderen Tornistern, ging wieder in die Knie und legte die Pistole dicht neben sich. Er öffnete den Tornister, warf Stroh zur Seite und nahm die Bomben heraus, die er zu den anderen legte. Drei Sechserreihen. Er deckte sie zu und schloss den Tornister sorgfältig. Dann schob er seinen Arm unter den Riemen und streifte ihn über die Schulter. Vorsichtig hob er den Tornister so weit hoch, dass er an seiner Hüfte lag. Die Bomben darin rutschten mit ihrem ganzen Gewicht hin und her.

Die Pistole neben dem Tornister war ebenfalls ein L-Strahlen-Modell, sah aber weniger alt aus als seine eigene. An der Stelle des Generators lag ein Stein. Er legte die Pistole weg, nahm eines der Messer – aus der Zeit vor der Vereinigung, mit schwarzem Griff und abgewetzter, aber scharfer Klinge – und steckte es in seine rechte Tasche. Er nahm die funktionierende Pistole und legte die andere Hand stützend unter den Tornister, erhob sich von den Knien, stieg über leere Tornister und ging leise auf die Tür zu.

Draußen war es still und dunkel. Er wartete, bis er besser sehen konnte, dann ging er nach links. Ein riesiges Telecomp hing an der Wand der Ausstellungshalle (bei seinem ersten Besuch hier war es zerbrochen gewesen, oder nicht?), er ging daran vorbei und blieb stehen. An der Wand vor ihm lag eine regungslose Gestalt.

Aber nein, es war eine Tragbahre, zwei Tragbahren, mit Kissen und Decken, den Decken, die Papa Jan und er um sich gewickelt hatten. Unter Umständen genau dieselben zwei. In Erinnerungen versunken, blieb er einen Augenblick stehen.

Dann ging er weiter. Auf die Tür zu. Die Tür, durch die Papa Jan ihn geschoben hatte. Daneben stand der Raster, der erste, den er passiert hatte, ohne ihn zu berühren. Wie er sich damals gefürchtet hatte!

Diesmal brauchst du mich nicht anzutreiben, Papa Jan, dachte er.

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, sah hinein auf den hell erleuchteten, leeren Treppenabsatz und trat ein.

Er stieg die Stufen hinab, der Kälte entgegen. Er beeilte sich, denn der Junge und die Frau kamen vielleicht bald wieder zu sich und schlugen oben Alarm.

Er schritt durch die Tür zum ersten Geschoss der Gedächtnisspeicher. Und durch die zum zweiten.

Und kam zum Ende der Treppe, zur Tür im untersten Geschoss.

Er lehnte seine rechte Schulter dagegen, hielt die Pistole bereit und drehte mit der linken Hand den Türknauf.

Er schob die Tür langsam auf. Rote Lichter funkelten im Dämmerlicht – eine der Wände mit den Sende- und Empfangsgeräten. Die niedrige Decke leuchtete schwach. Er machte die Tür weiter auf. Ein Gefriermaschinen-Schacht, von einem Geländer umgeben, lag vor ihm. Blaue Masten ragten daraus empor. Dahinter ein Pfeiler, ein Schacht, ein Pfeiler, ein Schacht. Die Reaktoren standen am anderen Ende des Raums, rote Kuppeln spiegelten sich im Glas des schwach erleuchteten Programmierraums. Keine Mitglieder in Sicht, geschlossene Türen, Stille – von einem leisen, gleichmäßigen, klagenden Ton abgesehen. Er machte die Tür weiter auf, trat in den Raum und sah die roten Lichter an der zweiten Gerätewand blitzen.

Er schritt tiefer in den Raum hinein, griff nach dem Türrand und ließ ihn hinter sich zugleiten. Er senkte die Pistole, löste mit dem Daumen den Riemen über seiner Schulter und ließ den Tornister sanft auf den Fußboden gleiten. Seine Kehle wurde umklammert, sein Kopf nach hinten gerissen. Ein Ellbogen in grauer Seide tauchte unter seinem Kinn auf, ein Arm drückte ihm den Hals zu und erstickte ihn beinahe. Das Gelenk seiner rechten Hand, in der er die Pistole hielt, wurde von einem schmerzhaften Griff umschlossen, und Wei flüsterte ihm ins Ohr: »Du Lügner, du gemeiner Lügner, wie ich mich freue, dich umzubringen.«

