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Sie starrte auf die Pistole und starrte ihn an.

»Der Generator ist schwach«, sagte er, »aber er hat ein zentimetertiefes Loch in die Wand des Museums geschossen, und das Loch in deinem Kopf wird noch tiefer sein. Also ist es am besten, wenn du mir gehorchst. Es tut mir leid, dass ich dich erschrecken muss, aber zum Schluss wirst du verstehen, warum ich es tue.«

»Das ist ja Wahnsinn!«, sagte sie. »Du bist immer noch krank!«

»Ja«, sagte er, »und die Krankheit ist schlimmer geworden. Also tu, was ich sage, oder die Familie verliert zwei wertvolle Mitglieder: erst dich und dann mich.«

»Wie kannst du so etwas tun, Li?«, sagte sie. »Mich bedrohen – mit einer Waffe in der Hand!«

»Steh auf und zieh dich an«, sagte er.

»Bitte, lass mich tele –«

»Zieh dich an!«, sagte er. »Schnell!«

»Also gut«, sagte sie und schlug die Decke zur Seite. »Gut, ich tue alles, was du sagst.« Sie stand auf und öffnete ihren Schlafanzug.

Er trat einen Schritt zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Pistole war immer noch auf sie gerichtet.

Sie zog den Schlafanzug aus, ließ ihn fallen und ging zum Regal, um sich einen Overall zu holen. Er betrachtete ihre Brüste und ihren ganzen Körper, an dem er ebenfalls feine Abweichungen von der Norm entdeckte – die Pobacken waren voller, die Schenkel runder. Wie schön sie war!

Sie stieg in den Overall und steckte die Arme in die Ärmel. »Li, ich bitte dich«, sagte sie und sah ihn an, »lass uns ins Medizentrum hinuntergehen und –«

»Du sollst nicht sprechen«, sagte er.

Sie schloss den Overall und streifte die Sandalen über die Füße. »Warum willst du Rad fahren?«, sagte sie. »Es ist doch mitten in der Nacht.«

»Pack deinen Tornister«, sagte er.

»Den für die Reise?«

»Ja. Tu noch ein paar Ovis hinein und dein Verbandskästchen und deine Schere und alles, was dir wichtig ist und was du behalten willst. Hast du eine Taschenlampe?«

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Pack deinen Tornister«, sagte er.

Sie packte den Tornister, und als sie ihn geschlossen hatte, nahm er ihn und hängte ihn über die Schulter. »Wir gehen hinten um das Gebäude herum«, sagte er. »Ich habe zwei Fahrräder dabei. Wir gehen nebeneinander, und ich habe die Pistole in der Tasche. Wenn wir an einem Mitglied vorbeikommen und du irgendein Zeichen gibst, dass etwas nicht in Ordnung ist, bringe ich dich und das Mitglied um, verstehst du?«

»Ja«, sagte sie.

»Du musst mir unbedingt gehorchen. Wenn ich sage, bleib stehen und rücke deine Sandale zurecht, dann tust du es. Wir werden Raster passieren, ohne sie zu berühren. Das hast du schon früher getan; jetzt tust du es wieder.«

»Kommen wir nicht mehr hierher zurück?«, sagte sie.

»Nein. Wir gehen weit weg.«

»Dann möchte ich noch ein Foto mitnehmen.«

»Hol es«, sagte er. »Ich habe dir gesagt, du sollst alles mitnehmen, was du behalten willst.«

Sie ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und stöberte darin herum. Ein Foto von King?, fragte er sich. Nein, King gehörte zu ihrer »Krankheit«. Vermutlich suchte sie eine Aufnahme von ihrer Familie. »Es ist irgendwo hier drin«, sagte sie nervös, in einem falschen Ton. Er stürzte zu ihr und stieß sie zur Seite. Li RM Pistole 2 Fahrräder stand auf dem Boden der Schublade. Ein Bleistift war in ihrer Hand. »Ich versuche dir zu helfen«, sagte sie.

Er hätte sie am liebsten geschlagen, beherrschte sich jedoch. Aber sich zu beherrschen, wäre ein Fehler, denn dann wüsste sie, dass er ihr nicht wehtun würde. Er holte mit der flachen Hand aus und schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht. »Versuch nicht, mich reinzulegen!«, sagte er. »Begreifst du nicht, wie krank ich bin? Wenn du so etwas noch einmal machst, bist du eine Leiche, und ein Dutzend andere Mitglieder vielleicht auch!«

Sie starrte ihn zitternd und mit weit aufgerissenen Augen an und hielt sich die Backe.

Auch er zitterte, weil er wusste, dass er ihr wehgetan hatte. Er entriss ihr den Bleistift, strich das Geschriebene kreuz und quer durch und legte Papier und ein NN-Verzeichnis darauf. Er warf den Bleistift in die Schublade und schloss sie, packte Lilac am Ellbogen und schob sie auf die Tür zu.

Sie verließen ihr Zimmer und gingen nebeneinander den Flur hinunter. Er nahm die Hand nicht aus der Tasche und hielt die Pistole fest. »Hör auf zu zittern«, sagte er. »Ich tue dir nichts, wenn du mir gehorchst.« Sie fuhren mit der Rolltreppe nach unten. Zwei Mitglieder, die nach oben wollten, kamen ihnen entgegen. »Du und die zwei«, sagte er. »Und alle anderen, die aufkreuzen.«

Sie sagte nichts.

Er lächelte den Mitgliedern zu.

Sie lächelten zurück. Er nickte.

»Das ist meine zweite Versetzung in diesem Jahr«, sagte er zu ihr.

Sie fuhren weitere Rolltreppen hinunter und betraten die letzte, die zur Eingangshalle führte. Drei Mitglieder, zwei davon mit Telecomps, unterhielten sich neben dem Raster an einer der Türen. »Jetzt keine Mätzchen«, sagte er.

Sie glitten abwärts. Dunkles Glas spiegelte in der Entfernung ihre Umrisse wider. Die Mitglieder sprachen immer noch miteinander. Eines von ihnen stellte sein Telecomp auf den Boden.

Sie traten von der Rolltreppe. »Warte eine Minute, Anna«, sagte er. Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. »Mir ist eine Wimper ins Auge gefallen«, sagte er. »Hast du ein Papiertaschentuch?«

Sie griff in ihre Tasche und schüttelte den Kopf.

