Erster Teil: Jugend

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Je weiter man zum Stadtinneren vordrang, desto höher wurden die ringförmig angeordneten, kahlen, weißen Betongebäude, aber mitten zwischen ihnen war noch Raum für einen großen Spielplatz mit rosarotem Boden. Ungefähr zweihundert Kinder spielten oder turnten dort unter der Obhut von zwölf Aufseherinnen in weißen Overalls. Die meisten der sonnengebräunten, schwarzhaarigen Kinder krochen durch rote und gelbe Tonnen, schaukelten oder machten Gruppengymnastik; in einer schattigen Ecke aber, wo ein Himmel-und-Hölle-Spiel auf den Boden gezeichnet war, standen fünf ganz still in einem engen Kreis beisammen. Vier hörten zu, und einer sprach:

»Sie fangen Tiere und essen sie und tragen ihre Häute als Kleider«, erzählte der etwa achtjährige Junge. »Und sie tun noch etwas – ›kämpfen‹ sagen sie dazu. Das heißt, sie verletzen einander absichtlich, mit den Händen oder mit Steinen und allen möglichen Gegenständen. Sie lieben und helfen einander überhaupt nicht.«

Die anderen hörten dem Jungen mit offenem Mund zu. Ein Mädchen, das jünger war als er, sagte: »Aber man kann sein Armband nicht abnehmen. Es ist unmöglich.« Sie zerrte mit einem Finger an ihrem eigenen Armband, um zu zeigen, wie stark und fest die Glieder miteinander verbunden waren.

»Mit dem richtigen Werkzeug kann man es schon«, sagte der Junge. »An deinem Eingliederungstag wird es doch auch abgenommen, oder nicht?«

»Nur für eine Sekunde.«

»Aber abgenommen wird es!«

»Wo leben sie denn?«, fragte ein anderes Mädchen.

»Auf Berggipfeln«, sagte der Junge, »und in tiefen Höhlen. Überall dort, wo wir sie nicht finden können.«

Das erste Mädchen sagte: »Sie müssen krank sein.«

»Na klar«, sagte der Junge lachend. »›Unheilbar‹ heißt doch krank. Deshalb nennt man sie ja die Unheilbaren, weil sie sehr, sehr krank sind.«

Der Kleinste, ein Junge von etwa sechs Jahren, fragte: »Bekommen sie denn keine Behandlungen?«

Der ältere Junge schaute ihn verächtlich an. »Ohne ihre Armbänder? Und wo sie in Höhlen leben?«

»Aber wie werden sie krank?«, fragte der Sechsjährige. »Bis sie weglaufen, bekommen sie doch ihre Behandlungen, oder nicht?«

»Behandlungen wirken nicht immer«, sagte der Ältere.

Der Sechsjährige starrte ihn an. »Doch, das tun sie«, sagte er.

»Nein, tun sie nicht!«

»Du liebe Güte«, sagte eine Aufseherin, die, mit einem Volleyball unter jedem Arm, auf die Gruppe zukam, »sitzt ihr nicht ein bisschen zu dicht beieinander? Was spielt ihr denn Komisches?«

Die Kinder rückten schnell zu einem größeren Kreis auseinander – nur der sechsjährige Junge blieb sitzen und rührte sich nicht. Die Aufseherin schaute ihn neugierig an.

Ein Zweiklang-Gong ertönte aus den Lautsprechern. »Geht duschen und zieht euch an«, sagte die Aufseherin, und die Kinder sprangen auf und rannten davon.

»Duschen und anziehen!«, rief die Aufseherin einer Gruppe zu, die nebenan Völkerball spielte.

Der Sechsjährige stand auf. Er sah verstört und unglücklich aus. Die Aufseherin kniete vor ihm nieder und blickte ihm teilnahmsvoll ins Gesicht. »Wo fehlt’s denn?«, fragte sie.

Der Junge, dessen rechtes Auge grün war anstatt braun, sah sie an und blinzelte.

Die Aufseherin ließ ihre Volleybälle fallen, drehte das Handgelenk des Jungen um, damit sie auf sein Armband sehen konnte, und fasste ihn liebevoll um die Schultern.

»Was ist denn passiert, Li?«, fragte sie. »Hast du das Spiel verloren? Das ist doch nicht schlimm. Verlieren ist so gut wie gewinnen, das weißt du doch, nicht wahr?«

Der Junge nickte.

»Wichtig ist nur, dass man dabei vergnügt ist und sich Bewegung verschafft.«

Der Junge nickte wieder und versuchte zu lächeln.