Chip zog an dem Arm, schlug mit seiner freien linken Hand darauf ein, aber er traf auf den seidenumhüllten Marmorarm einer Statue. Er versuchte, mit dem Fuß nach hinten auszuschlagen, um Wei abzuschütteln, aber Wei wich zurück, hielt ihn fest, gekrümmt und hilflos, schleifte ihn unter der kreisenden, leuchtenden Decke durch den Raum und schmetterte seine Hand immer wieder und wieder und wieder gegen das harte Geländer, und die Pistole fiel polternd in den Schacht und war weg. Chip fasste nach hinten und ergriff Weis Kopf, fand sein Ohr und verrenkte es. Die harten Armmuskeln drückten seinen Hals noch fester zusammen, und die Decke flimmerte rosarot. Chip steckte seine Hand in Weis Kragen, quetschte seine Finger unter einen Streifen Stoff. Er zwängte seine Hand hinein und drückte die Knöchel, so fest er konnte, in sehniges, wulstiges Fleisch. Seine rechte Hand wurde losgelassen, seine linke gepackt und umgedreht. Mit seiner Rechten ergriff er das Handgelenk an seinem Hals und drückte den Arm zur Seite. Er rang nach Atem und fühlte die Luft tief in seine Kehle strömen.

Er wurde zur Seite geschleudert, fiel gegen rot beleuchtete Geräte. Das zerrissene Band war um seine Hand geschlungen. Er packte zwei Griffe und riss eine Schalttafel heraus, drehte sich um und warf sie nach Wei, der auf ihn zukam. Wei stieß die Tafel mit einem Arm zur Seite und kam näher auf Chip zu, beide Hände zum Schlag erhoben. Chip kauerte sich nieder und hielt den linken Arm hoch. (»Schön abducken, Grünauge«, schrie Hauptmann Gold.) Schläge trafen seinen Arm. Er drosch auf Weis Herz ein. Wei wich zurück und trat mit den Füßen nach ihm. Chip löste sich von der Wand, taumelte vorwärts, steckte seine starre Hand in die Tasche und fand den Messergriff. Wei stürzte auf Chip zu und bearbeitete seinen Hals und seine Schultern mit Schlägen. Chip, der seinen linken Arm immer noch hochhielt, schlitzte seine Tasche mit dem Messer auf und rammte es Wei in den Leib – erst ein Stück, dann tiefer, kräftig, ganz hinein, bis das Heft in Seide steckte. Immer weiter prasselten Hiebe auf ihn nieder. Er zog das Messer heraus und wich zurück. Wei blieb, wo er war. Er schaute Chip an, sah das Messer in seiner Hand, sah an sich hinunter. Er fasste sich an den Bauch und sah auf seine Finger, blickte wieder auf Chip. Der beobachtete ihn taumelnd, ohne das Messer loszulassen.

Wei machte einen Ausfall. Chip stach zu und schlitzte Weis Ärmel auf, aber Wei ergriff seinen Arm mit beiden Händen, drängte ihn zu dem Geländer zurück und kniete sich auf ihn. Chip griff in den zerrissenen grün-goldenen Kragen und drückte Wei mit ganzer Kraft den Hals zu. Er warf Wei ab und löste sich von dem Geländer. Er hörte nicht auf, Wei zu würgen, aber Wei ließ die Hand nicht los, in der Chip sein Messer hielt. Er drängte Wei rückwärts um den Schacht herum. Wei schlug Chips Handgelenk nach unten. Chip befreite seinen Arm und stach mit dem Messer in Weis Seite. Wei torkelte und fiel über das Geländer und stürzte in den Schacht, flach mit dem Rücken auf ein zylindrisches Stahlgehäuse.

Er rutschte davon herunter und saß gegen den blauen Mast gelehnt und sah keuchend, mit offenem Mund, zu Chip hinauf. In seinem Schoß breitete sich ein schwarzroter Fleck aus.

Chip lief zu dem Tornister. Er hob ihn auf, nahm ihn unter den Arm und ging rasch an der Wand entlang zurück durch den Raum. Er steckte das Messer in seine Tasche – es fiel durch, aber er kümmerte sich nicht darum –, riss den Tornister auf, schlug die Klappe zurück und klemmte sie unter dem Tornister fest. Dann drehte er sich um, ging zum Ende der Gerätewand zurück, blieb stehen und hatte die Schächte und die Pfeiler vor sich.

Er rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von Mund und Stirn, sah Blut auf seiner Hand und wischte es an der Hüfte ab.

Er nahm eine der Bomben aus dem Tornister, hielt sie nach hinten zwischen seine Schultern, zielte und warf. Sie flog in einem Bogen in den Mittelschacht. Er legte die Hand auf eine andere Bombe. Ein Zack erklang aus dem Schacht, aber keine Explosion erfolgte. Er nahm die zweite Bombe und warf sie mit größerem Schwung in den Schacht.

Sie machte ein schwächeres und gedämpfteres Geräusch als die erste.

In dem umgitterten Schacht, aus dem blaue Maste ragten, rührte sich nichts.

Chip sah auf den Schacht und auf die weißen, strohverklebten Bomben, die in dem Tornister aufgereiht lagen.