Er fand eines unter der Pistole und zog es hervor und gab es ihr. Er stand direkt gegenüber von den Mitgliedern und hielt sein Auge weit auf. Die andere Hand hatte er wieder in die Tasche gesteckt. Lilac führte das Tuch an sein Auge. Sie zitterte immer noch. »Es ist nur eine Wimper«, sagte er. »Kein Grund zur Aufregung.« Hinter ihr hatte das Mitglied sein Telecomp aufgehoben, und die drei schüttelten sich die Hände und küssten sich. Die zwei mit den Telecomps berührten den Raster. Ja, blinkte er, ja. Sie gingen hinaus. Das dritte Mitglied, ein Mann zwischen zwanzig und dreißig, kam auf sie zu.

Chip schob Lilacs Hand weg. »Schon geschehen«, sagte er blinzelnd. »Danke, Schwester.«

»Kann ich behilflich sein?«, fragte das Mitglied. »Ich bin ein 101er.«

»Nein, danke, es war nur eine Wimper«, sagte Chip. Lilac bewegte sich. Chip sah sie an. Sie steckte das Tuch in die Tasche.

Mit einem Blick auf den Tornister sagte das Mitglied: »Gute Reise wünsche ich.«

»Danke«, sagte Chip. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Lilac.

Sie gingen auf die Tür zu und sahen im Glas das Spiegelbild des Mitglieds, das auf eine nach oben führende Rolltreppe trat. »Ich werde mich neben den Raster lehnen«, sagte Chip. »Berühre ihn an der Seite, nicht vorne.«

Sie gingen hinaus. »Bitte, Li«, sagte Lilac, »um der Familie willen, lass uns umkehren und ins Medizentrum gehen.«

»Sei still«, sagte er.

Sie bogen in den Verbindungsgang zwischen dem Gebäude und dem nächsten ein. Hier wurde es noch dunkler, und er zog seine Taschenlampe hervor.

»Was hast du mit mir vor?«, fragte sie.

»Nichts, wenn du nicht wieder versuchst, mich hereinzulegen.«

»Wozu brauchst du mich dann?«, fragte sie.

Er gab keine Antwort.

Wo sich die Wege hinter den Gebäuden kreuzten, war ein Raster. Lilacs Hand zuckte hoch, aber Chip sagte: »Nein!« Sie gingen vorbei, ohne zu berühren, und Lilac gab einen verzweifelten Laut von sich und flüsterte tonlos: »Schrecklich.«

Die Fahrräder lehnten an der Mauer, wo er sie zurückgelassen hatte. Sein in eine Decke gewickelter Tornister voll Kuchen und Getränkebehältern steckte in einer Satteltasche; über die des anderen Fahrrads war eine Decke gelegt. Er steckte Lilacs Tornister in die Tasche und verknotete die Decke sorgfältig.

Er hielt das Fahrrad für sie gerade und sagte: »Steig auf!«

Sie stieg auf und hielt sich an der Lenkstange fest.

»Wir fahren zwischen den Gebäuden hindurch geradeaus zur East Road«, sagte er. »Du darfst nicht umkehren oder anhalten oder schneller fahren, wenn ich es nicht sage.«

Er setzte sich auf das andere Fahrrad. Er steckte die Taschenlampe in die Satteltasche, sodass das Licht durch die Löcher auf das Pflaster vor ihnen fiel. »So, jetzt geht’s los«, sagte er.

Sie radelten nebeneinander durch die gerade, stockdunkle Gasse; nur zwischen den Gebäuden war es etwas weniger finster; hoch oben leuchtete ein schmaler Streifen von Sternen, und weit in der Ferne eine vereinzelte Gehweglampe.

»Leg ein bisschen Tempo zu«, sagte er.

Sie fuhren schneller.

»Wann ist deine nächste Behandlung fällig?«, fragte er.

Sie schwieg, dann sagte sie: »Am 8. Marx.«

In zwei Wochen, dachte er. Christus und Wei, warum nicht morgen oder übermorgen? Immerhin, besser als vier Wochen. Es hätte schlimmer kommen können.

»Werde ich sie denn erhalten?«, fragte sie.

Es hatte keinen Sinn, sie noch mehr zu erschrecken.

»Vielleicht«, sagte er. »Wir werden sehen.«

Er hatte vorgehabt, jeden Tag während der Freistunde, wenn Radfahrer nicht auffielen, eine kurze Strecke zurückzulegen. Sie würden durch eine oder zwei Städte von Park zu Park fahren und den Weg nach ’12 082, wo die Entfernung zwischen der Nordküste von AFR und Mallorca am geringsten war, in kurzen Etappen hinter sich bringen.

Am ersten Tag, im Parkgelände nördlich von ’14 509, änderte er jedoch seinen Plan. Ein Versteck zu finden war schwieriger, als er geglaubt hatte. Erst lange nach Sonnenuntergang – um acht Uhr etwa, nahm er an – lagen sie unter einem Felsvorsprung, verborgen hinter einem Dickicht junger Bäume; die Lücken hatte er mit abgeschnittenen Zweigen verstopft. Bald darauf hörten sie das Brummen eines Hubschraubers, der über sie hinwegflog und wieder zurückkam, während Chip die Pistole auf Lilac gerichtet hielt, die regungslos, mit einem halb aufgegessenen Kuchen in der Hand, dasaß und ihn anstarrte. Um Mittag hörten sie Zweige krachen und Blätter rascheln und dann, kaum zwanzig Meter von ihnen entfernt, eine Stimme; was sie sagte, war nicht zu verstehen, denn sie sprach langsam und leise, wie am Telefon oder vor einem Telecomp mit Stimmen-Input.

Entweder war Lilacs Botschaft unter der Schreibtischschublade entdeckt worden oder – und das war wahrscheinlicher – Uni hatte ihr Verschwinden mit den zwei fehlenden Fahrrädern in Verbindung gebracht. Also änderte Chip seinen Plan und beschloss, da man sie gesucht und nicht gefunden hatte, die ganze Woche hierzubleiben und am Sonntag zu fahren. Sie würden eine Etappe von sechzig oder siebzig Kilometer zurücklegen – nicht direkt nach Norden, sondern nach Nordosten – und sich dann wieder eine Woche verstecken. An vier oder fünf Sonntagen würden sie in einem Bogen nach ’12 082 gelangen und jeden Sonntag wäre Lilac mehr sie selbst und weniger Anna SG und damit hilfsbereiter oder doch wenigstens nicht mehr so erpicht, ihm »Hilfe« zukommen zu lassen.

