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Nun, nachdem er geschrien und sich die Hände aufgeschürft hatte, fiel es ihm leichter, langsam zu gehen und zufrieden zu lächeln, auf den Fernsehschirm und in sein Mikroskop zu starren und mit seiner Freundin in den Konzerten im Amphitheater zu sitzen.

Und immer überlegte er, was, er tun könnte ...

»Irgendeine Reibung?«, fragte sein Berater.

»Ja, eine kleine«, sagte er.

»Man sieht es dir direkt an. Wo fehlt’s denn?«

»Ach, du weißt ja, vor ein paar Jahren war ich einmal ziemlich krank.«

»Ich weiß.«

»Und jetzt ist eine von den anderen ehemaligen Kranken – genauer gesagt, das Mitglied, das mich krank gemacht hat, hier in diesem Gebäude. Könnte ich wohl an einen anderen Ort versetzt werden?«

Sein Berater sah ihn zweifelnd an.

»Ich bin ein wenig überrascht«, sagte er, »dass Unicomp euch beide wieder zusammengebracht hat.«

»Ich auch«, sagte Chip. »Aber sie ist hier. Ich habe sie nämlich gestern Abend selbst im Speisesaal gesehen und heute Morgen schon wieder.« »Hast du mit ihr gesprochen?« »Nein.«

»Ich werde mich darum kümmern«, sagte sein Berater. »Wenn sie hier ist und dich das stört, werden wir dich natürlich versetzen lassen. Oder sie. Wie ist ihre NN?«

»Ich habe sie nicht mehr genau im Kopf«, sagte Chip. »Anna ST38P.«

Am nächsten Morgen rief sein Berater an. »Du hast dich getäuscht, Li«, sagte er. »Das Mitglied, das du gesehen hast, war nicht Anna. Übrigens heißt sie SG, nicht ST.«

»Bist du sicher, dass sie nicht hier ist?«

»Absolut. Sie ist in AFR«

»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Chip.

»Und Li, anstatt am Donnerstag wirst du deine Behandlung heute bekommen.«

»Heute?«

»Ja. Um halb zwei.«

»Gut«, sagte er. »Danke, Jesus.«

»Danke Uni.«

Er hatte drei gefaltete Kuchenfolien hinten in seiner Schreibtischschublade versteckt. Er nahm eine davon, ging ins Badezimmer und fing an, einen Schutzverband herzustellen.

Sie war in AFR. Das war nicht so weit weg wie IND, aber ein Weltmeer lag doch noch dazwischen, und USA in seiner ganzen Breite außerdem. Seine Eltern waren dort, in ’71334. Er würde ein paar Wochen warten und dann einen Besuch beantragen. Es war fast zwei Jahre her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, und daher ziemlich wahrscheinlich, dass seinem Antrag stattgegeben wurde. Wenn er erst einmal in AFR war, würde er eine Armverletzung simulieren, damit ein Kind den Raster eines Telefons auf einem Gehweg für ihn berührte, und sie anrufen, um ihre genaue Adresse herauszufinden. »Hallo, Anna SG. Ich hoffe, es geht dir ebenso gut wie mir. In welcher Stadt bist du?«

Und was dann? Sollte er zu Fuß hingehen? Oder eine Fahrt in einen nahe gelegenen Ort beantragen, zu einer Einrichtung, die irgendetwas mit Genetik zu tun hatte? Würde Uni seinen Plan durchschauen?

Aber selbst wenn alles gelang und er zu Lilac kam, was würde er dann tun? Er konnte kaum hoffen, dass auch sie eines Tages ein Blatt von einem nassen Stein aufgehoben hatte. Nein, verflucht, sie war bestimmt ein normales Mitglied, so normal wie er selbst bis vor ein paar Monaten. Und beim ersten unnormalen Wort würde sie ihn in ein Medizentrum bringen lassen. Christus, Marx, Wood und Wei, was konnte er tun?

Er konnte sie vergessen – das war eine Lösung! – und versuchen, allein die nächste freie Insel zu erreichen. Dort würde es auch Frauen geben, wahrscheinlich eine ganze Menge, und einige von ihnen hatten wahrscheinlich rosigbraune Haut und große, weniger als normal schräge Augen und sanft gewölbte Brüste. Die Aussicht, dass er Lilac zum wahren Leben erwecken konnte, war gering. Lohnte es, dafür sein eigenes zu riskieren?