»So ist’s schon besser«, sagte die Aufseherin. »Ein bisschen besser wenigstens. Jetzt siehst du nicht mehr aus wie ein alter Trauerkloß.«

Der Junge lächelte.

»Geh jetzt zum Duschen und zieh dich an«, sagte die Aufseherin erleichtert. Sie drehte den Jungen um und gab ihm einen Klaps aufs Hinterteil. »Los, hopplahopp.«

Der Junge, der manchmal Chip gerufen wurde, öfter aber Li – seine NN (Name + Nummer) war Li RM35M4419 –, sagte kaum ein Wort beim Essen, aber seine Schwester Peace plapperte ununterbrochen, und seine Eltern merkten gar nicht, wie schweigsam er war. Erst als sich alle vier in die Fernsehsessel gesetzt hatten, schaute ihn seine Mutter genauer an und fragte: »Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch«, sagte er.

Seine Mutter wandte sich zu seinem Vater und sagte: »Er hat den ganzen Abend kein Wort gesagt.«

Chip sagte: »Mir fehlt nichts.«

»Warum bist du dann so still?«, fragte seine Mutter.

»Pst«, sagte der Vater. Der Bildschirm begann zu flimmern.

Nach einer Stunde, als sich die Kinder fürs Bett fertig machten, ging Chips Mutter ins Badezimmer und schaute zu, wie er sich die Zähne putzte und sein Mundstück aus der Röhre zog.

»Was hast du?«, fragte sie. »Hat jemand etwas über dein Auge gesagt?«

»Nein«, sagte er errötend.

»Spül es aus«, sagte sie.

»Hab ich schon.«

»Spül es aus.«

Er spülte sein Mundstück und streckte sich hoch, um es an seinen Platz auf dem Bord zu stellen. »Jesus hat geredet«, sagte er. »Jesus DV. Beim Spielen.«

»Worüber? Über dein Auge?«

»Nein, nicht über mein Auge. Keiner sagt etwas über mein Auge

»Worüber dann?«

Er zuckte die Achseln. »Über Mitglieder, die krank werden und – die Familie verlassen, fortlaufen und ihre Armbänder abnehmen.«

Seine Mutter schaute ihn nervös an. »Unheilbare«, sagte sie.

Er nickte. Dass seine Mutter so reagierte und den Namen kannte, ließ ihn noch unruhiger werden. »Ist es wahr?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Nein, nein, es ist nicht wahr. Ich werde Bob anrufen. Er wird es dir erklären.« Sie drehte sich um und lief hastig an Peace vorbei, die hereinkam und ihren Schlafanzug zumachte. Im Wohnzimmer sagte Chips Vater: »Noch zwei Minuten. Sind sie im Bett?«

Chips Mutter sagte: »Eins von den Kindern hat Chip von den Unheilbaren erzählt.«

»Hass«, sagte sein Vater.

»Ich rufe Bob an«, sagte seine Mutter und ging zum Telefon.

»Es ist schon nach acht.«

»Er wird kommen«, sagte sie. Sie berührte die Telefonscheibe mit ihrem Armband und las laut die rot gedruckte NN auf einer Karte unter dem Bildrand des Telefons: »Bob NE20G3018.« Sie wartete, ungeduldig die Handflächen aneinanderreibend. »Ich wusste, dass ihn etwas bedrückt«, sagte sie. »Er hat den ganzen Abend kein einziges Wort gesagt.«

Chips Vater erhob sich aus seinem Sessel. »Ich werde mit ihm reden«, sagte er und ging hinaus.

»Überlass das lieber Bob«, rief Chips Mutter. »Bring Peace ins Bett. Sie ist immer noch im Badezimmer.«

Bob kam zwanzig Minuten später.

»Er ist in seinem Zimmer«, sagte Chips Mutter.

»Ihr beiden schaut euch das Programm an«, sagte Bob. »Kommt, setzt euch hin und schaut zu.« Er lächelte sie an. »Ihr braucht euch gar nicht aufzuregen. So etwas kommt jeden Tag vor. Wirklich!«

»Immer noch?«, fragte Chips Vater.

»Natürlich«, sagte Bob. »Und es wird in hundert Jahren noch vorkommen. Kinder sind Kinder.«

Er war der jüngste Berater, den sie bisher gehabt hatten – gerade einundzwanzig und erst vor einem Jahr von der Akademie gekommen. Trotzdem war er überhaupt nicht schüchtern oder unsicher. Im Gegenteil: Er war natürlicher und selbstbewusster als mancher Berater von fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren. Sie mochten ihn gern.