Jetzt jedoch war sie Anna SG. Er fesselte und knebelte sie mit Leintuchstreifen und schlief bis Sonnenuntergang, die Pistole immer griffbereit. Mitten in der Nacht fesselte und knebelte er sie von Neuem und trug sein Fahrrad davon. Ein paar Stunden später kam er zurück und brachte Kuchen und Getränke mit und zwei weitere Bettlaken, Handtücher und Toilettenpapier, eine »Armbanduhr«, die schon nicht mehr tickte, und zwei Français-Bücher. Sie lag, wo er sie verlassen hatte, und wachte; ihre Augen waren von Angst und Mitleid erfüllt. Als Gefangene eines kranken Mitglieds erduldete sie seine Missetaten mit Nachsicht.

Aber im Tageslicht sah sie ihn voll Abscheu an. Er fasste sich an die Backe und spürte zwei Tage alte Bartstoppeln. Lächelnd und leicht verlegen sagte er: »Ich habe seit fast einem Jahr keine Behandlung mehr bekommen.«

Sie senkte den Kopf und bedeckte die Augen. »Du hast dich in ein Tier verwandelt«, sagte sie. »Das sind wir in Wirklichkeit auch«, sagte er. »Christus, Marx, Wood und Wei haben etwas Totes, Unnatürliches aus uns gemacht.«

Sie wandte sich ab, als er mit dem Rasieren anfing, aber sie warf einen Blick über die Schulter, dann noch einmal, drehte sich um und sah ihm angewidert zu. »Schneidest du dich nicht in die Haut?«, fragte sie.

»Im Anfang ist es mir schon passiert«, sagte er, indem er seine Haut straff anspannte und das Rasiermesser sanft darübergleiten ließ; er verfolgte seine Bewegungen in der spiegelnden Seitenfläche der Taschenlampe, die er auf einen Stein gestellt hatte. »Ich musste mir tagelang die Hand vors Gesicht halten.«

»Nimmst du immer Tee dazu?«, fragte sie.

Er lachte. »Nein. Das ist nur Ersatz für Wasser. Heute Nacht werde ich einen Teich oder einen Bach suchen.«

»Wie oft machst du – das?«, fragte sie.

»Jeden Tag. Gestern bin ich nicht dazu gekommen. Es ist lästig, aber in ein paar Wochen ist ja Schluss damit. Das hoffe ich wenigstens.«

»Wie meinst du das?«, sagte sie.

Er gab keine Antwort und rasierte sich weiter.

Sie wandte sich ab.

Er las eines der Français-Bücher, über die Gründe eines Kriegs, der dreißig Jahre gedauert hatte. Lilac schlief, und nachher setzte sie sich auf eine Decke und schaute auf ihn und die Bäume und den Himmel. »Möchtest du, dass ich dir diese Sprache beibringe?«, fragte er.

»Wozu?«

»Du wolltest sie einmal lernen«, sagte er. »Erinnerst du dich? Ich habe dir Listen mit Vokabeln gegeben.«

»Ja«, sagte sie. »Ich erinnere mich. Ich habe sie gelernt, aber wieder vergessen. Jetzt bin ich gesund. Wozu sollte ich sie also lernen wollen?« Er machte Freiübungen und hielt Lilac auch dazu an. Schließlich mussten sie für die lange Fahrt am Samstag in Form sein. Sie befolgte seine Anweisungen ohne Widerspruch.

In der Nacht fand er zwar keinen Bach, aber einen etwa zwei Meter breiten, ausbetonierten Bewässerungskanal. Er nahm ein Bad in dem langsam fließenden Wasser, dann trug er zwei gefüllte Trinkgefäße in das Versteck und weckte Lilac und band sie los. Er führte sie durch die Bäume und sah ihr beim Baden zu. Ihr nasser Körper schimmerte im schwachen Licht des Viertelmondes.

Er half ihr die Böschung hinauf, reichte ihr ein Handtuch und blieb dicht bei ihr stehen, während sie sich abtrocknete. »Weißt du, warum ich das tue?«, fragte er sie.

Sie sah ihn an.

»Weil ich dich liebe«, sagte er.

»Dann lass mich gehen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wie kannst du dann sagen, du liebst mich?«

»Es ist so«, sagte er.

Sie bückte sich, um ihre Beine abzutrocknen. »Willst du, dass ich wieder krank werde?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er.

»Dann hasst du mich«, sagte sie, »und liebst mich nicht.«

Sie richtete sich ganz gerade auf.

Er nahm ihren kühlen, feuchten, weichen Arm. »Lilac«, sagte er.

»Anna!«

Er versuchte ihre Lippen zu küssen, aber sie wandte den Kopf ab und entzog sich ihm. Er küsste ihre Wange.

»Jetzt richte deine Pistole auf mich und ›vergewaltige‹ mich«, sagte sie. »Das werde ich nicht tun«, sagte er. Er ließ ihren Arm los.

»Ich weiß nicht, warum du darauf verzichtest«, sagte sie. Sie stieg in ihren Overall und schloss ihn mit ungeschickten Fingern. »Bitte, Li«, sagte sie, »lass uns zurück in die Stadt gehen. Ich bin sicher, dass du geheilt werden kannst, denn wenn du wirklich krank, unheilbar krank wärst, würdest du mich ›vergewaltigen‹ und wärst längst nicht so nett.«

»Komm«, sagte er, »gehen wir zurück zu dem Platz.«

»Bitte Li –«

»Chip«, sagte er. »Mein Name ist Chip. Komm jetzt.« Er machte eine heftige Kopfbewegung, und sie schritten zwischen den Bäumen hindurch.