Er nahm noch eine und schleuderte sie mit voller Kraft in den näher gelegenen Schacht.

Wieder ein Zack.

Er wartete und ging vorsichtig auf den Schacht zu, trat näher und sah die Bombe auf dem zylindrischen Stahlgehäuse – ein weißer Klumpen, wie eine Frauenbrust aus Lehm.

Ein hoher, keuchender Ton drang aus dem am weitesten entfernten Schacht. Wei! Er lachte!

Diese drei waren ihre Bomben, die der Schäferin, dachte Chip. Vielleicht hatte sie etwas mit ihnen gemacht. Er ging zur Mitte der Gerätewand und stellte sich direkt vor den Mittelschacht. Er schleuderte eine Bombe. Sie traf einen blauen Mast und blieb an ihm hängen, rund und weiß.

Wei lachte und keuchte. Chip hörte, wie er sich in seinem Schacht bewegte, an der Wand kratzte.

Chip warf noch mehr Bomben. Eine könnte losgehen, eine wird losgehen! (»Werfen und – bumm!«, hatte sie gesagt. »Ich bin froh, wenn sie im Abfalleimer liegen.« Sie hatte ihn bestimmt nicht belogen. Was war nur mit ihnen passiert, dass sie nicht explodierten?) Er warf Bomben auf die blauen Maste und die Pfeiler, pflasterte die eckigen Stahlpfeiler mit flachen, weißen, sich überschneidenden Scheiben. Er warf alle »Bomben«, die letzte quer durch den Raum. Sie klebte als großer, weißer Fleck an der gegenüberliegenden Gerätewand.

Nun hielt er den leeren Tornister in der Hand.

Wei lachte laut.

Er saß rittlings auf dem Geländer um den Schacht. Mit beiden Händen hielt er die Pistole auf Chip gerichtet. Schwarzrote Krusten bedeckten seine am Körper klebenden Overall-Beine; Rotes sickerte über seine Sandalenriemen. Er lachte immer noch. »Was glaubst du?«, fragte er. »Zu kalt? Zu nass? Zu trocken? Zu alt? Zu was?« Er ließ die Pistole mit einer Hand los, griff nach hinten und stieg über das Geländer. Als er das Bein hob, zuckte er zusammen und zog zischend die Luft ein. »Ooh, Jesus Christus«, sagte er, »du hast diesen Körper wirklich schlimm verletzt. Sss! Du hast ihn richtig ramponiert!« Als er auf den Beinen stand, hielt er die Pistole wieder mit beiden Händen und sah Chip ins Gesicht. Er lächelte. »Ein Vorschlag«, sagte er. »Du gibst mir deinen, ja? Du hast einen Körper verletzt, du gibst mir einen anderen dafür. Ist das fair? Und – sauber und wirtschaftlich! Jetzt müssen wir dir einen Kopfschuss geben, ganz vorsichtig, und dann werden die Ärzte eine Nacht lang alle Hände voll mit uns beiden zu tun haben.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich verspreche dir, dich ›in Form‹ zu halten, Chip«, sagte er und kam langsam und steif, die Ellbogen dicht am Körper, nach vorne. Die Pistole, die er vor seiner Brust umklammert hielt, zielte auf Chips Gesicht.

Chip wich zur Wand zurück.

»Ich werde meine Rede an die Neuankömmlinge ändern müssen«, sagte Wei. »›Von hier abwärts bin ich Chip, ein Programmierer, der mich mit seinem Gerede und seinem neuen Auge und seinem Lächeln in den Spiegel fast hereingelegt hätte.‹ Ich glaube aber nicht, dass es noch Neuankömmlinge geben wird. Das Risiko ist allmählich größer als das Vergnügen.«

Chip warf den Tornister nach Wei und machte einen Satz zur Seite, sprang Wei an und warf ihn rückwärts zu Boden. Wei schrie auf, und Chip, der auf ihm lag, rang um die Pistole in seiner Hand. Rote Strahlen schossen aus der Waffe. Chip drückte die Pistole mit Gewalt auf den Boden. Eine Explosion erschütterte den Raum. Er entriss Wei die Pistole und ließ ihn los, sprang auf die Füße und wich zurück und drehte sich um und schaute.

Auf der anderen Seite des Raums klaffte ein rauchendes Loch in der Mitte der Gerätewand, wo die Bombe geklebt hatte. Schutt rieselte aus dem Loch, Staub wirbelte durch die Luft, und schwarze Trümmer lagen in einem großen Bogen auf der Erde.

Chip sah auf die Pistole und auf Wei. Wei, der sich auf einen Ellbogen stützte, blickte durch den Raum zu Chip.

Chip ging nach hinten, auf die Ecke des Raums zu, und schaute auf die weiß gepflasterten Pfeiler und die mit Weiß überzogenen blauen Maste über dem Mittelschacht. Er hob die Pistole.