Jedoch sie hatte ihn wachgerüttelt, damals, als sie vor ihm kauerte, die Hände auf seinen Knien ...

Aber nicht unter Gefahr für ihr eigenes Leben. Oder zumindest war die Gefahr nicht so groß gewesen.

Er ging in das vV-Museum, wie früher, bei Nacht und ohne Raster zu berühren. Das Museum war dasselbe wie in IND 26 110, nur einige Ausstellungsstücke sahen ein wenig anders aus oder standen an einem anderen Platz.

Er fand eine andere vV-Landkarte – aus dem Jahr 1937 –, auf die ebenfalls acht blaue Rechtecke geklebt waren. Die Rückseite des Rahmens war aufgeschnitten und ungeschickt wieder zusammengeheftet. Der Gedanke war erregend: Ein anderer hatte die Inseln entdeckt und war vielleicht in diesem Augenblick schon auf dem Weg zu ihnen.

In einem anderen Lagerraum – in dem nur ein Tisch und ein paar Kartons und eine kastenförmige Maschine mit Reihen kleiner Hebel und einem Vorhang standen – hielt er eine Landkarte gegen das Licht und sah wieder die verborgenen Inseln. Die nächstgelegene, »Kuba«, vor der Südspitze von USA, zeichnete er auf ein Stück Papier. Und für den Fall, dass er wagte, Lilac zu besuchen, zeichnete er den Umriss von AFR und zwei Inseln in der Nähe auf – »Madagaskar« im Osten und das kleine »Mallorca« im Norden.

Einer der Kartons enthielt Bücher. Er fand eines in Français, Spinoza et ses contemporains. Spinoza und seine Zeitgenossen. Er blätterte es durch und steckte es ein.

Er hängte die Karte mit dem beschädigten Rahmen wieder auf und durchstreifte das Museum. Er nahm einen Armband-Kompass mit, der anscheinend noch funktionierte, und ein »Rasiermesser« mit Horngriff und den dazugehörenden Wetzstein.

»Wir werden bald versetzt«, sagte sein Abteilungsleiter eines Tages beim Mittagessen. »GL 4 übernimmt unsere Arbeit.«

»Hoffentlich komme ich nach AFR«, sagte Chip. »Meine Eltern sind dort.«

Das zu sagen, war nicht ganz mitgliedhaft und daher ein wenig riskant, aber vielleicht hatte der Abteilungsleiter indirekt Einfluss auf den Versetzungsplan.

Seine Freundin wurde versetzt, und er brachte sie zum Flughafen, um sich von ihr zu verabschieden – und zu sehen, ob man ohne Erlaubnis von Uni ein Flugzeug besteigen konnte. Anscheinend war es nicht möglich; weil alle Mitglieder, die an Bord wollten, dicht hintereinander in einer einzigen Schlange standen, war es ausgeschlossen, den Raster nur zum Schein zu berühren, und wenn das letzte Mitglied berührte, stand schon ein anderes Mitglied in orangerotem Overall daneben, um die Rolltreppe anzuhalten und zu versenken. Das Flugzeug zu verlassen, war ebenso schwierig: Zwei Mitglieder in orangeroten Overalls sahen zu, wie das letzte Mitglied den Raster berührte, dann stellten sie die Rolltreppe um, sodass sie aufwärts fuhr, und gingen mit Stahlbehältern für die Kuchen- und Getränkeverteiler nach oben. Vielleicht könnte er, wenn er in den Hangars wartete, an Bord gehen und sich verstecken, obwohl er sich keinen geeigneten Platz vorstellen konnte – aber wie sollte er wissen, wohin der Flug ging?

Fliegen war unmöglich, solange Uni nicht seine Einwilligung gab. Er beantragte einen Besuch bei seinen Eltern. Der Antrag wurde abgelehnt. Die neuen Arbeitsplätze für seine Abteilung wurden bekannt gegeben. Zwei 66er kamen nach AFR, aber er nicht. Er wurde nach USA 36 104 geschickt. Unterwegs studierte er das Flugzeug. Es gab kein Versteck, nur den langen Rumpf voller Sitze, die Toilette an der Stirnseite, die Kuchen- und Getränkeausgabe am anderen Ende und die Fernsehschirme, die alle das Gleiche zeigten: einen Schauspieler, der Marx verkörperte.