Gegen Ende der Woche nahm sie seinen Bleistift und das Buch, das er nicht las, und zeichnete Bilder auf die Innenseite des Deckels – fast ähnliche Porträts von Christus und Wei, verschiedene Gebäude, ihre linke Hand und eine Reihe schraffierter Kreuze und Sicheln. Er passte auf, dass sie keine Botschaften schrieb, die sie vielleicht am Sonntag jemandem geben könnte. Später zeichnete er ein Gebäude und zeigte es ihr.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Gebäude.«

»Nein, das ist keines.«

»Doch«, sagte er. »Sie müssen nicht alle kahl und rechteckig sein.«

»Was sind das für Ovale?«

»Fenster.«

»Ich habe noch nie so ein Gebäude gesehen«, sagte sie. »Nicht einmal im vV-Museum. Wo steht es?«

»Nirgends«, sagte er. »Ich habe es mir ausgedacht.«

»Ach so«, sagte sie. »Dann ist es kein Gebäude. Wie kannst du Dinge zeichnen, die nicht wirklich sind?«

»Ich bin krank, vergisst du das etwa?«, sagte er.

Sie gab ihm das Buch zurück, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Mach keine Witze darüber«, sagte sie.

Er hoffte – nun, er hoffte es nicht, hielt es aber auch nicht für ganz ausgeschlossen –, dass sie sich am Samstagabend, aus Gewohnheit oder zum Vergnügen oder auch nur aus mitgliedhafter Freundlichkeit, bereit zeigen würde, zu ihm zu kommen. Es geschah jedoch nicht. Sie verhielt sich wie an jedem anderen Abend, saß, die Arme um die Knie geschlungen, schweigend in der Dämmerung und beobachtete, wie der Streifen Himmel zwischen den schwankenden Wipfeln der Bäume und dem schwarzen Felsvorsprung sich allmählich rötete.

»Es ist Samstagnacht«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte sie.

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Ich werde meine Behandlung nicht bekommen können, nicht wahr?«

»Nein«, sagte er.

»Dann könnte ich schwanger werden«, sagte sie. »Ich darf keine Kinder bekommen und du auch nicht.«

Er wünschte, er könnte ihr sagen, dass sie auf dem Weg zu einem Ort waren, wo Unis Beschlüsse keine Bedeutung besaßen; aber es war noch zu früh – vielleicht hätte sie Angst bekommen und wäre nicht mehr zu bändigen gewesen. »Ja, vermutlich hast du recht«, sagte er.

Als er sie fesselte und zudeckte, küsste er sie auf die Wange. Sie lag schweigend in der Dunkelheit, und er erhob sich von seinen Knien und ging zu seiner eigenen Decke hinüber.

Die Fahrt am Sonntag verlief gut. Morgens waren sie von einer Gruppe junger Mitglieder angehalten worden, die sie aber nur baten, ihnen beim Reparieren einer gerissenen Fahrradkette zu helfen. Lilac setzte sich ins Gras, während Chip den Schaden behob. Bei Sonnenuntergang befanden sie sich in dem Parkgelände nördlich von ’14 265, hatten also ungefähr fünfundsiebzig Kilometer zurückgelegt.

Wieder war es schwierig, ein Versteck zu finden, aber endlich entdeckte Chip doch eines, das sogar geräumiger und bequemer war als das erste – die Ruine eines Hauses aus der Zeit kurz vor oder nach der Vereinigung, mit einem schwankenden Dach aus wildem Wein und Kletterrosen.

Trotz der Strapazen des Tages ging Chip noch in derselben Nacht nach ’266 und holte Kuchen und Getränke für drei Tage.

In dieser Woche wurde Lilac gereizt. »Ich will mir die Zähne putzen«, sagte sie, »und unter die Dusche gehen. Wie lange sollen wir so weiterleben? Für immer? Dir gefällt es vielleicht, wie ein Tier zu leben, aber mir nicht. Ich bin ein menschliches Wesen, und ich kann nicht schlafen, wenn ich an Händen und Füßen gefesselt bin.«

»Letzte Woche hast du gut geschlafen«, sagte er.

»Jetzt kann ich aber nicht!«

»Dann lieg still und lass mich schlafen!«, sagte er.

Der Blick, den sie ihm zuwarf, verriet nicht mehr Mitleid, sondern Ärger. Sie stieß missbilligende Laute aus, wenn er las und sich rasierte, und antwortete ihm schnippisch oder überhaupt nicht, wenn er mit ihr sprach. Sie sträubte sich gegen die Freiübungen, und er musste die Pistole ziehen und ihr drohen.

Er sagte sich, dass der achte Marx, ihr Behandlungstag, näher rückte und diese Reizbarkeit als Folge einer natürlichen Abneigung gegen Gefangenschaft und widrige Lebensbedingungen die gesunde Lilac erkennen ließ, die in Anna SG schlummerte. Dieser Wandel hätte ihn freuen müssen, und wenn er darüber nachdachte, war er auch froh, aber Lilacs neue Haltung machte ihm das Leben doch viel schwerer als ihr Mitgefühl und ihre mitgliedhafte Sanftmut in der Woche zuvor.

Sie klagte über Insekten und Langeweile. Eine Regennacht kam, und sie beklagte sich über den Regen.

Eines Nachts wachte Chip auf und hörte, dass sie sich bewegte. Er strahlte sie mit der Taschenlampe an und sah, dass sie ihre Handgelenke befreit hatte und gerade ihre Fußfesseln löste. Er fesselte sie von Neuem und schlug sie.

Diesen Samstag sprachen sie nachts nicht miteinander.

Am Sonntag fuhren sie weiter. Chip blieb dicht an ihrer Seite und ließ sie nicht aus den Augen, wenn ihnen Mitglieder entgegenkamen. Er erinnerte sie daran, dass sie lächeln, nicken, Grüße erwidern und sich benehmen musste, als wäre alles in Ordnung. Sie saß in grimmigem Schweigen auf ihrem Fahrrad, und er fürchtete jeden Augenblick, sie würde, trotz der drohenden Pistole, um Hilfe rufen oder anhalten und nicht mehr weiterfahren. »Nicht nur dich«, sagte er, »sondern alle, die zu sehen sind. Ich bringe sie alle um, das schwöre ich dir.« Sie fuhr weiter, lächelte und nickte böse. Chips Gangschaltung verklemmte sich, und sie schafften nur vierzig Kilometer.