Er ging zu Chips Zimmer und schaute hinein. Chip war im Bett. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt, und ein aufgeschlagenes Comicbuch lag vor ihm.

»Grüß dich, Li«, sagte Bob.

Chip sagte: »Grüß dich, Bob.«

Bob ging hinein und setzte sich auf den Bettrand. Er stellte sein Telecomp zwischen die Füße auf den Boden, befühlte Chips Stirn und strich ihm durchs Haar. »Was liest du denn?«, fragte er.

»Woods Kampf«, sagte Chip und zeigte Bob den Einband des Comicbuchs. Er ließ es geschlossen aufs Bett fallen und zog mit dem Zeigefinger das breite, gelbe W in »Woods« nach.

Bob sagte: »Ich habe gehört, dass dir einer Mist über die Unheilbaren erzählt hat.«

»Ist es wirklich Mist?«, fragte Chip, ohne von seinem Finger aufzuschauen.

»Ja Li, jetzt schon«, sagte Bob. »Früher, vor langer, langer Zeit, war es einmal wahr, aber heute nicht mehr.«

Chip zeichnete schweigend das W nach.

»Früher verstanden wir nicht so viel von Medizin und Chemie wie jetzt«, sagte Bob und schaute ihm aufmerksam zu, »und bis ungefähr fünfzig Jahre nach der Vereinigung kam es vor, dass Mitglieder – aber nur ganz wenige – krank wurden und glaubten, sie seien keine Mitglieder. Manche liefen weg und lebten miteinander an Orten, die die Familie nicht bewohnte, auf unfruchtbaren Inseln und Berggipfeln und so.«

»Und sie haben ihre Armbänder abgenommen?«

»Das nehme ich an«, sagte Bob. »Armbänder hätten ihnen nicht viel genützt, wenn es da, wo sie lebten, keine Raster gab, an die sie sie halten konnten, nicht wahr?«

»Jesus sagte, sie täten etwas, das ›kämpfen‹ heißt.«

Bob wandte sich kurz ab und sah dann wieder zu Chip. »›Sich aggressiv verhalten‹ klingt hübscher«, sagte er. »Ja, das haben sie getan.«

Chip blickte zu ihm hoch. »Aber jetzt sind sie tot?«, fragte er.

»Ja, alle«, sagte Bob. »Bis auf den letzten Mann.« Er streichelte Chips Haar. »Das ist lange, lange her«, sagte er. »Heute passiert das keinem mehr.«

Chip sagte: »Wir verstehen heute mehr von Medizin und Chemie. Behandlungen wirken

»Recht hast du«, sagte Bob. »Und du darfst nicht vergessen, dass es damals fünf verschiedene Computer gab. Wenn ein krankes Mitglied erst einmal seinen Heimatkontinent verlassen hatte, stand es ganz ohne Verbindung da.«

»Mein Großvater hat geholfen, UniComp zu bauen.«

»Ich weiß, Li. Und wenn dir wieder einmal jemand von den Unheilbaren erzählt, dann denke an zwei Dinge: Erstens sind Behandlungen heute viel wirkungsvoller als vor langer Zeit, und zweitens wacht UniComp auf der ganzen Erde über uns. Okay?«

»Okay«, sagte Chip und lächelte.

»Sehen wir einmal nach, was er über dich sagt«, sagte Bob, hob sein Telecomp hoch und öffnete es auf seinen Knien.

Chip richtete sich auf, kam näher und streifte den Schlafanzugärmel über sein Armband hoch. »Glaubst du, ich bekomme eine Extrabehandlung?«, fragte er.

»Wenn du eine brauchst«, sagte Bob. »Willst du es einschalten?«

»Ich?«, fragte Chip. »Darf ich?«

»Klar«, sagte Bob.

Vorsichtig legte Chip Daumen und Zeigefinger auf den Ein- und Ausschalter. Er drückte ihn, und kleine Lämpchen blinkten auf – blau, gelb, gelb. Er lächelte sie an.

Bob sagte: »Jetzt berühren!«

Chip berührte den Raster mit seinem Armband, das blaue Licht daneben wurde rot.

Bob bediente die Input-Tasten. Chip beobachtete gespannt, wie sich Bobs Finger schnell bewegten. Schließlich drückte er den Antwortknopf. Eine Reihe grüner Zeichen leuchteten auf dem Bildschirm auf, und dann erschien darunter noch eine zweite. Bob studierte die Zeichen, und Chip beobachtete ihn dabei.

