3

Mit jedem Tag fühlte er sich ein wenig wohler, wacher und lebendiger, und mit jedem Tag wuchs seine Überzeugung, dass er bisher krank gewesen war und nun der Genesung zustrebte. Am Freitag – drei Tage nach der Untersuchung – fühlte er sich wie sonst am Tag vor der Behandlung. Aber seine letzte Behandlung lag erst eine Woche zurück; mehr als drei lange Wochen voll Ungewissheit musste er bis zur nächsten noch überstehen. Sein Täuschungsmanöver war gelungen, Bob war darauf hereingefallen und die Behandlung herabgesetzt worden. Und die nächste würde aufgrund der Untersuchungsergebnisse noch weiter reduziert werden. Was für wunderbare, unbekannte Gefühle mochte er wohl in fünf oder sechs Wochen verspüren?

An diesem Freitag, wenige Minuten nach dem letzten abendlichen Gong, kam Snowflake in sein Zimmer. »Kümmere dich nicht um mich«, sagte sie, ihren Overall abstreifend. »Ich lege nur einen Zettel in dein Mundstück.«

Sie kroch zu ihm ins Bett und half ihm, seinen Pyjama auszuziehen. Ihr Körper unter seinen Händen und Lippen war weich und biegsam und erregender als jeder andere, und sein eigener Körper erbebte lustvoll und heftig wie nie zuvor, als sie ihn küsste und leckte. Fast quälende Begierde überkam ihn. Er glitt in sie hinein – tief in die warme, feuchte Enge – und hätte sie beide sofort zum Höhepunkt gebracht, aber sie hielt ihn zurück, stoppte ihn, entzog sich ihm und ließ ihn wieder in sich eindringen. Sie nahm eine merkwürdige, aber wirkungsvolle Position nach der anderen ein. Zwanzig Minuten oder noch länger waren sie am Werk, so lautlos wie möglich, damit die Mitglieder nebenan und im Stockwerk darunter nichts merkten.

Als sie fertig waren und nebeneinander lagen, sagte sie: »Na?«

»Es war natürlich ganz toll, aber ehrlich gesagt, nach allem, was du mir erzählt hast, habe ich noch mehr erwartet.«

»Geduld, Bruder«, sagte sie. »Noch bist du ein Krüppel. Eines Tages wirst du das heute als die ›Nacht, in der wir uns die Hand geschüttelt haben‹ betrachten.«

Er lachte.

»Pst!«

Er umarmte und küsste sie. »Was steht denn auf dem Zettel in meinem Mundstück?«, fragte er.

»Sonntagnacht um elf, an der gleichen Stelle wie beim letzten Mal.«

»Aber ohne Binde.«

»Ohne Binde.«

Er würde sie alle sehen, Lilac und die anderen. »Ich habe mir schon überlegt, wann wohl das nächste Treffen stattfindet«, sagte er.

»Ich habe gehört, du seist wie eine Rakete durch die zweite Phase gesaust.«

»Gestolpert, meinst du. Ich hätte es überhaupt nicht geschafft, wenn nicht ...« Wusste sie, wer King wirklich war? Durfte er davon sprechen?«

»Wenn nicht was?«

»Wenn nicht King und Lilac in der Nacht vorher gekommen wären, um mich zu präparieren.«

»Natürlich«, sagte sie, »keiner von uns hätte es ohne die Kapseln geschafft.«

»Ich frage mich, woher sie diese bunten Kapseln immer bekommen.«

»Ich glaube, einer von ihnen arbeitet in einem Medizentrum.«

»Mhm, das wäre eine Erklärung«, sagte er. Sie wusste es nicht. Oder sie wusste es, aber nicht, dass er es wusste. Plötzlich fand er es lästig, dass dieser Zwang zur Vorsicht zwischen ihnen stand.

Sie richtete sich auf. »Hör zu«, sagte sie, »es fällt mir schwer, das zu sagen, aber vergiss nicht, mit deiner Freundin weiterzumachen wie bisher. Morgen Nacht, meine ich.«

»Sie hat einen anderen gefunden«, sagte er. »Du bist meine Freundin.«

»Nein, das bin ich nicht«, sagte sie. »Wenigstens nicht samstagnachts. Unsere Berater würden sich wundern, dass wir jemand aus einem anderen Haus besucht haben. Ich habe einen netten normalen Bob auf meiner Etage, und du wirst eine nette normale Yin oder Mary finden. Aber wenn du mehr mit ihr treibst als eine kleine Nummer auf die Schnelle, dann dreh ich dir den Hals um.«

»Morgennacht werde ich nicht einmal das schaffen.«

»Das ist gut so«, sagte sie, »schließlich giltst du noch als Rekonvaleszent.« Sie sah ihn ernst an. »Du musst wirklich aufpassen, dass du nicht zu leidenschaftlich wirst, außer bei mir. Und vergiss nicht, zwischen dem ersten und dem letzten Gong ein zufriedenes Lächeln im Gesicht zu tragen und an deinem Arbeitsplatz eifrig, aber nicht zu eifrig zu sein. Es ist schwierig, unterbehandelt zu werden; aber es zu bleiben ist genauso schwierig.« Sie legte sich wieder neben ihn. »Hass«, sagte sie, »jetzt würde ich sonst was geben für ein bisschen Tabak.«

»Macht es wirklich so viel Spaß?«

»Mmhm. Besonders in solchen Momenten.«

»Ich muss es doch einmal versuchen.«

Sie lagen noch eine Weile im Bett und plauderten und streichelten einander, und dann versuchte Snowflake, ihn noch einmal zu erregen – »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sagte sie – aber all ihre Bemühungen blieben ohne Erfolg. Ungefähr um Mitternacht ging sie. »Sonntag um elf«, sagte sie unter der Tür. »Herzlichen Glückwunsch.«