Gegen Ende der dritten Woche ließ Lilacs Reizbarkeit nach. Sie saß da, runzelte die Stirn, zupfte an Grashalmen, betrachtete ihre Fingerspitzen und drehte unaufhörlich ihr Armband ums Handgelenk. Sie sah Chip neugierig an, als wäre er ein Fremder, den sie noch nie gesehen hatte, und befolgte seine Anweisungen langsam und mechanisch.

Er kümmerte sich um sein Fahrrad. Sie sollte von selbst erwachen, wenn die Zeit dafür gekommen war.

Eines Abends in der vierten Woche sagte sie: »Wohin gehen wir?«

Er sah sie kurz an – sie aßen gerade den letzten Kuchen für diesen Tag – und sagte: »Auf eine Insel, die Mallorca heißt. Im Meer des Ewigen Friedens.«

»Mallorca?«, sagte sie.

»Eine Insel der Unheilbaren«, sagte er. »Es gibt noch sieben andere, über die ganze Welt verteilt. Eigentlich mehr als sieben, denn einige davon sind Inselgruppen. Ich habe sie auf der Landkarte im Museum in IND gefunden. Sie waren überklebt und sind auf MEF-Karten nicht verzeichnet. Ich wollte dir am Tag meiner ›Heilung‹ davon erzählen.« Sie schwieg. Dann frage sie: »Hast du es King erzählt?«

Es war das erste Mal, dass sie ihn erwähnte. Sollte er ihr sagen, dass es gar nicht nötig gewesen war, King etwas zu erzählen, weil er es immer gewusst und ihnen verschwiegen hatte? Wozu? King war tot. Warum sollte er ihre Erinnerung an ihn schmälern? »Ja«, sagte er. »Er war sehr erstaunt und aufgebracht. Ich verstehe nicht, warum er – es getan hat. Du weißt davon, nicht wahr?«

»Ja, ich weiß es«, sagte sie. Sie biss ein Stückchen von dem Kuchen ab und aß es langsam, ohne Chip anzusehen. »Wie leben die Leute auf dieser Insel?«, fragte sie.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht ist es ein sehr hartes, primitives Leben. Aber trotzdem besser als hier.« Er lächelte. »Wie es auch sein mag«, sagte er, »es ist ein freies Leben. Es könnte auch hochzivilisiert zugehen. Die ersten Unheilbaren müssen die unabhängigsten und findigsten Mitglieder gewesen sein.«

»Ich weiß nicht recht, ob ich dorthin gehen will«, sagte sie.

»Überlege es dir ruhig«, sagte er. »In ein paar Tagen wirst du sicher sein. Die Idee, dass Unheilbaren-Kolonien existieren könnten, stammte von dir, weißt du noch? Du hast mich gebeten, nach ihnen zu suchen.«

Sie nickte. »Ich erinnere mich.«

Später in der Woche nahm sie ein neues Français-Buch, das er gefunden hatte, und versuchte es zu lesen. Er setzte sich neben sie und übersetzte es für sie.

An diesem Sonntag tauchte links neben Chip ein Mitglied auf und blieb auf ihrer Höhe, als sie dahinfuhren. »Grüß euch«, sagte er.

»Grüß dich«, sage Chip.

»Ich dachte, die alten Fahrräder seien alle ausrangiert worden«, sagte er.

»Dachte ich auch«, sagte Chip, »aber andere waren nicht da.«

Das Fahrrad des Mitglieds hatte ein schmäleres Gestell und eine Gangschaltung, die mit dem Daumen zu bedienen war. »In ’935?«, fragte er.

»Nein, ’939«, sagte Chip.

»Ach so«, sagte das Mitglied. Er schaute auf ihre Satteltaschen mit den eingewickelten Tornistern.

»Wir halten uns besser ein bisschen ran«, sagte Lilac. »Die anderen sind schon nicht mehr zu sehen.«

»Die warten auf uns«, sagte Chip. »Sie müssen ja, weil wir die Kuchen und die Decken haben.«

Das Mitglied lächelte.

»Nein, komm, wir fahren schneller«, sagte Lilac. »Es ist nicht fair, dass wir sie warten lassen.«

»Na gut«, sagte Chip, und zu dem Mitglied: »Schönen Tag noch!«

»Euch auch«, sagte er.

Sie traten kräftiger in die Pedale und schossen davon.

»Gute Idee von dir«, sagte Chip. »Er hätte gleich gefragt, warum wir so viel Gepäck haben.«

Lilac sagte nichts.

An diesem Tag schafften sie etwa achtzig Kilometer und erreichten das Parkgebiet nördlich von ’12471, eine Tagesfahrt von ’082 entfernt. Sie fanden ein recht gutes Versteck, eine dreieckige Grotte unter überhängenden Bäumen zwischen hohen Felszacken. Chip schnitt Zweige ab, um die offene Vorderseite zu verdecken.

»Du brauchst mich nicht mehr zu fesseln«, sagte Lilac. »Ich werde nicht weglaufen und nicht versuchen, jemand auf uns aufmerksam zu machen. Du kannst die Pistole in deinen Tornister stecken.«

»Du willst mitgehen?«, fragte Chip. »Nach Mallorca?«

»Natürlich«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten. Das habe ich mir immer gewünscht – als ich ich selbst war, meine ich.«

»Gut«, sagte er. Er steckte die Pistole in seinen Tornister und fesselte sie an diesem Abend nicht.

Ihre beiläufige Sachlichkeit erschien ihm nicht geheuer. Hätte sie nicht mehr Begeisterung zeigen müssen? Ja, und auch Dankbarkeit. Er gestand sich ein, dass er das erwartet hatte: Dankbarkeit und Liebesbezeugungen. Er lag wach und lauschte ihren langsamen, sachten Atemzügen. Schlief sie wirklich, oder tat sie nur so? War es möglich, dass sie ihn auf unvorstellbare Weise täuschte? Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf sie. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen geöffnet, ihre Arme unter der Decke verschränkt, als wäre sie immer noch gefesselt.

Es war erst der zwanzigste Marx, sagte er sich. In ein oder zwei Wochen würde sie mehr Gefühl zeigen. Er machte die Augen zu. Als er aufwachte, hob sie Steine und Zweige vom Boden auf. »Guten Morgen«, sagte sie vergnügt.