USA 36 104 war im Südosten, nicht weit vom äußersten Ende von USA, hinter dem Kuba lag. Er könnte eines Sonntags eine Radtour unternehmen und immer weiter, von Stadt zu Stadt, fahren, in den Parkgebieten schlafen und nachts in die Städte gehen, um sich Kuchen und Getränke zu holen. Der MEF-Karte nach betrug die Entfernung zwölfhundert Kilometer. In ’33 037 würde er vielleicht ein Boot finden oder auf Händler stoßen, die an Land kamen, wie die in ARG 20 400, von denen King erzählt hatte.

Lilac, dachte er, was kann ich anderes tun?

Wieder beantragte er den Besuch in AFR, und wieder wurde er ihm verweigert.

Er fing an, sonntags und in der Freistunde mit dem Rad zu fahren, damit seine Beine trainiert wurden. Er ging in das vV-Museum von ’36 104 und fand einen besseren Kompass und ein Messer mit gezackter Schneide, das er gebrauchen konnte, um in den Parkgebieten Zweige abzuschneiden. Er untersuchte die Rückseite der Landkarte: Sie war unberührt; niemand hatte sie aufgeschlitzt. Er schrieb darauf: Ja, es gibt Inseln, wo Mitglieder frei sind. Kampf Uni!

Frühmorgens an einem Sonntag machte er sich auf den Weg nach Kuba, mit einem Kompass und einer selbst gezeichneten Landkarte in der Tasche. In der Satteltasche lag Weis lebendige Weisheit auf einer gefalteten Decke neben einem Behälter mit Cola und Kuchen; in der Decke befand sich sein Reisetornister und darin sein Rasiermesser und der Wetzstein, ein Stück Seife, seine Schere, zwei Kuchen, ein Messer, eine Taschenlampe, Watte, eine Rolle Pflaster, ein Foto von seinen Eltern und Papa Jan und ein Overall zum Wechseln. Unter seinem rechten Ärmel hatte er einen Verband auf der Haut, obwohl dieser bei einer möglichen Behandlung mit Sicherheit gefunden wurde. Er trug eine Sonnenbrille auf der Nase und lächelte, als er zwischen anderen Radfahrern südostwärts auf dem Weg nach ’36 081 fuhr. Wagen fegten in gleichmäßigen Abständen über die Straße, die parallel zu dem Weg verlief.

Ab und zu prallten Steinchen, die von den Luftdüsen der Wagen hochgewirbelt wurden, gegen die Metallbarriere zwischen Straße und Radfahrweg.

Ungefähr jede Stunde hielt er an und ruhte sich ein paar Minuten aus. Er aß einen halben Kuchen und trank von der Cola. Er dachte an Kuba und überlegte sich, was er aus ’33 037 zum Verkaufen mitnehmen sollte. Er dachte auch an die Frauen auf Kuba. Wahrscheinlich flogen sie auf einen Neuankömmling. Sie würden vollkommen unbehandelt sein, unvorstellbar leidenschaftlich und so schön wie Lilac oder schöner ...

Er radelte fünf Stunden, dann kehrte er um.

Er zwang sich, an seine Arbeit zu denken. Er war Personalnummer 663 in der pädiatrischen Abteilung eines Medizentrums. Der Posten war langweilig – endlose genetische Untersuchungen ohne viel Abwechslung –, und er gehörte zu der Sorte, von der man selten weiterversetzt wurde. Er würde bis an sein Lebensende dort bleiben.

Alle vier oder fünf Wochen beantragte er einen Besuch bei seinen Eltern in AFR.

Im Februar 170 wurde er ihm gewährt.

Er stieg um vier Uhr morgens AFR-Zeit aus und ging in den Wartesaal. Er hielt sich den Ellbogen und machte eine klägliche Miene; sein Tornister hing über seiner linken Schulter. Das Mitglied, das hinter ihm aus dem Flugzeug gestiegen war und ihm geholfen hatte, als er stürzte, hielt für ihn ihr Armband gegen ein Telefon. »Ist dir auch wirklich nichts passiert?«, fragte sie.

»Nein, nein, alles bestens«, sagte er lächelnd. »Ich danke dir. Viel Spaß bei deinem Besuch.« Zum Telefon sagte er: »Anna SG38P2823.« Das Mitglied ging weiter.