Am Samstagabend traf Chip in der Halle ein Mitglied namens Mary KK, deren Freund ein paar Tage zuvor nach CAN versetzt worden war. Ihrer NN nach war sie 38 geboren – also vierundzwanzig Jahre alt. Sie gingen zu einem vormarxfestlichen Musikabend im Park der Gleichheit. Während sie warteten, bis sich das Amphitheater füllte, sah Chip Mary genau an. Ihr Kinn war kantig, aber sonst war sie normal: bräunliche Haut, schräge, braune Augen, kurz geschnittenes, schwarzes Haar, gelber Overall auf einem sehr schlanken Körper. Einer von ihren Zehennägeln, der halb von dem Sandalenriemen verdeckt wurde, hatte eine bläulich-purpurne Farbe. Sie saß lächelnd neben ihm und sah zur anderen Seite des Amphitheaters hinüber.

»Woher kommst du?«, fragte er sie.

»RUS«, sagte sie.

»Was hast du für eine Klassifizierung?«

»Eins-vierzig B. Augenärztliche Technikerin.«

»Was machst du da?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Ich passe Linsen ein«, sagte sie. »In der Kinderabteilung.«

»Macht es dir Spaß?«

»Natürlich.« Sie sah ihn unsicher an. »Warum fragst du mich so viel?«, fragte sie. »Und warum schaust du mich so an – als ob du noch nie ein Mitglied gesehen hättest?«

»Ich habe dich noch nie gesehen«, sagte er. »Ich möchte dich gern kennenlernen.«

»Ich bin nicht anders als alle anderen Mitglieder«, sagte sie. »Ich habe nichts Außergewöhnliches an mir.«

»Dein Kinn ist ein wenig kantiger als normal.«

Sie wich zurück, offensichtlich beleidigt und verwirrt.

»Ich wollte dich nicht kränken«, sagte er. »Ich wollte nur betonen, dass du doch etwas Außergewöhnliches hast, auch wenn es nichts Wichtiges ist.«

Sie sah ihn fragend an, dann blickte sie weg, wieder zur anderen Seite des Amphitheaters hinüber. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich war bis letzten Dienstag krank, aber mein Berater hat mich ins Haupt-Medizentrum gebracht, und sie haben mich fein wieder hingekriegt. Jetzt geht’s mir schon besser. Mach dir keine Sorgen.«

»Ach, das ist gut«, sagte sie. Mit einem strahlenden Lächeln wandte sie ihm ihr Gesicht zu. »Ich verzeihe dir«, sagte sie.

»Danke«, sagte er, und plötzlich stimmte sie ihn traurig.

Sie sah wieder weg.

»Ich hoffe, wir singen ›Die Befreiung der Massen‹«, sagte sie.

»Ganz sicher.«

»Ich liebe dieses Lied«, sagte sie und begann lächelnd, es zu summen. Er schaute sie immer noch an; hoffentlich tat er es normal und unauffällig. Was sie gesagt hatte, traf zu: Sie unterschied sich in nichts von allen anderen Mitgliedern. Was bedeutete schon ein kantiges Kinn oder ein verfärbter Zehennagel? Sie war genau wie jede Mary und Anna und Peace und Yin, die er schon zur Freundin gehabt hatte: bescheiden und gut, hilfsbereit und fleißig. Und dennoch machte sie ihn traurig. Warum? Und hätte er dasselbe Gefühl bei allen anderen empfunden, wenn er sie ebenso genau betrachtet und ihnen ebenso aufmerksam zugehört hätte?

Er sah die Mitglieder neben sich an, die vielen anderen in den Sitzreihen über und unter ihnen.

Sie waren alle wie Mary KK, sie lächelten und freuten sich auf ihre Lieblingslieder zum Marxfest und stimmten ihn traurig, alle in dem Amphitheater, die Tausende und Abertausende. Ihre Gesichter umsäumten das riesige Freilichttheater bis in weite Ferne wie dicht hintereinander aufgereihte gelbbraune Rosenkränze.

Scheinwerfer strahlten das goldene Kreuz und die rote Sichel in der Mitte der Arena an. Vier vertraute Trompetentöne erklangen, und alle sangen im Chor:

Eine mächtige Familie,

Herrliche, vollkomm’ne Rasse,

Frei von Gier

und allem Hasse.

Jeder gibt, was er verma – ag,

Uni dankt’s ihm jeden Ta – ag!

Aber sie waren keine mächtige Familie, dachte er. Sie waren eine schwache, deprimierende, mitleiderregende Familie, von Chemikalien betäubt und durch Armbänder entmenschlicht. Mächtig war nur Uni.

Eine mächtige Familie,

Wirklichkeit geword’ner Traum,

Unsre Kinder fliegen tapfer

In den weiten Weltenraum ...

Er sang die Worte automatisch mit, aber in Gedanken musste er Lilac recht geben: Reduzierte Behandlungen brachten neuen Kummer.

Sonntagabend um elf traf er Snowflake zwischen den Gebäuden am Unteren Christus-Platz. Er umarmte und küsste sie dankbar, voll Freude über ihre Sinnlichkeit und ihren Humor und ihre helle Haut und ihren bitteren Tabakgeschmack – all die Dinge, die ihre Persönlichkeit ausmachten und keiner anderen zu eigen waren. »Christus und Wei, bin ich froh, dich zu sehen«, sagte er.

Sie zog ihn näher an sich und lächelte ihm glücklich ins Gesicht. »Fällt einem allmählich ganz schön auf die Nerven, immer mit dem normalen Volk zusammen zu sein, nicht?«, sagte sie.

»Und wie!«, sagte er. »Heute Morgen hätte ich am liebsten nicht den Fußball, sondern die Mannschaft getreten.«

Sie lachte.

