4

Sie brachen erst auf, als der Morgen schon halb vorüber war, und dann fuhren sie lange Zeit sehr schnell, um das Versäumte wieder aufzuholen. Es war ein seltsamer, dunstiger Tag, die Luft war schwer, der Himmel grünlichgrau und die Sonne eine weiße Scheibe, in die man mit weit offenen Augen blicken konnte. Anscheinend war der Klimakontrolle ein Fehler unterlaufen.

Lilac konnte sich an einen ähnlichen Tag in CHI erinnern, als sie zwölf oder dreizehn war. (»Bist du da geboren?« »Nein, in MEX.« »Wirklich? Ich auch!«) Es fielen keine Schatten, und die Fahrräder, die ihnen entgegenkamen, schienen wie Wagen über der Erde zu fahren. Mitglieder schauten furchtsam zum Himmel empor und lächelten nicht, wenn sie beim Näherkommen nickten.

Als sie im Gras saßen und gemeinsam einen Behälter voll Cola leerten, sagte Chip: »Es ist besser, wenn wir von jetzt an langsam fahren. Auf dem Weg muss es Raster geben, und wir müssen den richtigen Moment aussuchen können, um ihn zu passieren.«

»Raster unseretwegen?«, sagte sie.

»Nicht unbedingt«, sagte er. »Einfach weil das die Stadt ist, die am nächsten bei den Inseln liegt. Würdest du nicht auch zusätzlich Sicherheitsvorkehrungen treffen, wenn du Uni wärst?«

Aber die Raster waren nicht seine größte Sorge. Schlimmer wäre es, wenn eine Abordnung des Medizentrums wartete.

»Was ist, wenn Mitglieder nach uns Ausschau halten?«, fragte sie. »Berater oder Ärzte, die Bilder von uns haben?«

»Nach so langer Zeit ist das nicht sehr wahrscheinlich«, sagte er. »Wir müssen es darauf ankommen lassen. Ich habe die Pistole und das Messer auch.« Er fasste an seine Tasche.

Nach kurzem Schweigen fragte sie: »Würdest du es benutzen?«

»Ja«, sagte er. »Ich glaube.«

»Ich hoffe, es ist nicht nötig«, sagte sie.

»Ich auch.«

»Setz lieber deine Sonnenbrille auf«, sagte sie.

»An einem Tag wie heute?« Er sah zum Himmel auf.

»Wegen deines Auges.«

»Ach so«, sagte er. »Natürlich.« Er zog seine Brille hervor und setzte sie auf, sah Lilac an und lächelte. »Du kannst nicht viel tun«, sagte er, »außer ausatmen.«

»Was meinst du?«, fragte sie. Dann wurde sie rot und sagte: »Sie fallen nicht auf, wenn ich angezogen bin.«

»Sie sind mir als Erstes an dir aufgefallen«, sagte er. »Direkt ins Auge gesprungen

»Das glaube ich dir nicht«, sagte sie. »Du lügst. Habe ich recht?«

Er lachte und tätschelte ihr das Kinn.

Sie fuhren langsam. Es waren keine Raster am Weg. Kein Ärzteteam hielt sie auf. Alle Fahrräder in dieser Gegend waren neu, aber keiner sagte etwas über ihre alten.

Am späten Nachmittag waren sie in ’12 082. Den Geruch des Meeres in der Nase, fuhren sie zum Westen der Stadt. Sie wandten den Blick nicht von dem Weg, der vor ihnen lag.

Sie ließen ihre Räder im Parkgelände stehen und gingen zu Fuß zurück zu einer Kantine, von der Stufen zum Ufer hinabführten. Die See lag tief unter ihnen, glatt und blau und unendlich, bis sie sich in grünlich-grauem Dunst verlor.

»Diese Mitglieder haben nicht berührt«, sagte ein Kind.