Seltsame Muster flackerten über den erleuchteten Bildschirm, während die Verbindung hergestellt wurde, dann verschwanden sie, und die Scheibe blieb finster. Sie ist versetzt worden, dachte er, sie ist in einem anderen Erdteil. Er wartete darauf, dass das Telefon seine Vermutung bestätigte, aber Lilac sagte: »Moment, ich kann jetzt nicht –«, und war da, zum Greifen nahe. Sie setzte sich rückwärts wieder auf die Bettkante, im Schlafanzug, und rieb sich die Augen: »Wer bist du denn?«, fragte sie. Hinter ihr drehte sich ein Mitglied im Bett um. Es war Samstagabend. Oder war sie verheiratet? »Wer?«, fragte sie. Sie sah ihn an und beugte sich blinzelnd vor. Sie war noch schöner. Konnte es solche Augen geben?

»Li RM«, sagte er und zwang sich zu einem höflichen und mitgliedhaften Ton. »Erinnerst du dich nicht? Aus IND 26 110 – damals, 162.«

Ein sekundenschnelles Zusammenziehen der Augenbrauen verriet ihr Unbehagen. »O ja, natürlich«, sagte sie und lächelte. »Natürlich erinnere ich mich. Wie geht es dir, Li?«

»Sehr gut«, sagte er. »Und dir?«

»Ausgezeichnet«, sagte sie und hörte auf zu lächeln.

»Verheiratet?«

»Nein«, sagte sie. »Ich freue mich, dass du angerufen hast, Li. Ich möchte mich bei dir bedanken. Du weißt schon – für deine Hilfe.«

»Danke Uni«, sagte er.

»Nein, nein«, sagte sie. »Ich danke dir. Nachträglich.« Sie lächelte wieder.

»Entschuldige, dass ich um diese Zeit anrufe«, sagte er. »Ich bin auf der Durchreise nach AFR.«

»Das macht nichts«, sagte sie. »Ich freue mich darüber.«

»Wo bist du?«, fragte er.

»In ’14 509.«

»Da lebt meine Schwester.«

»Wirklich?«, sagte sie.

»Ja. In welchem Gebäude bist du?«

»P 51.«

»Sie ist in A irgendwas.«

Das Mitglied hinter ihr setzte sich auf, und sie drehte sich um und sagte etwas zu ihm. Er lächelte Chip zu. Sie drehte sich wieder um und sagte: »Das ist Li XE.«

»Grüß dich«, sagte Chip und dachte dabei ’14 509, P51, ’14 509, P51’. »Grüß dich, Bruder«, sagten die Lippen von Li XE. Seine Stimme erreichte das Telefon nicht.

»Ist etwas mit deinem Arm?«, fragte Lilac.

Er hielt ihn immer noch. Nun ließ er ihn los. »Nein«, sagte er. »Ich bin beim Aussteigen aus dem Flugzeug gefallen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte sie. Sie schaute kurz über ihn hinweg. »Da wartet ein Mitglied«, sagte sie. »Wir verabschieden uns jetzt wohl besser.«

»Ja«, sagte er. »Leb wohl. Es war nett, dich zu sehen. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«

»Du auch nicht«, sagte sie. »Auf Wiedersehen, Chip.« Sie stand auf und langte nach vorne und war verschwunden.

Er drückte den Knopf zur Beendigung des Gesprächs und machte dem Mitglied hinter ihm Platz.

Sie war tot, ein normales, gesundes Mitglied, das sich nun wieder in ’14 509, P51 neben seinen Freund legte. Wie konnte er wagen, mit ihr über Dinge zu sprechen, die weniger normal und gesund waren als sie selbst? Er sollte den Tag mit seinen Eltern verbringen und nach USA zurückfahren und am nächsten Sonntag mit dem Rad losfahren, aber diesmal nicht umkehren.

Er drehte eine Runde durch den Wartesaal. An einer Wand hing eine Karte von AFR. Die größeren Städte und die dünnen orangefarbenen Verbindungslinien zwischen ihnen waren beleuchtet. Im Norden sah er ’14 510. Nicht weit davon lebte sie – einen halben Kontinent entfernt von ’71 330, wo er war. Eine orangefarbene Linie verband die zwei Lichter.