Seit dem Festgesang war er deprimiert gewesen, jetzt fühlte er sich erleichtert und glücklich und größer. »Ich habe eine Freundin gefunden«, sagte er, »und stell dir vor, ich habe ohne die geringste Schwierigkeit mit ihr verkehrt.«

»Hass.«

»Nicht so ausgiebig und befriedigend wie mit dir, aber ganz ohne Mühe, keine vierundzwanzig Stunden danach.«

»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«

Er grinste und ließ seine Hände über ihren Körper gleiten und legte sie auf ihre Hüften. »Ich glaube, ich könnte es heute Nacht sogar schon wieder schaffen«, sagte er und spielte mit dem Daumen an ihr herum.

»Dein Selbstbewusstsein wächst ja sprungartig.«

»Nicht nur mein Selbstbewusstsein.«

»Komm, Bruder«, sagte sie, indem sie seine Hände wegschubste, »wir gehen lieber in unsere vier Wände, bevor du anfängst zu singen.«

Sie traten auf den Platz hinaus und überquerten ihn diagonal. Fahnen und herabgesunkene Marxfest-Girlanden hingen regungslos im schwachen Licht entfernter Gehwege. »Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte er, munter ausschreitend. »Wo befindet sich der geheime Treffpunkt der kranken Verderber gesunder junger Mitglieder?«

»Im vV«, sagte sie.

»Im Museum?«

»Jawohl. Kannst du dir einen besseren Platz für eine Gruppe anormaler Uni-Betrüger vorstellen? Genau da gehören wir hin. Langsam«, sagte sie und zog ihn an der Hand, »geh nicht so schwungvoll.«

Ein Mitglied mit einer Aktenmappe oder einem Telecomp in der Hand kam aus dem Gehweg, dem sie zusteuerten, auf den Platz.

Chip ging normaler neben Snowflake her. Das Mitglied kam näher – was er in der Hand trug, war ein Telecomp –, lächelte und nickte. Sie lächelten und nickten zurück, als sie an ihm vorübergingen.

Sie stiegen Stufen hinab und verließen den Platz.

»Übrigens«, sagte Snowflake, »ist es von acht bis acht leer und eine unerschöpfliche Fundgrube für Pfeifen und komische Kostüme und ausgefallene Betten.«

»Nehmt ihr Sachen mit?«

»Die Betten lassen wir stehen«, sagte sie. »Aber wir benutzen sie hin und wieder. Die feierliche Zusammenkunft im Konferenzzimmer war nur deinetwegen arrangiert.«

»Was tut ihr noch?«

»Oh, herumsitzen und ein bisschen jammern. Das besorgen meistens Lilac und Leopard. Mir genügt Sex und Rauchen. King parodiert ein paar Fernsehsendungen. Warte nur, bis du merkst, wie du lachen kannst.«

»Und die Betten«, fragte Chip, »werden die gruppenweise benutzt?«

»Nur paarweise, mein Lieber, so vorvereinigungsmäßig sind wir nun wieder nicht!«

»Und mit wem hast du sie benutzt?«

»Mit Sparrow, logischerweise. Notstand ist der Vater von ... na und so weiter. Armes Mädchen, jetzt tut sie mir leid.«

»Natürlich.«

»Ja, wirklich. Aber was soll’s, in der Abteilung ›Kunsthandwerk des neunzehnten Jahrhunderts‹ gibt es einen künstlichen Penis, also wird sie’s überleben.«

»King sagt, wir sollten einen Mann für sie suchen.«

»Sollten wir. Wenn wir vier Paare wären, sähe die Sache viel besser aus.«

»Das sagte King auch.«

Als sie in dem Museum mit einer Taschenlampe, die Snowflake hervorgezogen hatte, durch das Dunkel des Erdgeschosses mit seinen seltsamen Schatten schritten, traf sie ein anderer Lichtstrahl von der Seite, und eine Stimme sagte ganz in der Nähe: »Hallo!« Sie zuckten zusammen.

»Entschuldigt«, sagte die Stimme. »Ich bin’s, Leopard.«

Snowflake richtete ihre Taschenlampe auf den Wagen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und in seinem Inneren erlosch ein Licht. Sie gingen zu dem glänzenden Metallfahrzeug hinüber. Leopard, der hinter dem Steuer saß, war ein altes, pausbäckiges Mitglied mit rundem Gesicht. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit einer orangeroten Feder. Auf seiner Nase und seinen Backen waren mehrere dunkelbraune Flecken zu erkennen. Er streckte seine ebenfalls fleckige Hand durch das Wagenfenster. »Gratuliere, Chip«, sagte er. »Freut mich, dass du es geschafft hast«

»Machst du einen kleinen Ausflug?«, fragte Snowflake.

»Bin schon zurück«, sagte er. »Einmal JAP und retour. Jetzt ist kein Sprit mehr im Volvo, und ganz schön nass ist er auch.«

Sie lächelten.

»Einfach fantastisch, nicht wahr?«, sagte er, drehte das Lenkrad und bediente einen Hebel, der unten herausragte. »Der Fahrer hat beide Hände und beide Füße benutzt und den Wagen vom Start bis zum Ziel völlig unter Kontrolle gehabt.«

»Das muss furchtbar geholpert haben«, sagte Chip, und Snowflake sagte: »Von der Gefahr ganz zu schweigen.«

»Aber Spaß hat es bestimmt auch gemacht«, sagte Leopard. »Muss ein richtiges Abenteuer gewesen sein – zu überlegen, wohin man fahren will und auf welchen Straßen man am besten hinkommt, und das Tempo und die Fahrweise der anderen richtig abzuschätzen.«

»Falsch schätzen und sterben«, sagte Snowflake. »Ich glaube, so oft, wie man uns erzählt, ist das in Wirklichkeit gar nicht vorgekommen«, sagte Leopard. »Denn sonst hätten sie das Vorderteil ihrer Wagen dicker gemacht.«

Chip sagte: »Aber dadurch wären sie schwerer und noch langsamer geworden.«

»Wo ist Hush?«, fragte Snowflake.