Sie fanden einen spärlichen Wasserlauf in der Nähe und einen Baum mit grünen Früchten, den er für einen »olivier« hielt. Die Früchte waren bitter und schmeckten merkwürdig. Kuchen mochten sie beide lieber. Sie fragte ihn, wie er die Behandlungen umgangen habe, und er erzählte ihr von dem Blatt und dem nassen Stein und den Verbänden, die er gemacht hatte. Sie zeigte sich beeindruckt. Er sei sehr schlau gewesen, sagte sie.

Einmal gingen sie nachts nach ’12471, um Kuchen und Getränke, Handtücher, Toilettenpapier, Overalls und neue Sandalen zu holen und die Landkarte im MEF zu studieren, so gut es bei Taschenlampenlicht möglich war.

»Was tun wir, wenn wir in ’082 sind?«, fragte sie am nächsten Morgen. »Uns an der Küste verstecken«, sagte er, »und jede Nacht nach Händlern Ausschau halten.«

»Werden sie denn wagen, an Land zu kommen?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er, »außerhalb der Stadt schon, glaube ich.«

»Aber ist es nicht wahrscheinlicher, dass sie nach EUR fahren? Das ist näher.«

»Wir müssen eben hoffen, dass sie auch nach AFR kommen«, sagte er. »Und ich will ein paar Sachen aus der Stadt holen, mit denen wir handeln können, wenn wir dorthin kommen; Dinge, die ihnen voraussichtlich wertvoll erscheinen. Darüber werden wir nachdenken müssen.«

»Besteht keine Aussicht, dass wir ein Boot finden?«, fragte sie.

»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Vor der Küste liegen keine Inseln, deshalb wird es wohl keine Motorboote geben. Ruderboote wie im Vergnügungsgarten werden natürlich da sein, aber dass wir zweihundertachtzig Kilometer rudern, kann ich mir nicht vorstellen, du etwa?«

»Es ist nicht unmöglich«, sagte sie.

»Nein«, sagte er, »wenn es gar nicht anders geht. Aber ich verlasse mich auf die Händler, oder vielleicht gibt es sogar eine Art organisierten Rettungsdienst. Weißt du, Mallorca muss sich verteidigen, weil Uni weiß, dass es existiert. Er weiß von allen Inseln. Also halten die Mitglieder dort vielleicht Ausschau nach Mitgliedern, die ihre Zahl und ihre Kampfkraft steigern.«

»Das könnte sein«, sagte sie.

Eine weitere Regennacht kam, und sie saßen, in eine Decke gehüllt, zusammen im hintersten, schmalen Winkel ihres Verstecks, zwischen den hohen Felszacken. Er küsste sie und versuchte, ihren Overall zu öffnen, aber sie hielt seine Hand fest. »Ich weiß, es ist dumm«, sagte sie, »aber ein kleiner Rest von diesem Nur-samstagnachts-Gefühl steckt immer noch in mir. Bitte, können wir so lange warten?«

»Es ist wirklich dumm«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte sie, »aber könnten wir bitte warten?«

Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sicher, wenn du willst.«

»Ich will, Chip«, sagte sie.

Sie lasen und legten fest, was sie am besten aus ’082 mitnähmen, um damit zu handeln. Er prüfte die Fahrräder, und sie machte Freiübungen, ausdauernder und zielbewusster als er.

Samstagnacht kam er vom Wasser zurück, und sie hielt die Pistole in der Hand, auf ihn gerichtet. Ihre Augen waren schmal und hasserfüllt. »Er hat mich angerufen, bevor er es getan hat«, sagte sie.

Er sagte »Von wem –«, und sie schrie: »King! Er hat mich angerufen! Du verlogener, gehässiger –« Sie drückte den Abzug der Pistole, drückte noch einmal, stärker. Sie sah auf die Pistole, sah Chip an.

»Der Generator fehlt«, sagte er.

Sie sah wieder auf die Pistole und auf ihn und holte tief Luft, mit bebenden Nasenflügeln.

»Warum, zum Hass, willst du –«, sagte er, und sie holte mit der Pistole aus und warf sie nach ihm. Er hob die Hände, und sie traf ihn auf die Brust. Es tat weh, und er bekam keine Luft mehr.

»Mit dir gehen?«, sagte sie. »Mit dir schlafen? Nachdem du ihn umgebracht hast? Bist du – bist du fou, du grünäugiges cochon, chien, bâtard!«

Er hielt sich die Brust, kam wieder zu Atem: »Hab ihn nicht umgebracht, er hat sich selbst umgebracht, Lilac! Christus und –«

»Weil du ihn belogen hast! Über uns! Ihm erzählt, wir hätten –«

»Das war seine Idee. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht stimmt! Ich habe es ihm gesagt, und er hat es nicht geglaubt!«

»Du hast es zugegeben!«, sagte sie. »Er hat gesagt, es mache ihm nichts aus, wir passten gut zusammen; und dann hat er abgeschaltet –«

»Lilac«, sagte er, »ich schwöre bei meiner Liebe zur Familie, ich habe ihm gesagt, dass es nicht wahr ist

»Warum hat er sich dann umgebracht?«

»Weil er es wusste!«

»Weil du es ihm erzählt hast!«, sagte sie und ergriff ihr Fahrrad – die Tasche war vollgepackt – und rammte es gegen die Äste, die vor dem Versteck aufgeschichtet waren.

Er lief ihr nach und hielt das Hinterrad mit beiden Händen fest. »Du bleibst hier!«, sagte er.

»Lass los!«

Er packte das Fahrrad beim Sattel, entriss es ihr, schleuderte es zur Seite und ergriff ihren Arm. Sie schlug nach ihm, aber er hielt sie fest. »Er wusste von den Inseln!«, sagte er. »Er ist in der Nähe einer Insel gewesen und hat mit den Mitgliedern gehandelt. Daher weiß ich, dass sie an Land kommen!«

Sie starrte ihn an. »Wovon sprichst du?«, sagte sie.

»Er hat einen Posten nicht weit von einer der Inseln gehabt«, sagte er. »Den Falklandinseln, vor ARG. Und er ist mit den Mitgliedern zusammengekommen und hat mit ihnen gehandelt. Er hat uns nichts davon gesagt, weil er wusste, wir hätten Lust, dorthin zu gehen, und er wollte nicht! Darum hat er sich umgebracht! Er wusste, du würdest es erfahren, von mir, und er schämte sich und war müde und hätte seinen Rang als ›König‹ verloren.«

»Du belügst mich genauso, wie du ihn belogen hast«, sagte sie und riss ihren Arm los; dabei zerriss ihr Overall an der Schulter.