»Chip!«, schrie Wei. »Er gehört dir! Er wird eines Tages dir gehören! Wir können beide leben! Chip, hör mir zu«, sagte er, sich vorbeugend, »es macht Freude, Uni zu besitzen und zu lenken, der Einzige zu sein. Das ist die volle Wahrheit, Chip. Du wirst es selbst sehen. Es macht Freude, ihn zu besitzen.«

Chip schoss auf den am weitesten entfernten Pfeiler. Ein roter Strahl zischte über die weißen Scheiben hinweg, ein anderer traf direkt. Eine Explosion barst und dröhnte, donnerte und rauchte. Sie klang ab, und der Pfeiler war leicht zur anderen Seite des Raums geneigt.

Wei stöhnte kläglich. Eine Tür neben Chip begann sich zu öffnen. Er schob sie wieder zu und stellte sich davor. Er schoss auf die Bomben, die an den blauen Masten klebten. Eine Explosion krachte, Flammen schossen empor, und aus dem Schacht dröhnte eine noch lautere Explosion, drückte ihn gegen die Tür, ließ Glas zerspringen, schleuderte Wei gegen die schwankende Gerätewand und warf Türen zu, die sich auf der anderen Seite des Raums geöffnet hatten. Der Schacht war von Flammen erfüllt. Eine riesige, zitternde, orangegelbe Säule stand über dem Geländer und pochte gegen die Decke. Chip hob den Arm, um sich gegen die Hitze zu schützen.

Wei stützte sich auf alle viere und kam auf die Beine. Er schwankte und ging taumelnd vorwärts. Chip schoss einen roten Strahl auf Weis Brust ab und noch einen, und Wei drehte sich um und torkelte auf den Schacht zu. Flammen züngelten über seinen Overall, und er sank auf die Knie und fiel zu Boden. Seine Haare fingen Feuer, sein Overall brannte.

Schläge ließen die Tür erbeben, und Schreie ertönten hinter ihr. Die anderen Türen gingen auf, und Mitglieder kamen herein. »Bleibt zurück!«, rief Chip und richtete die Pistole auf den nächsten Pfeiler und feuerte. Eine Explosion erdröhnte, und der Pfeiler war verbogen.

Das Feuer im Schacht ebbte ab, und die verbogenen Pfeiler drehten sich knirschend.

Mitglieder kamen in den Raum. »Geht zurück!«, rief Chip, und sie zogen sich zu den Türen zurück. Er stellte sich in die Ecke und beobachtete die Pfeiler und die Decke. Die Tür neben ihm ging auf. »Bleibt draußen!«, rief er und stemmte sich dagegen.

Der Stahl der Pfeiler splitterte und rollte sich auf; ein Betonbrocken fiel aus dem Pfeiler, der am nächsten stand.

Die geschwärzte Decke krachte, quietschte, ächzte und bröckelte in großen Stücken ab.

Der Pfeiler brach durch, und die Decke stürzte ein. Gedächtnisspeicher donnerten in die Schächte, gigantische Stahlblöcke sausten krachend in die Tiefe, stürzten aufeinander und bohrten sich in die Gerätewand. In allen Schächten dröhnten Explosionen; sie hoben Blöcke hoch und betteten sie in Flammen.

Chip hob den Arm, um sich gegen die Hitze zu schützen. Er sah dahin, wo Wei gewesen war. Ein Block lag dort; sein Rand ragte aus dem zerborstenen Fußboden.

Aus der Schwärze zwischen den glühenden, zerfetzten Rändern der Decke ertönte immer noch Ächzen und Krachen. Und weitere Speicher stürzten herab, prallten auf die unten liegenden und zerschmetterten sie. Gedächtnisspeicher füllten mit Getöse die Öffnung.

Und in dem Raum wurde es kühler, trotz des Feuers.

Chip senkte seinen Arm und schaute – auf die dunklen Umrisse der feuerglänzenden Stahlblöcke, die durch die Decke gestürzt waren und sich übereinander türmten. Er schaute und schaute, und dann ging er um die Tür herum und bahnte sich seinen Weg durch die hereinstarrenden Mitglieder.

Er schritt mit der Pistole an der Seite zwischen Mitgliedern und Programmierern hindurch, die ihm in weiß gekachelten Korridoren entgegenliefen, vorbei an weiteren Programmierern, die durch Korridore mit Teppichen und Bildern an der Wand eilten. »Was ist los?«, rief Karl, blieb stehen und packte seinen Arm. Chip schaute ihn an und sagte: »Sieh selbst.« Karl ließ ihn los, warf einen Blick auf die Pistole und auf Chips Gesicht und drehte sich um und rannte.

Chip drehte sich um und ging weiter.