»Oben, mit Sparrow«, sagte Leopard. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus, eine Taschenlampe in der Hand. »Sie räumen um, weil noch mehr Zeug in den Raum gestellt wurde.« Er drehte das Wagenfenster bis zur Hälfte hoch und schlug die Tür fest zu. Ein breiter, brauner, mit Metallnieten verzierter Gürtel spannte sich über seinem Overall.

»King und Lilac?«, fragte Snowflake.

»Die müssen auch irgendwo sein.«

Betten benutzen, dachte Chip, während sie alle drei weiter durch das Museum gingen.

Er hatte viel über King und Lilac nachgedacht, seitdem er King gesehen hatte, und wusste, wie alt er war – zwei- oder dreiundfünfzig oder vielleicht noch älter. Er hatte über den Altersunterschied zwischen den beiden nachgedacht – allermindestens dreißig Jahre – und über die Art, wie King ihm gesagt hatte, er solle sich von Lilac fernhalten; und über Lilacs große, weniger als normal schräge Augen und ihre Hände, die klein und warm auf seinen Knien lagen, als sie sich vor ihm niederkauerte und ihn zu intensiverem, bewussterem Leben gedrängt hatte.

Sie stiegen die Stufen der stillstehenden Rolltreppe hoch und schritten durch den zweiten Stock des Museums. Das Licht der zwei Taschenlampen von Snowflake und Leopard tanzte über die Gewehre und Dolche, über Lampen mit ihren Glühbirnen und Kabeln, die blutenden Boxer, die Könige und Königinnen in ihren pelzumsäumten Gewändern und Juwelen und die drei schmutzigen, verkrüppelten Bettler, die ihre Gebresten zur Schau stellten und ihre Hüte aufhielten. Die Trennwand hinter den Bettlern war zur Seite geschoben, sodass ein schmaler Durchgang offen blieb, der tiefer in das Gebäude hineinführte. Die ersten Meter wurden von dem Licht erhellt, das links aus einem Eingang drang. Eine Frau sprach mit sanfter Stimme. Leopard ging weiter, durch die Tür, während Snowflake neben den Bettlern Pflasterstücke von einer Rolle aus einem Verbandskasten abriss. »Snowflake ist hier mit Chip«, sagte Leopard hinter der Tür. Chip legte ein Stück Pflaster über das Abzeichen auf seinem Armband und drückte es fest.

Sie gingen zu der Tür, betraten den stickigen, nach Tabak riechenden Raum, in dem eine alte und eine junge Frau dicht beieinander auf Stühlen aus der Zeit vor der Vereinigung saßen. Vor ihnen lagen zwei Messer und ein Haufen brauner Blätter auf einem Tisch. Hush und Sparrow! Sie schüttelten Chip die Hand und gratulierten ihm. Hush hatte viele Falten um die Augen und lächelte, Sparrow war schwergliedrig und wirkte verlegen; ihre Hand war heiß und feucht. Leopard stand neben Hush. Er hielt einen Fidibus in den Kopf einer geschwungenen schwarzen Pfeife, zog Rauch aus dem Stiel und blies Ringe in die Luft.

Der ziemlich große Raum war ein richtiges Lager. Bis zur Decke stapelten sich überall Relikte aus der Zeit vor der Vereinigung, ganz alte und jüngere: Maschinen und Möbel und Bilder und Kleiderbündel, Schwerter und Werkzeuge mit Holzgriffen, eine Statue eines Mitglieds, das »Engel« hieß und Flügel hatte, ein halbes Dutzend offene und geschlossene Kisten mit dem Aufdruck IND 26 110 und rechteckigen gelben Aufklebern in der Ecke. Chip sah sich um und sagte: »Hier wären genügend Gegenstände für ein weiteres Museum.«

»Und lauter echte«, sagte Leopard. »Manche von den Schaustücken sind nämlich nicht echt.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Chip.

Im vorderen Teil des Raumes waren die verschiedensten Stühle und Bänke aufgestellt. Gemälde lehnten an der Wand, und Schachteln mit kleineren Relikten und Stapel vermodernder Bücher standen herum. Ein Gemälde mit einem riesigen Felsblock stach Chip ins Auge. Er rückte einen Stuhl näher, um es genauer sehen zu können. Der Felsblock, fast schon ein Berg, schwebte über der Erde im blauen Himmel, peinlichst naturgetreu gemalt und sinnverwirrend. »So ein verrücktes Bild«, sagte er.

»Viele davon sind verrückt«, sagte Leopard.

Hush sagte: »Die von Christus zeigen ihn mit einem Licht um den Kopf, und er sieht überhaupt nicht menschlich aus.«

»Die habe ich schon entdeckt«, sagte Chip, der immer noch den Felsblock betrachtete, »aber ich habe noch nie zuvor eines wie dieses gesehen. Es ist faszinierend, wirklich und unwirklich zugleich.«

»Du kannst es aber nicht mitnehmen«, sagte Snowflake. »Wir können nichts nehmen, was vielleicht vermisst würde.«

Chip sagte: »Ich könnte es ohnehin nirgends unterbringen.«

»Wie gefällt es dir, unterbehandelt zu sein?«, fragte Sparrow.

Chip wandte sich um. Sparrow sah weg. Sie hielt eine Rolle Blätter und ein Messer in der Hand. Hush war mit derselben Arbeit beschäftigt Sie hackten mit raschen Bewegungen auf eine Rolle Blätter ein und schnitten sie in kleine Schnipsel, die sich vor dem Messer auftürmten. Snowflake hatte eine Pfeife im Mund, Leopard hielt den Fidibus in den Pfeifenkopf. »Es ist wundervoll«, sagte Chip. »Im wahrsten Sinn des Wortes. Voller Wunder. Jeden Tag mehr. Ich bin euch allen so dankbar.«

»Wir haben nur getan, was man uns geheißen hat«, sagte Leopard lächelnd. »Wir haben einem Bruder geholfen.«

»Nicht ganz vorschriftsmäßig«, sagte Chip.