Lilac umklammerte Chips Hand fester. »Geh weiter«, sagte er. Sie schritten Betonstufen hinab, die aus rauen Klippen ragten.

»He, ihr da!«, rief ein Mitglied, ein Mann. »Ihr beiden Mitglieder!«

Chip drückte Lilacs Hand mit voller Kraft, und sie drehten sich um. Der Mann stand hinter dem Raster am oberen Ende der Stufen. An der Hand hielt er ein nacktes Mädchen von fünf oder sechs Jahren, das sie anschaute und sich mit einem roten Schäufelchen den Kopf kratzte.

»Habt ihr gerade eben berührt?«, fragte das Mitglied.

Sie sahen einander an und blickten auf das Mitglied. »Natürlich«, sagte Chip. »Ja, natürlich«, sagte Lilac.

»Es war aber kein ›Ja‹ zu sehen«, sagte das Mädchen.

»Doch, Schwester«, sagte Chip ernsthaft. »Sonst wären wir nicht weitergegangen, oder?« Er sah das Mitglied an und zeigte ein Lächeln. Das Mitglied bückte sich und sagte etwas zu dem Mädchen.

»Nein, habe ich nicht«, sagte es.

»Komm weiter«, sagte Chip zu Lilac, und sie wandten sich um und stiegen die Stufen hinab.

»Kleines Biest«, sagte Lilac, und Chip sagte: »Geh einfach weiter.«

Sie gingen ganz hinunter und blieben stehen, um ihre Sandalen auszuziehen. Chip sah beim Bücken nach oben: Das Mitglied und das Mädchen waren verschwunden, andere Mitglieder kamen herunter.

Der Strand unter dem merkwürdig dunstigen Himmel war halb leer. Mitglieder saßen und lagen auf Decken. Viele hatten ihren Overall nicht abgelegt. Sie schwiegen oder sprachen ganz leise, und die Musik aus den Lautsprechern – »Sonntag, Wonnetag« – klang laut und unnatürlich. Eine Schar Kinder spielten am Rand des Wassers Seilhüpfen und sangen dazu: »Christus, Marx und Wood und Wei, machten uns von Sorgen frei. Marx und Wood und Wei und Christ –«

Sie gingen nach Westen, Hand in Hand, in den freien Händen die Sandalen tragend. Der schmale Strand wurde noch schmaler und leerer. Vor ihnen, zwischen Klippen und Meer, stand ein Raster. Chip sagte: »Ich habe noch nie einen Raster an einem Strand gesehen.«

»Ich auch nicht«, sagte Lilac.

Sie sahen einander an.

»Das ist der Weg, den wir einschlagen werden«, sagte er. »Später.«

Sie nickte, und sie gingen näher auf den Raster zu.

»Es drängt mich follement, ihn zu berühren«, sagte er. »Kampf dir, Uni; hier bin ich!«

»Beherrsch dich!«, sagte sie.

»Keine Sorgen«, sagte er. »Ich tue es nicht.«

Sie kehrten um und gingen zum Hauptstrand zurück. Sie zogen ihre Overalls aus, gingen ins Wasser und schwammen weit hinaus. Auf dem Rücken dahintreibend, studierten sie das Ufer hinter dem Raster, die grauen Klippen, die im grünlichgrauen Dunst langsam verschwanden. Ein Vogel stieg von den Klippen auf, kreiste und flog zurück. Er verschwand in einer winzig schmalen Spalte.

»Da gibt es wahrscheinlich Höhlen, in denen wir bleiben können«, sagte Chip. Ein Rettungsschwimmer pfiff und winkte ihnen. Sie schwammen zum Ufer zurück.

»Es ist fünf vor fünf, Mitglieder«, sagten die Lautsprecher. »Abfälle und Handtücher in die Körbe, bitte. Nehmt beim Ausschütteln der Decken Rücksicht auf andere Mitglieder.«

Sie zogen sich an, stiegen die Stufen wieder hoch und gingen zu dem Gehölz zurück, wo sie ihre Fahrräder gelassen hatten. Sie trugen sie weiter hinein und setzten sich, um abzuwarten. Chip säuberte den Kompass und die Taschenlampe und das Messer, und Lilac packte alles, was sie sonst noch hatten, zu einem einzigen Bündel.