Er beobachtete, wie auf der Anzeigetafel mit dem Flugplan Lichter aufleuchteten, die für Sonntag, 18. Feb, eine Änderung bekannt gaben. Eine Maschine nach ’14 510 startete um 8.20 morgens, vierzig Minuten vor seinem eigenen Flug nach USA 33 100.

Er ging zu der Glasscheibe, durch die das Rollfeld zu überblicken war, und sah zu, wie Mitglieder sich in einer Einerreihe vor der Rolltreppe des Flugzeugs, mit dem er gekommen war, aufstellten. Ein Mitglied in orangerotem Overall erschien und wartete neben dem Raster.

Er drehte sich wieder zum Wartesaal, der fast leer war. Zwei Mitglieder, die mit ihm im Flugzeug gewesen waren, eine Frau mit einem schlafenden Kleinkind im Arm, und ein Mann, der zwei Tornister trug, hielten ihre Handgelenke und das des Babys gegen die Raster an der Tür der Wagenstation – dreimal leuchtete ein grünes Ja auf – und gingen hinaus. Ein Mitglied in orangerotem Overall kniete vor einem Springbrunnen, um unten eine Metallplatte abzuschrauben, ein anderes Mitglied schob im Wartesaal eine Kehrmaschine auf die Seite, berührte einen Raster – ja – und schob die Maschine durch eine Drehtür hinaus.

Er überlegte einen Augenblick, beobachtete dabei das Mitglied, das an dem Springbrunnen hantierte, und durchquerte dann den Wartesaal, berührte den Raster an der Tür zur Wagenstation – ja – und ging hinaus. Ein Wagen nach ’71 334 wartete. Chip berührte den Raster – ja – und stieg ein und entschuldigte sich bei den Mitgliedern, weil er sie hatte warten lassen. Die Tür schloss sich, und der Wagen fuhr an. Er hielt den Tornister auf seinem Schoß und dachte nach.

Als er zur Wohnung seiner Eltern kam, ging er leise hinein, rasierte sich und weckte sie dann. Sie waren erfreut, ja sogar glücklich, ihn zu sehen. Sie unterhielten sich und frühstückten zu dritt und setzten ihr Gespräch fort. Sie beantragten ein Gespräch mit Peace in EUR, und es wurde ihnen gewährt. Sie sprachen mit ihr und ihrem Karl, ihrem zehnjährigen Bob und ihrer achtjährigen Yin. Dann gingen sie, auf Chips Vorschlag hin, ins Museum der Errungenschaften der Familie.

Nach dem Mittagessen schlief er drei Stunden, und dann fuhren sie mit der Bahn zum Vergnügungsgarten. Sein Vater beteiligte sich an einem Volleyballspiel, und er und seine Mutter setzten sich auf eine Bank und sahen zu. »Bist du wieder krank?«, fragte sie.

Er sah sie an. »Nein«, sagte er, »natürlich nicht. Mir geht es ausgezeichnet.«

Sie sah ihn genau an. Sie war jetzt siebenundfünfzig und hatte graue Haare, und ihre bräunliche Haut warf Falten. »Du hast über etwas nachgedacht«, sagte sie. »Den ganzen Tag lang.«

»Ich bin gesund«, sagte er. »Du bist meine Mutter, bitte glaube mir.« Sie sah ihm besorgt in die Augen. »Ich bin gesund«, sagte er.

Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Gut, Chip.«

Plötzlich war er von Liebe zu ihr erfüllt, von Liebe und Dankbarkeit und einem kindlichen Gefühl, mit ihr eins zu sein. Er umfasste ihre Schulter und küsste sie auf die Wange. »Ich liebe dich, Suzu«, sagte er. Sie lachte. »Christus und Wei«, sagte sie, »was für ein Gedächtnis du hast!«

»Weil ich gesund bin«, sagte er. »Vergiss das nicht, ja? Ich bin gesund und glücklich. Ich möchte, dass du das im Gedächtnis behältst«

»Warum?«

»Darum.«

Er erzählte ihnen, dass sein Flugzeug um acht ging. »Wir sagen uns besser an der Wagenstation Adieu«, sagte er. »Auf dem Flughafen wird zu viel Betrieb sein.«

Sein Vater wollte trotzdem mitkommen, aber seine Mutter sagte, nein, sie würden in ’334 bleiben. Sie war müde.