Snowflake bot ihm ihre Pfeife an. »Bist du bereit, einen Zug zu machen?«, fragte sie.

Er ging zu ihr und nahm die Pfeife. Der Kopf war warm, der rauchende Tabak darin grau. Er zögerte einen Moment, lächelte den anderen zu, die ihn beobachteten, und führte den Stiel zum Mund. Er saugte kurz daran und blies Rauch aus. Der Geschmack war stark, aber überraschend angenehm. »Nicht schlecht«, sagte er. Er zog noch einmal, nun schon sicherer. Etwas von dem Rauch kam ihm in die Kehle, und er hustete.

Leopard, der lächelnd zur Tür ging, sagte: »Ich hole dir eine eigene, für dich allein«, und verließ den Raum.

Chip gab Snowflake die Pfeife zurück, räusperte sich und setzte sich auf eine abgewetzte Bank aus dunklem Holz. Er beobachtete Hush und Sparrow beim Tabakschneiden. Hush lächelte ihm zu. Chip fragte: »Woher bekommt ihr die Samen?«

»Von den Pflanzen selbst«, sagte sie.

»Und woher habt ihr die ersten Pflanzen bekommen?«

»King hatte sie.« »Was hatte ich?«, fragte King, der gerade hereinkam. Er war groß und mager und hatte glänzende Augen, und auf seiner Brust hing eine Kette mit einem goldenen Medaillon über dem Overall. Hinter ihm, an seiner Hand, trat Lilac ein.

Chip stand auf. Sie sah ihn an – dunkel, schön, jung und ungewöhnlich.

»Die Tabaksamen«, sagte Hush.

King bot Chip mit einem herzlichen Lächeln die Hand. »Schön, dich hier zu sehen«, sagte er. Chip schüttelte ihm die Hand. Ihr Druck war fest und stark. »Wirklich schön, ein neues Gesicht in der Gruppe zu sehen«, sagte King. »Besonders einen Mann, der mir hilft, diese vorvereinigungsmäßigen Weiber im Zaum zu halten.«

»Huh«, sagte Snowflake.

»Es ist schön, hier zu sein«, sagte Chip, erfreut über Kings Freundlichkeit. Seine Kälte, als Chip sein Büro verließ, musste gespielt gewesen sein, um die zuschauenden Ärzte zu täuschen. »Ich danke euch«, sagte Chip. »Für alles. Euch beiden!«

Lilac sagte: »Ich freue mich sehr, Chip.«

King hielt immer noch ihre Hand. Sie war dunkler als normal, fast braun, mit einem hübschen Rosaschimmer. Ihre Augen waren groß und fast gerade, ihre Lippen rosig und sanft. Sie drehte sich um und sagte: »Grüß dich, Snowflake.« Sie entzog King ihre Hand und ging zu Snowflake, um sie auf die Wange zu küssen.

Sie war nicht älter als zwanzig oder einundzwanzig. In den oberen Taschen ihres Overalls steckte etwas, das sie wie die vollbusige Frau auf Karls Zeichnungen wirken ließ. Chip fand diesen Anblick eigenartig und geheimnisvoll verlockend.

»Fühlst du dich schon ein bisschen anders, Chip?«, fragte King. Er saß vorgebeugt am Tisch und stopfte Tabak in seine Pfeife.

»Ja, wie umgewandelt!«, sagte Chip. »Genau wie du es beschrieben hast.«

Leopard kam herein und sagte: »Da, Chip, für dich.« Er gab ihm eine gelbe Pfeife mit breitem Kopf und Bernsteinstiel. Chip dankte ihm und probierte die Pfeife aus. Sie fühlte sich gut an in seinen Händen und auf seinen Lippen. Er trug sie zum Tisch, und King zeigte ihm, wie sie richtig gestopft wurde.

Leopard führte ihn durch die Personalräume des Museums und zeigte ihm weitere Lagerhallen, das Konferenzzimmer und verschiedene Büros und Arbeitsräume.

Er sagte: »Es ist ganz gut, wenn jemand ein bisschen darauf achtet, wer bei diesen Zusammenkünften wohin geht, und später nachsieht, ob alles noch so an seinem Platz liegt, dass nichts auffällt. Die Mädchen könnten da ein wenig vorsichtiger sein. Im Allgemeinen kümmere ich mich darum, aber wenn ich nicht mehr da bin, könntest du diese Aufgabe vielleicht übernehmen. Die Normalen sind nicht ganz so unachtsam, wie es uns lieb wäre.«

»Wirst du versetzt?«, fragte Chip.

»O nein«, sagte Leopard. »Ich werde bald sterben. Ich bin jetzt schon beinahe drei Monate über zweiundsechzig. Hush auch.«

»Das tut mir leid«, sagte Chip.

»Uns auch«, sagte Leopard, »aber keiner lebt ewig. Tabakasche ist natürlich gefährlich, aber in der Beziehung passen alle auf. Wegen des Geruchs brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Belüftungsanlage wird um sieben Uhr vierzig eingeschaltet und wirbelt den Rauch hinaus. Ich bin einmal morgens hiergeblieben, um mich zu vergewissern. Sparrow wird in Zukunft den Tabak anpflanzen. Wir trocknen die Blätter gleich hier, hinten in dem Warmwasserbehälter. Ich werde es dir zeigen.«

Als sie in den Lagerraum zurückkamen, saßen King und Snowflake auf einer Bank rittlings einander gegenüber und beschäftigten sich eifrig mit irgendeinem mechanischen Spiel, das zwischen ihnen aufgestellt war. Hush döste in ihrem Stuhl vor sich hin, und Lilac kauerte vor den Antiquitäten. Sie nahm Bücher aus einer Schachtel, sah darauf und stapelte sie auf dem Fußboden. Sparrow war nicht da.