Lächelnd sah Bob ihn aus den Augenwinkeln an. »Morgen um 12.25 Uhr«, sagte er. »Gut!«, sagte Chip. »Ich danke dir.«

»Danke Uni!«, sagte Bob, schaltete das Telecomp aus und klappte es zu. »Wer hat dir von den Unheilbaren erzählt? Welcher Jesus?«

»DV-33 Sowieso«, sagte Chip. »Er wohnt im vierundzwanzigsten Stock.«

Bob legte die Griffe des Telecomps um. »Wahrscheinlich macht er sich genau solche Sorgen wie du vorhin«, sagte er.

»Kann er auch eine Extrabehandlung bekommen?«

»Wenn er eine braucht. Ich werde seinen Berater verständigen. Und jetzt wird geschlafen, Bruder, morgen hast du Schule.«

Bob nahm Chips Comicbuch und legte es auf den Nachttisch.

Chip kuschelte sich lächelnd in sein Kissen, und Bob stand auf, knipste die Lampe aus, strich Chip noch einmal durchs Haar und beugte sich herab, um ihn auf den Hinterkopf zu küssen.

»Bis Freitag«, sagte Chip.

»Ja«, sagte Bob. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Bob.«

Chips Eltern standen nervös auf, als Bob ins Wohnzimmer kam.

»Es geht ihm gut«, sagte Bob. »Er schläft praktisch schon. Morgen in der Mittagspause bekommt er eine Extrabehandlung, wahrscheinlich eine geringe Dosis eines Beruhigungsmittels.«

»Ach, bin ich erleichtert!«, sagte Chips Mutter, und sein Vater sagte: »Danke, Bob.«

»Danke Uni«, sagte Bob. Er ging zum Telefon. »Ich will dafür sorgen, dass dem anderen Jungen, der ihm davon erzählt hat, geholfen wird«, sagte er und berührte die Scheibe des Telefons mit seinem Armband.

Am nächsten Tag fuhr Chip nach dem Mittagessen im Aufzug von seiner Schule drei Stockwerke tiefer in das Medizentrum. Als er mit seinem Armband den Raster am Eingang zum Medizentrum berührte, erschien ein leuchtendes grünes JA auf der Anzeigetafel. Dasselbe grüne JA flammte über der Tür zur Behandlungsabteilung auf und noch einmal über der Tür zum Behandlungsraum.

Weil nur vier der fünfzehn Apparate in Betrieb waren, stand schon eine lange Schlange von Wartenden davor. Trotzdem konnte Chip schon bald auf das Trittbrett für Kinder steigen und seinen Arm durch eine gummiumrandete Öffnung stecken, nachdem er den Ärmel hochgestreift hatte. Er hielt den Arm kerzengerade ausgestreckt, bis drinnen der Raster sein Armband gefunden hatte und die Infusionsscheibe sich warm und glatt gegen das zarte Fleisch seines Oberarms schmiegte. Motoren summten im Inneren des Apparates, und etwas Flüssigkeit tröpfelte herab. Das blaue Licht über seinem Kopf wurde rot, und die Infusionsscheibe kitzelte-pikste-stach seinen Arm, und dann wurde das Licht wieder blau.

Am Nachmittag kam Jesus DV, der Junge, der Chip von den Unheilbaren erzählt hatte, auf dem Spielplatz zu Chip und bedankte sich, weil er ihm geholfen hatte.

»Danke Uni«, sagte Chip. »Ich habe eine Extrabehandlung bekommen, du auch?«

»Ja«, sagte Jesus, »und die anderen Kinder und Bob UT auch. Der hat es nämlich mir erzählt.«

»Ich habe mich ein bisschen gefürchtet«, sagte Chip, »als ich mir vorgestellt habe, wie Mitglieder krank werden und weglaufen.«

»Ich auch ein bisschen«, sagte Jesus. »Aber es kommt nicht mehr vor. Es ist schon lange, lange her.«

»Die Behandlungen sind jetzt besser als früher«, sagte Chip.

Jesus sagte: »Und wir haben UniComp, der auf der ganzen Erde über uns wacht.«

»So ist es«, sagte Chip.

Eine Aufseherin kam und schob sie in einen Kreis von fünfzig oder sechzig Jungen und Mädchen, die sich auf zwei Armlängen Entfernung einen Ball zuwarfen und mehr als ein Viertel des belebten Spielplatzes einnahmen.