»So hat er das Parfüm und die Tabaksamen bekommen«, sagte er.

»Ich will nichts mehr von dir hören oder sehen«, sagte sie. »Ich fahre allein weiter.« Sie ging zu dem Fahrrad, hob ihren Tornister auf und die Decke, die heruntergerutscht war.

»Sei nicht dumm«, sagte er.

Sie rückte das Fahrrad gerade, warf den Tornister in die Satteltasche und stopfte die Decke darüber. Er ging zu ihr und hielt das Fahrrad an Sattel und Lenkstange fest. »Du gehst nicht allein«, sagte er.

»O doch, das tue ich«, sagte sie mit bebender Stimme. Sie hielten das Fahrrad zwischen sich. Ihr Gesicht verschwamm in der hereinbrechenden Dunkelheit.

»Das lasse ich nicht zu«, sagte er.

»Bevor ich mit dir gehe, mache ich es wie er

»Du hörst mir zu, du –«, sagte er. »Ich könnte seit einem halben Jahr auf einer der Inseln leben! Ich war schon unterwegs und bin umgekehrt, weil ich dich nicht tot und hirnlos zurücklassen wollte!« Er legte ihr die Hand auf die Brust und warf sie mit aller Kraft gegen die Felswand und gab dem Fahrrad einen Stoß, sodass es davonholperte. Er ging zu ihr und drückte ihre Arme gegen den Stein. »Ich habe den ganzen Weg von USA bis hierher zurückgelegt«, sagte er, »und dieses tierische Leben hat mir ebenso wenig Spaß gemacht wie dir. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob du mich liebst oder hasst« – »Ich hasse dich!«, sagte sie – »aber du bleibst bei mir. Die Pistole funktioniert nicht, aber ich kann Steine und meine Hände als Waffen benutzen. Du brauchst dich nicht umzubringen, weil –« Stechender Schmerz durchzuckte seinen Unterleib – ihr Knie! – und sie war weg, vorne bei den Zweigen, eine gelbe, schattenhafte Gestalt, die sich durch das Gestrüpp kämpfte.

Er rannte hinüber und packte sie beim Arm, riss sie herum und warf sie zu Boden. Sie kreischte: »Bâtard! Du kranker, brutaler –«, und er ließ sich auf sie fallen und legte ihr die Hand auf den Mund, drückte zu, so fest er konnte. Mit den Zähnen erwischte sie die Haut seiner Hand und biss hinein, verbiss sich immer heftiger. Sie trat nach ihm, und ihre Fäuste hämmerten gegen seinen Kopf. Er stemmte ein Knie auf ihren Schenkel und einen Fuß auf den Knöchel des anderen Beins und umklammerte ihr Handgelenk. Dass sie ihn weiter biss und mit der freien Hand schlug, konnte er nicht verhindern. »Es könnte jemand hier sein!«, sagte er. »Es ist Samstagnacht! Willst du, dass wir beide behandelt werden, du dumme garce?« Sie hörte nicht auf, ihn zu schlagen und in die Hand zu beißen.

Ihre Schläge wurden langsamer und hörten auf, sie öffnete die Zähne und ließ seine Hand los. Keuchend lag sie unter ihm und sah ihn an. »Garce!«, sagte er. Sie versuchte das Bein unter seinem Fuß zu bewegen, aber er drückte es noch kräftiger nieder. Er umklammerte immer noch ihr Handgelenk und hielt ihr den Mund zu. Seine Hand schmerzte, als ob Lilac Fleisch herausgebissen hätte.

Als sie so mit gespreizten Beinen, von ihm besiegt, unter ihm lag, fühlte er plötzlich Erregung in sich aufsteigen. Er dachte dran, ihr den Overall abzureißen und sie zu »vergewaltigen«. Hatte sie nicht gesagt, sie sollten bis Samstagnacht warten? Und vielleicht würde dadurch alles aus der Welt geschafft: das ganze unsinnige Gerede über King, ihr Hass und der Kampf zwischen ihnen – ja, sie hatten wirklich gekämpft! – und die Schimpfwörter in Français. Ihre Augen sahen ihn an.

Er ließ ihr Handgelenk los und packte ihren Overall an der Stelle, wo er über der Schulter zerrissen war. Er riss ihn weiter auf, über ihre Brust hinab, und sie fing wieder an, nach ihm zu schlagen und die Beine steif zu machen und ihn in die Hand zu beißen.

Er zerfetzte den Overall, bis ihre Vorderseite bloß lag, und dann spürte er sie, spürte ihre weichen, schmiegsamen Brüste und die Glätte ihres Bauchs, ihren Schamhügel mit den wenigen, glatten Haaren und die feuchten Lippen darunter. Mit der Hand schlug sie auf seinen Kopf ein und zerrte ihn an den Haaren; ihre Zähne verbissen sich in seinen Handballen. Seine andere Hand glitt weiter über sie hinweg – Brüste, Leib, Schamhügel, Lippen, er streichelte und rieb und tastete immer erregter – und dann öffnete er seinen Overall. Sie wand ihr Bein unter seinem Fuß hervor und trat nach ihm. Sie wälzte sich hin und her, um ihn abzuwerfen, aber er drückte sie nieder, hielt ihre Schenkel fest und schlang seine Beine um die ihren. Mit den Füßen ihre Knöchel festhaltend, spreizte er ihre Beine auseinander, die um seine Knie geschlungen waren, und setzte sich vierschrötig in Positur. Er senkte den Unterleib und warf sich auf sie, erwischte ihre linke Hand und einige Finger der rechten. »Hör auf«, sagte er, »hör auf.« Sie wand und sträubte sich, biss ihn tiefer in die Hand. Er fühlte sich in sie gleiten, stieß zu und war ganz in ihr. »Hör auf«, sagte er, »hör auf.« Langsam nahm er sie ganz in Besitz, gab ihre Hände frei und tastete nach ihren Brüsten, er streichelte die zarte, glatte Haut, und ihre Spitzen richteten sich auf. Sie biss ihn in die Hand und warf sich hin und her. »Hör auf«, sagte er, »gib es auf, Lilac.« Er bewegte sich langsam in ihr, dann schneller und heftiger.