»Was ist das?«, fragte Leopard.

»Neues Spiel. Gerade eingetroffen«, sagte Snowflake, ohne aufzublicken.

Für jede Hand gab es einen Hebel, den sie drückten und wieder losließen, und dann schlugen kleine Arme einen rostigen Ball auf einer Metallfläche mit erhöhtem Rand hin und her. Die Arme, die zum Teil zerbrochen waren, quietschten bei jeder Bewegung. Der Ball hüpfte hierhin und dorthin und kam in einer Vertiefung an Kings Ende zum Stehen. »Fünf«, rief Snowflake. »Jetzt hab ich dir’s aber gegeben, Bruder!«

Hush öffnete die Augen, sah sich um und schloss sie wieder.

»Verlieren ist dasselbe wie gewinnen«, sagte King und zündete seine Pfeife mit einem Metallfeuerzeug an.

»So siehst du aus«, sagte Snowflake. »Chip? Komm, du bist der Nächste.«

»Nein, ich schaue zu«, sagte er lächelnd.

Leopard wollte auch nicht spielen, und King und Snowflake fingen ein neues Match an. In einer Spielpause, als King gerade einen Treffer erzielt hatte, sagte Chip: »Darf ich das Feuerzeug sehen?«, und King gab es ihm. Ein fliegender Vogel war darauf abgebildet, eine Ente, wie Chip dachte. Er hatte schon Feuerzeuge im Museum gesehen, aber noch nie eines benutzt. Er klappte es auf und tippte mit dem Daumen das gerillte Rädchen an. Beim zweiten Versuch flammte der Docht auf. Er klappte das Feuerzeug zu, besah es noch einmal gründlich und gab es King in der nächsten Spielpause zurück.

Chip sah noch eine kleine Weile beim Spielen zu und ging dann weg, zu den Museumsstücken hinüber. Er betrachtete sie und setzte sich dann zu Lilac. Sie blickte lächelnd zu ihm auf und legte ein Buch auf einen der verschiedenen Stapel neben sich. »Ich hoffe immer noch, eines in der Sprache zu finden«, sagte sie, »aber sie sind alle in den alten Sprachen geschrieben.«

Er bückte sich, um das Buch aufzuheben, das sie gerade abgelegt hatte. Auf dem Buchrücken stand in kleinen Lettern: Bädda för död. »Hm«, sagte er kopfschüttelnd. Er sah die alten braunen Seiten durch, las merkwürdige Wörter und Sätze: allvarlig, lögnerska, dök ner pà brickorna. Die Doppelpunkte und kleinen Kreise standen über vielen Buchstaben. »Einige sind der Sprache so ähnlich, dass man ein Wort oder zwei verstehen kann«, sagte sie, »aber andere wieder sind – schau dir nur einmal dieses hier an.« Sie zeigte ihm ein Buch, in dem umgekehrte Ns und rechteckige, unten offene Buchstaben zwischen gewöhnlichen Ps und Es und Os gedruckt waren. »Was soll das denn bedeuten?«, sagte sie, das Buch niederlegend.

»Es wäre interessant, eines zu finden, das wir lesen könnten«, sagte er, den Blick auf die rosigbraune Glätte ihrer Wange gerichtet.

»Ja«, sagte sie, »aber ich glaube, sie wurden alle aussortiert, bevor sie hierher gesandt wurden, und deshalb können wir sie nicht lesen.«

»Du meinst, sie wurden aussortiert?«

»Es müsste doch eine ganze Menge Bücher in der Sprache geben«, sagte sie, »denn wie könnte sie die Sprache geworden sein, wenn sie nicht vorher die am weitesten verbreitete war?«

»Ja, natürlich«, sagte er. »Du hast recht.«

»Ich hoffe trotzdem immer noch, dass eines übersehen wurde«, sagte sie. Sie nahm ein Buch zur Hand, runzelte die Stirn und legte es auf einen Stapel.

Ihre vollen Taschen bewegten sich mit ihrem Körper, und plötzlich wirkten sie auf Chip wie leere Taschen, die sich über runde Brüste spannten, Brüste, wie Karl sie gezeichnet hatte – fast die Brüste einer Frau aus der Zeit vor der Vereinigung. Möglich war es schon, wenn man bedachte, wie unnormal dunkel Lilac war und wie viele verschiedene körperliche Anomalien die anderen aufwiesen. Er sah ihr wieder ins Gesicht, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, falls sie wirklich Brüste hatte.

»Ich dachte, ich überprüfe diesen Karton zum zweiten Mal«, sagte sie, »aber ich werde das komische Gefühl nicht los, dass es schon das dritte Mal ist.«

»Aber warum sollte man die Bücher aussortiert haben?«, fragte er sie. Sie schwieg eine Weile. Ihre Ellbogen lagen auf ihren Knien, und ihre dunklen Hände hingen in der Luft. Dann sah sie ihn ernst mit ihren großen, geraden Augen an. »Ich glaube, man hat uns so manches weisgemacht, was nicht stimmt«, sagte sie. »Über das Leben vor der Vereinigung, kurz vor der Vereinigung, meine ich, nicht früher.«

»Was zum Beispiel?«

»Die Gewalttätigkeit, die Brutalität, die Gier und Feindseligkeit. Ich nehme an, dass das alles existierte, aber ich kann nicht glauben, dass es gar nichts anderes gab; und das lehrt man uns doch. Und die ›Bosse‹, die die ›Arbeiter‹ bestrafen, und lauter Krankheit und Alkohol, Trunksucht und Hungertod und Selbstzerstörung, glaubst du das?«