Um halb acht küsste er sie zum Abschied – seinen Vater und dann seine Mutter. Ihr sagte er ins Ohr: »Denke daran«, und dann stellte er sich vor einem Wagen zum Flughafen von ’71 330 an. Der Raster zeigte ein Ja an, als er ihn berührte.

Der Wartesaal war noch belebter, als er gehofft hatte. Mitglieder in Weiß und Gelb und Blassblau, manche mit Tornistern und manche ohne, gingen und standen und saßen herum und warteten in einer Reihe. Ein paar Mitglieder in Orange bewegten sich zwischen ihnen.

Er sah auf die Anzeigetafel: Die Maschine um 8.20 Uhr nach 14 510 würde von Startbahn Zwei abfliegen. Dort bildeten Mitglieder eine Schlange, und ein Flugzeug senkte sich vor einer Rolltreppe, die aus dem Boden auftauchte, auf seinen Platz. Die Tür ging auf, und ein Mitglied kam heraus, hinter ihm noch eines.

Chip drängte sich durch die Menge zu der Flügeltür an der Seite des Saals, berührte zum Schein einen Raster und schob sich hindurch, in ein Depot, wo Kisten und Kartons wie Unis Gedächtnisspeicher unter weißem Licht aufgereiht standen. Er nahm seinen Tornister ab und stopfte ihn zwischen einen Karton und die Wand.

Er ging normal geradeaus. Ein Karren mit Stahlbehältern wurde von einem Mitglied in Orange, das ihn kurz ansah und nickte, vorübergeschoben.

Er nickte zurück, ging weiter und beobachtete, wie das Mitglied seinen Karren durch ein großes offenes Tor auf das von Scheinwerfern erleuchtete Rollfeld hinausschob.

Er ging in die Richtung, aus der das Mitglied gekommen war, auf ein Gelände, wo Mitglieder in Orange Stahlbehälter auf das Rollband einer Waschanlage stellten und andere Behälter aus den Zapfhähnen riesiger Fässer mit Cola und dampfendem Tee füllten. Er ging weiter.

Er berührte zum Schein einen Raster und betrat einen Raum, in dem gewöhnliche Overalls an Kleiderhaken hingen und zwei Mitglieder orangerote Overalls auszogen. »Grüß euch«, sagte er.

»Grüß dich«, sagten die beiden.

Er ging zu einer Schranktür und schob sie auf. Eine Kehrmaschine und Flaschen mit einer grünen Flüssigkeit standen darin. »Wo sind die Ovis?«, fragte er.

»Dort drin«, sagte eines der Mitglieder und deutete mit dem Kopf auf einen anderen Schrank.

Er ging hin und machte ihn auf. Orangerote Overalls lagen auf den Brettern, orangerote Zehenschützer und wuchtige, orangerote Handschuhe.

»Wo kommst du her?«, fragte das Mitglied.

»RUS 50937«, sagte er, während er ein Paar Overalls und ein Paar Zehenschützer nahm. »Wir haben die Ovis dort drin aufbewahrt.«

»Sie sollten aber hier sein«, sagte das Mitglied, das gerade seinen weißen Overall schloss.

»ich war in RUS«, sagte das andere Mitglied, eine Frau. »Ich hatte zwei Posten dort, erst vier Jahre und dann drei.«

Er ließ sich Zeit beim Anlegen der Zehenschützer, sodass er erst damit fertig war, als die zwei Mitglieder ihre orangeroten Overalls in den Abfallschlucker steckten und gingen.

Er streifte den orangeroten Overall über seinen weißen und schloss ihn bis zum Hals. Er war schwerer als ein gewöhnlicher Overall und hatte Extrataschen.

Er sah in andere Schränke und fand einen Schraubenschlüssel und ein Stück gelbes Paplon im richtigen Format.

Er ging dahin zurück, wo er seinen Tornister gelassen hatte, zog ihn hervor und wickelte ihn in das Paplon. Die Flügeltür knallte ihm ins Kreuz. »Entschuldige«, sagte ein hereinkommendes Mitglied. »Habe ich dir wehgetan?«

»Nein«, sagte er und hielt seinen umwickelten Tornister fest.

Das Mitglied im orangeroten Overall ging weiter. Er wartete einen Augenblick und sah ihm nach, dann klemmte er den Tornister unter den linken Arm und zog den Schraubenschlüssel aus der Tasche. Er nahm ihn fest in die rechte Hand, sodass es, so hoffte er wenigstens, natürlich wirkte.