Er richtete sich halb auf, kniete über ihr und sah sie an. Sie hatte einen Arm über die Augen gelegt, den anderen zurückgeworfen. Ihre Brüste hoben und senkten sich.

Er stand auf und fand eine von seinen Decken, schüttelte sie aus und breitete sie bis zu den Schultern über Lilacs Körper. »Es ist dir doch nichts passiert?«, fragte er neben ihr kauernd.

Sie sagte kein Wort.

Er fand seine Taschenlampe und besah seine Hand. Blut strömte aus einem Oval frischer Wunden. »Christus und Wei«, sagte er. Er schüttete Wasser über die Hand, wusch sie mit Seife und trocknete sie. Er suchte nach dem Verbandskästchen und konnte es nicht finden. »Hast du das Verbandskästchen genommen?«, fragte er.

Sie sagte kein Wort.

Die Hand hochhaltend, fand er den Tornister auf dem Boden und nahm das Verbandskästchen heraus. Er setzte sich auf einen Stein und stellte das Kästchen auf seinen Schoß und die Taschenlampe auf einen Stein daneben.

»Du Vieh«, sagte sie.

»Ich beiße nicht«, sagte er. »Und ich versuche auch nicht, dich umzubringen. Christus und Wei, du hast gedacht, die Pistole funktioniert.« Er sprühte Heilmittel auf seine Hand, erst eine dünne Schicht und dann eine dickere.

»Cochon«, sagte sie.

»Ach, komm«, sagte er, »fang nicht wieder damit an.«

Er nahm einen Verband aus der Hülle und hörte sie aufstehen, hörte ihren Overall rascheln, als sie ihn auszog. Sie kam nackt herüber und nahm die Taschenlampe und ging zu ihrem Tornister, nahm Seife, ein Handtuch und einen Overall heraus und ging nach hinten, wo er zwischen den Felszacken Steine aufgeschichtet hatte, die eine Art Treppe zum Wasser bildeten.

Er legte den Verband im Dunkeln an, und dann fand er ihre Taschenlampe neben dem Fahrrad auf dem Boden. Er stellte das Fahrrad zu seinem, hob die Decke auf und ordnete sie zu ihren zwei üblichen Schlafstellen, legte seinen Tornister zu ihrem und hob die Pistole und die Fetzen ihres Overalls auf. Er steckte die Pistole in seinen Beutel.

Der Mond glitt hinter schwarzen, reglosen Blättern über eine der Felszinnen.

Sie kam nicht zurück, und er fürchtete allmählich, sie sei davongelaufen. Endlich kam sie aber doch. Sie legte die Seife und das Handtuch in ihren Tornister und knipste die Taschenlampe aus und legte sich zwischen ihre Decken.

»Die Erregung hat mich einfach übermannt, wie du so unter mir lagst«, sagte er. »Ich habe dich immer begehrt, und diese letzten Wochen waren nahezu unerträglich für mich. Nicht wahr, du weißt, dass ich dich liebe?« »Ich gehe allein«, sagte sie.

»Wenn wir nach Mallorca kommen«, sagte er, »falls wir hinkommen, kannst du tun, was du willst, aber bis wir dort sind, bleiben wir zusammen, Lilac. Und damit basta.«

Sie sagte nichts.

Merkwürdige Geräusche – dünne Klagelaute und schmerzliches Wimmern – weckten ihn auf. Er setzte sich hoch und richtete das Licht auf Lilac. Ihre Hand war auf den Mund gepresst, und Tränen rannen ihr aus den geschlossenen Augen über die Schläfen.

Er eilte zu ihr, kauerte sich neben sie und strich ihr über den Kopf. »O Lilac, bitte nicht«, sagte er. »Weine nicht, Lilac, bitte.« Er dachte, sie weinte, weil er sie, vielleicht innerlich, verletzt hätte.

Sie hörte nicht auf zu schluchzen.

»O Lilac, es tut mir so leid«, sagte er. »Entschuldige, Geliebte! O Christus und Wei, ich wünschte, die Pistole wäre losgegangen!«

Sie schüttelte den Kopf, die Hand immer noch auf den Mund gepresst. »Weinst du nicht deswegen?«, fragte er. »Weil ich dir wehgetan habe? Warum dann? Du musst wirklich nicht mit mir kommen, wenn du nicht willst.«

Sie schüttelte den Kopf und hörte nicht auf zu weinen.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er blieb an ihrer Seite, streichelte ihren Kopf und fragte sie, warum sie weinte, und bat sie aufzuhören, und dann holte er seine Decken, breitete sie neben Lilac aus, legte sich nieder und nahm sie in die Arme. Ihre Tränen flossen immer weiter, und er wachte auf, und sie lag auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, und sah ihn an. »Es ist sinnlos, dass wir getrennt gehen«, sagte sie, »also bleiben wir zusammen.«

Er versuchte sich zu erinnern, was sie vor dem Einschlafen gesagt hatten, aber so viel er wusste, hatte sie nur geweint. »Schon gut«, sagte er verwirrt.

»Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen der Pistole«, sagte sie. »Wie habe ich das nur tun können? Ich war sicher, dass du King belogen hast.«

»Und mir macht schwer zu schaffen, was ich getan habe«, sagte er.

»Lass nur«, sagte sie, »ich nehme es dir nicht übel. Es war ganz natürlich. Wie geht es deiner Hand?«

Er zog sie unter der Decke hervor und streckte sie. Er hatte starke Schmerzen. »Nicht schlecht«, sagte er.

Sie nahm sie in ihre Hand und besah den Verband. »Hast du Heilspray aufgetragen?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er.

Sie sah ihn an, ohne seine Hand loszulassen. Ihre Augen waren groß und braun und strahlten morgenfrisch. »Bist du wirklich unterwegs zu einer Insel gewesen und wieder umgekehrt?«, fragte sie.

Er nickte.

Sie lächelte. »Du bist très fou«, sagte sie.

»Nein, das bin ich nicht«, sagte er.

»Doch«, sagte sie und schaute wieder auf seine Hand. Sie führte sie an die Lippen und küsste seine Fingerspitzen, eine nach der anderen.