Er sah sie an. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe nicht viel darüber nachgedacht.«

»Ich will euch mal sagen, was ich nicht glaube«, sagte Snowflake. Sie war von der Bank aufgestanden, denn das Spiel mit King war offensichtlich beendet. »Ich glaube nicht, dass sie den kleinen Jungen die Vorhaut abgeschnitten haben«, sagte sie. »In der frühen Zeit vor der Vereinigung vielleicht – in der ganz frühen Frühzeit – aber später nicht mehr. Das ist einfach zu unglaubhaft. Ich meine, sie besaßen doch irgendeine Art von Intelligenz, nicht wahr?«

»Es ist unglaubhaft, gewiss«, sagte King, der mit seiner Pfeife gegen die Hand klopfte, »aber ich habe Fotos gesehen. Angebliche Fotos auf jeden Fall.«

Chip drehte sich hastig um und setzte sich auf den Fußboden. »Wie meinst du das?«, fragte er. »Gibt es Fotos, die nicht echt sind?«

»Natürlich«, sagte Lilac. »Schau dir ein paar von diesen hier genauer an. Manche Stellen sind eingezeichnet und andere überdeckt.« Sie begann, die Bücher in den Karton zurückzulegen.

»Ich hatte keine Ahnung, dass das möglich ist«, sagte Chip.

»Bei den zweidimensionalen schon«, sagte King.

»Was man uns vermittelt«, sagte Leopard – er saß in einem vergoldeten Stuhl und spielte mit der orangeroten Feder seines Hutes –, »ist wahrscheinlich eine Mischung aus Wahrheit und Unwahrheit. Das Mischungsverhältnis zu ergründen, bleibt jedem Einzelnen überlassen.«

»Könnten wir nicht diese Bücher studieren und die Sprache lernen?«, fragte Chip. »Eine würde schon reichen.«

»Wozu?«, fragte Snowflake.

»Um herauszufinden, was wahr ist und was nicht«, sagte er.

»Ich habe es versucht«, sagte Lilac.

»Und wie!«, sagte King lächelnd zu Chip. »Vor einiger Zeit hat sie viele Nächte – für meinen Geschmack viel zu viele – darauf verschwendet, sich ihren hübschen Kopf über diesem unsinnigen Geschreibsel zu zerbrechen. Ich bitte dich, Chip, fang du nicht auch damit an.«

»Warum nicht?«, fragte Chip. »Vielleicht habe ich mehr Glück.«

»Und selbst wenn?«, sagte King. »Nehmen wir an, du entzifferst eine Sprache und liest ein paar Bücher und findest heraus, dass man uns wirklich etwas Unwahres lehrt. Vielleicht ist nichts wahr. Vielleicht war das Leben A.D. 2000 ein einziger endloser Orgasmus, und alle haben die richtige Klassifizierung gewählt und ihren Brüdern geholfen und gestrotzt von Liebe und Gesundheit und allem, was man zum Leben braucht. Na und? Du lebst trotzdem hier, im Jahre 162 nach der Vereinigung, mit einem Armband und einem Berater und einer monatlichen Behandlung. Du wärst nur unglücklicher. Wir alle wären unglücklicher.«

Chip runzelte die Stirn und blickte zu Lilac hinüber. Sie packte Bücher in den Karton, ohne aufzusehen. Er schaute wieder King an und suchte nach Worten. »Aber es würde sich dennoch lohnen, Bescheid zu wissen«, sagte er. »Ist es wirklich das Wichtigste, ob man glücklich oder unglücklich ist? Die Wahrheit zu kennen, wäre eine andere Art von Glück – eine befriedigendere, denke ich, selbst wenn sie sich als traurig erweisen sollte.«

»Eine traurige Art von Glück?«, sagte King lächelnd. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Leopard blickte sinnend vor sich hin.

Snowflake gab Chip ein Zeichen, er solle aufstehen. »Komm, ich will dir noch etwas anderes zeigen«, sagte sie.

Er rappelte sich hoch. »Aber wir fänden vielleicht nur heraus, dass alles übertrieben wurde«, sagte er, »dass es Hunger gab, aber nicht so viel Hunger, und Brutalität, aber nicht so viel Brutalität. Vielleicht wurde manches erfunden, was weniger entscheidend ist, wie das Vorhaut-Abschneiden und der Fahnenkult.«

»Wenn du so darüber denkst, ist es bestimmt sinnlos, dass du dich damit abgibst«, sagte King. »Hast du denn überhaupt eine Ahnung, was für eine Arbeit es wäre? Du würdest zusammenbrechen!«

Chip zuckte die Achseln. »Es wäre gut, Gewissheit zu haben, das ist alles«, sagte er. Er sah zu Lilac hinüber; sie legte die letzten Bücher in den Karton.

»Komm schon«, sagte Snowflake und ergriff seinen Arm. »Hebt uns ein bisschen Tabak auf, ihr Mitgliederchen.«

Sie traten in das Dunkel der Ausstellungshalle hinaus. Snowflake knipste ihre Taschenlampe an, um den Weg zu finden. »Was willst du mir denn zeigen?«, fragte Chip.