Er folgte dem Mitglied, bog dann ab und ging zu dem Tor, das auf das Rollfeld führte.

Die Rolltreppe an der Seite des Flugzeugs auf Bahn Zwei war leer. Ein Karren, vermutlich der von vorhin, stand vor der ersten Stufe, neben dem Raster.

Eine weitere Rolltreppe versank gerade im Boden, und das Flugzeug, zu dem sie geführt hatte, war auf dem Weg zur Startbahn. Er erinnerte sich, dass um 8.10 Uhr ein Flug nach CHI abging.

Er kauerte sich auf ein Knie nieder, legte seinen Tornister und den Schraubenschlüssel auf den Beton und tat, als habe er Schwierigkeiten mit seinem Zehenschutz. Jedermann im Wartesaal würde auf das Flugzeug nach CHI schauen, wenn es abhob; in diesem Moment würde er auf die Rolltreppe treten. Orangerote Beine eilten raschelnd an ihm vorbei – ein Mitglied, das auf die Hangars zuging. Er nahm seinen Zehenschutz ab und legte ihn wieder an und beobachtete dabei, wie das Flugzeug sich drehte ...

Es schoss nach vorn. Er hob seinen Tornister und den Schraubenschlüssel auf und ging ganz normal. Die Helligkeit der Scheinwerfer machte ihn nervös, aber er sagte sich, dass niemand ihn beobachtete, weil alle auf das Flugzeug blickten. Er ging auf die Rolltreppe zu, berührte zum Schein den Raster – der Karren neben ihm kam gerade gelegen, da er seine Ungeschicklichkeit rechtfertigte – und trat auf die nach oben führende Treppe. Während er schnell der offenen Tür des Flugzeugs entgegenfuhr, umklammerte er seinen in Paplon gewickelten Tornister und den Schraubenschlüssel, der am Griff schon feucht geworden war. Er trat von der Rolltreppe herunter in das Flugzeug.

Zwei Mitglieder in Orange machten sich an der Kuchen- und Getränkeausgabe zu schaffen. Sie sahen ihn an, und er nickte. Sie nickten zurück. Er ging durch den Mittelgang zur Toilette.

Dort ließ er die Tür offen und stellte seinen Tornister auf den Boden. Er wandte sich zu einem Waschbecken, drehte an den Hähnen und beklopfte sie mit dem Schraubenschlüssel. Dann ging er in die Knie und beklopfte das Abflussrohr. Er öffnete den Schraubenschlüssel und nahm das Rohr in die Zange.

Er hörte, wie die Rolltreppe angehalten und wieder in Bewegung gesetzt wurde. Er beugte sich vor und schaute zur Tür hinaus. Die Mitglieder waren weg.

Er legte den Schraubenschlüssel weg, stand auf, schloss die Tür und machte den orangeroten Overall auf. Er zog ihn aus, faltete ihn der Länge nach und rollte ihn, so fest er konnte, zu einem Bündel. Kniend wickelte er seinen Tornister aus und öffnete ihn. Er quetschte den Overall hinein und faltete das gelbe Paplon-Stück und stopfte es ebenfalls hinein. Er streifte die Zehenschützer von seinen Sandalen, steckte sie ineinander und drückte sie in eine Ecke des Tornisters. Dann legte er den Schraubenschlüssel hinein, zog die Klappe glatt und drückte den Tornister zu.

Den Tornister über die Schulter gehängt, wusch er sich die Hände und das Gesicht mit kaltem Wasser. Sein Herz schlug rasch, aber er fühlte sich frisch, erregt und lebendig. Er betrachtete sein Gesicht mit dem einen grünen Auge im Spiegel. Kampf Uni!

Er hörte die Stimmen der an Bord kommenden Mitglieder. Er blieb vor dem Waschbecken stehen, wischte sich die beinahe trockenen Hände ab.

Die Tür ging auf, und ein Junge von etwa zehn Jahren kam herein.

»Grüß dich«, sagte Chip, der sich immer noch die Hände abtrocknete. »Hast du einen schönen Tag erlebt?«

»Ja«, sagte der Junge.

Chip warf das Handtuch in den Müllschlucker. »Zum ersten Mal geflogen?«

»Nein!«, sagte der Junge, der seinen Overall aufmachte. »Schon oft!« Er setzte sich auf eine der Toiletten.

»Na, wir sehen uns drinnen wieder«, sagte Chip und ging hinaus.

Das Flugzeug war ungefähr zu einem Drittel besetzt, und weitere Mitglieder kamen herein. Er setzte sich am Mittelgang auf den ersten leeren Platz, sah noch einmal nach, ob sein Tornister sicher verschlossen war, und verstaute ihn unter dem Sitz. Bei der Ankunft würde es genauso sein. Wenn alle aus dem Flugzeug stiegen, würde er auf die Toilette gehen und seinen orangeroten Overall anziehen. Er würde sich am Abfluss zu schaffen machen, wenn die Mitglieder mit den Auffüllbehältern an Bord kamen, und nach ihnen aussteigen. Auf dem Lagergelände würde er hinter einer Kiste oder in einem Schrank seinen Overall, die Zehenschützer und den Schraubenschlüssel verschwinden lassen und dann die Raster am Flughafen überlisten und zu Fuß nach ’14 509 gehen. Es lag acht Kilometer östlich von ’510; er hatte heute Morgen auf der Karte im MEF nachgesehen. Mit einigem Glück konnte er um Mitternacht oder eine halbe Stunde später dort sein.

»Ist das nicht komisch«, sagte das Mitglied neben ihm.

Er drehte sich zu ihr um.

Sie sah zum Heck des Flugzeugs. »Dieses Mitglied hat keinen Platz«, sagte sie.

Ein Mitglied kam langsam den Mittelgang herauf, immer erst nach links und dann nach rechts blickend. Alle Plätze waren besetzt. Mitglieder sahen sich um und versuchten, ihm behilflich zu sein.

»Es muss einer da sein«, sagte Chip, indem er aufstand und sich umblickte. »Uni kann doch keinen Fehler gemacht haben.«

»Es ist aber kein Platz frei«, sagte das Mitglied neben ihm. »Es ist alles besetzt.«

Die Gespräche im Flugzeug wurden lauter. Es gab tatsächlich keinen Platz für das Mitglied. Eine Frau nahm ein Kind auf den Schoß und rief den Mann zu sich.

Das Flugzeug begann sich zu bewegen, und eine Sendung über AFR’s Geografie und Bodenschätze erschien auf den Fernsehschirmen.

Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, weil sie vielleicht nützliche Informationen enthielt, aber er konnte es nicht. Wenn man ihn jetzt entdeckte und behandelte, würde er nie mehr lebendig werden. Diesmal würde Uni dafür sorgen, dass er nicht einmal in tausend Blättern auf tausend nassen Steinen eine Bedeutung sah.

Er kam zwanzig Minuten nach Mitternacht in ’14 509 an. Er war hellwach, immer noch auf USA-Zeit eingestellt und voller Energie.

Zuerst ging er zum vV und dann zu der Fahrradstation auf dem Platz, der am nächsten bei Gebäude P 51 lag. Er unternahm zwei Fahrten zur Fahrradstation und eine zum Speisesaal und dem Versorgungszentrum von P 51.

Um drei Uhr betrat er Lilacs Zimmer. Er betrachtete sie im Schein der Taschenlampe, während sie schlief – blickte auf ihre Wangen, ihren Hals, ihr dunkles Haar auf dem Kissen –, und dann ging er zum Schreibtisch und knipste die Lampe an. »Anna«, sagte er, am Fußende des Bettes stehend. »Anna, du musst jetzt aufstehen.«

Sie murmelte etwas.

»Du musst jetzt aufstehen, Anna«, sagte er. »Komm, steh auf!«

Mit kleinen Klagelauten richtete sie sich auf, eine Hand über die Augen gelegt. Als sie saß, nahm sie die Hand weg und starrte ihn an, erkannte ihn und erschrak.

»Ich möchte, dass du mit mir wegfährst«, sagte er. »Auf dem Fahrrad. Du darfst nicht laut sprechen und nicht um Hilfe rufen.« Er fasste in seine Tasche und zog eine Pistole hervor. Er hielt sie, wie es seiner Vermutung nach richtig war – den Zeigefinger am Abzug, die anderen Finger um den Griff gelegt, die Mündung auf ihr Gesicht gerichtet. »Ich bringe dich um, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Schrei jetzt nicht, Anna!«