»Was meinst du wohl?«, sagte sie. »Bestimmt nicht noch mehr Bücher – ein Bett!«

Im Allgemeinen trafen sie sich in zwei Nächten in der Woche, sonntags und woodstags oder donnerstags. Sie rauchten und redeten und spielten mit Relikten und Museumsstücken. Manchmal sang Sparrow selbstverfasste Lieder und machte dazu mit den Fingern hübsche, altmodische Musik auf einem Saiteninstrument, das sie auf dem Schoß hielt. Die Lieder waren kurz und traurig. Sie handelten von Kindern, die auf Sternenschiffen lebten und starben, von Liebenden, die versetzt wurden, und vom ewigen Meer. Manchmal parodierte King das abendliche Fernsehprogramm und äffte einen Dozenten für Klimakontrolle nach oder einen fünfzigköpfigen Chor, der Mein Armband sang. Chip und Snowflake benutzten das Bett aus dem siebzehnten Jahrhundert und das Sofa aus dem neunzehnten, den Bauernwagen aus der frühen vV-Zeit und den Kunststoffteppich aus der späten. In den Nächten zwischen den Zusammenkünften besuchten sie sich manchmal auf ihren Zimmern. Snowflakes NN an ihrer Tür lautete Anna PY24A9155. Chip konnte es sich nicht verkneifen, nachzurechnen – Jahrgang 24, also war sie 38, älter als er gedacht hatte.

Jeden Tag schärften sich seine Sinne mehr, und sein Geist wurde regsamer und unsteter. Seine Behandlung warf ihn wieder zurück und stumpfte ihn ab, aber nur für ungefähr eine Woche. Dann war er wieder wach und lebendig. Er beschäftigte sich mit der Sprache, die Lilac versucht hatte zu entziffern. Sie zeigte ihm die Bücher, mit denen sie gearbeitet, und Listen, die sie erstellt hatte. Momento hieß Moment und festa Fest. Sie besaß mehrere Seiten voll Vokabeln, die leicht zu übersetzen waren, aber in jedem Satz kamen Wörter vor, die man nur erraten konnte; doch das führte nicht sehr weit. Hieß allora »dann« oder »schon«? Was bedeutete quale und sporse und rimanesse? Er beschäftigte sich bei jeder Zusammenkunft eine gute Stunde mit den Büchern. Manchmal beugte sich Lilac über seine Schulter und sah ihm zu und sagte »Ach, natürlich« oder »Könnte das nicht einer der Wochentage sein?«, aber meistens blieb sie in Kings Nähe, stopfte ihm die Pfeife und hörte ihm zu, wenn er sprach. King beobachtete Chip bei der Arbeit, und Chip sah in den spiegelnden Glasscheiben der Möbel, wie er lächelte und die Augenbrauen hochzog.

Chip traf Mary KK samstagabends und sonntagnachmittags. Er benahm sich normal, wenn er mit ihr zusammen war, lächelte sich durch den Vergnügungsgarten und absolvierte einen simplen und leidenschaftslosen Geschlechtsverkehr. Auch an seiner Arbeitsstelle benahm er sich normal: Er verrichtete die vorgeschriebenen Tätigkeiten, wie es sich gehörte. Aber das normale Verhalten erschien ihm jede Woche sinnloser und lästiger.

Im Juli starb Hush. Sparrow schrieb ein Lied über sie, und als Chip nach der Zusammenkunft, bei der sie es gesungen hatte, in sein Zimmer zurückkam, musste er plötzlich an sie und zugleich an Karl denken (warum war Karl ihm nicht früher eingefallen?). Sparrow war groß und plump, aber reizvoll, wenn sie sang, etwa fünfundzwanzig und einsam. Karl war vermutlich »geheilt« worden, als Chip ihm »geholfen« hatte, aber konnte es nicht sein, dass er die Kraft oder die angeborene Fähigkeit oder was auch immer besessen hatte, der Heilung wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu widerstehen? Wie Chip war er in Klassifizierung 663, und es war nicht ausgeschlossen, dass er irgendwo direkt hier im Institut arbeitete. Eine bessere Gelegenheit, ihn in die Gruppe einzuführen und Sparrow an den Mann zu bringen, konnte es gar nicht geben. Ein Versuch lohnte sich auf jeden Fall. Was für ein Vergnügen müsste es sein, Karl wirklich zu helfen. Unterbehandelt würde er Bilder zeichnen, wie sie noch keiner je erdacht hatte. Sobald Chip am nächsten Morgen aufgestanden war, zog er das neueste NN-Verzeichnis aus seinem Tornister, berührte das Telefon und las Karls Nummer vor. Aber der Bildschirm blieb leer, und die Telefonstimme teilte ihm mit, das angerufene Mitglied sei nicht zu erreichen.

Bob RO fragte ihn ein paar Tage später danach, als er gerade wieder gehen wollte. »Oh, ich habe noch eine Frage: Wie kommt es, dass du diesen Karl WL anrufen wolltest?«

»Ach«, sagte Chip, neben dem Stuhl stehend, »weil ich mich jetzt so wohlfühle, wollte ich wissen, ob es ihm und allen anderen ebenso gut geht.«

»Natürlich geht es ihm gut«, sagte Bob. »Eine komische Idee, nach so vielen Jahren anzurufen.« »Ich habe eben zufällig an ihn gedacht«, sagte Chip.

Er benahm sich normal vom ersten bis zum letzten Gong und ging zweimal in der Woche zu den Zusammenkünften der Gruppe. Er mühte sich weiterhin mit der Sprache ab – Italiano hieß sie –, obwohl er befürchtete, dass King recht hatte und das Ganze zu nichts führte. Aber es war wenigstens eine Beschäftigung, die ihm sinnvoller erschien, als mit mechanischem Spielzeug herumzualbern. Und von Zeit zu Zeit wurde Lilac davon angelockt. Sie beugte sich herab, um ihm zuzusehen, eine Hand auf dem lederbezogenen Tisch, an dem er arbeitete, die andere auf seiner Stuhllehne. Er konnte sie riechen – es war keine Einbildung; sie roch wirklich nach Blumen –, und ihre dunkle Haut und ihren Hals sehen, und das Oberteil ihres Overalls, das sich über zwei runde, bewegliche Hügel spannte. Es waren Brüste! Wirklich und wahrhaftig, sie hatte Brüste!