Etwa eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit gingen sie in die Kantine und holten einen Karton mit Kuchen und Getränken und wanderten wieder zum Strand. Sie schritten auf den Raster zu und an ihm vorbei. Die Nacht war mondlos und sternlos, und der Dunst des Tages hing immer noch in der Luft. Wo die Wellen gegen den Strand schlugen, leuchteten ab und zu phosphoreszierende Funken auf; sonst herrschte tiefste Dunkelheit. Chip hielt den Karton unter dem Arm und beleuchtete alle paar Sekunden den Weg vor ihnen mit der Taschenlampe. Lilac trug das Deckenbündel.

»In einer Nacht wie heute werden keine Händler an Land kommen«, sagte sie.

»Aber auch sonst wird niemand am Strand sein«, sagte Chip. »Keine sexbesessenen Zwölfjährigen. Und das ist gut so.«

Aber es war nicht gut, dachte er, sondern schlecht. Was war, wenn der Dunst tagelang und nächtelang nicht verschwand und sie direkt an der Schwelle zur Freiheit aufhielt? War es möglich, dass Uni den Dunst absichtlich gemacht hatte, nur zu diesem Zweck? Er lächelte über sich selbst. Er war très fou, genau wie Lilac gesagt hatte.

Sie gingen weiter, bis sie glaubten, auf halbem Weg zwischen ’082 und der nächsten Stadt im Westen zu sein, und dann stellten sie den Karton und das Bündel nieder und suchten die Klippen nach einer passenden Höhle ab. Sie hatten in wenigen Minuten eine gefunden, ein niedriges Gelass, auf dessen Sandboden Kuchenfolien und, seltsamerweise, zwei aus einer vV-Landkarte gerissene Stücke – ein grünes »Ägypten« und ein rosarotes »Äthiopien« – herumlagen. Sie trugen den Karton und das Bündel in die Höhle, breiteten die Decken aus, aßen und legten sich zusammen nieder.

»Kannst du?«, fragte Lilac. »Nach diesem Morgen und der gestrigen Nacht?«

»Ohne Behandlungen ist alles möglich«, sagte Chip.

»Es ist fantastisch«, sagte Lilac.

Später sagte Chip: »Selbst wenn wir nicht weiter als bis hierher kämen, wenn wir in fünf Minuten gefasst und behandelt würden, hätte es sich gelohnt. Wir waren wenigstens für ein paar Wochen wir selbst und lebendig.«

»Ich will mein ganzes Leben, nicht nur einen kleinen Teil«, sagte Lilac.

»Du wirst es haben«, sagte Chip. »Ich verspreche es dir.« Er küsste ihre Lippen und streichelte ihre Wangen in der Dunkelheit. »Wirst du bei mir bleiben?«, fragte er. »Auf Mallorca?«

»Natürlich«, sagte sie. »Warum sollte ich nicht?«

»Du wolltest nicht«, sagte er. »Weißt du noch? Du wolltest nicht einmal so weit mit mir gehen.«

»Christus und Wei, das war gestern Nacht«, sagte sie und küsste ihn. »Natürlich bleibe ich. Du hast mich erweckt, und nun gehörst du zu mir.«

Sie umarmten und küssten einander.

»Chip!«, schrie sie – in Wirklichkeit, nicht in seinem Traum.

Sie war neben ihm. Er setzte sich auf und stieß mit dem Kopf gegen Stein, griff nach dem Messer, das er in den Sand gesteckt hatte. »Chip! Schau!«, rief sie, als er das Messer gefunden hatte und sich auf die Knie und seine Hand stützte. Sie kauerte als dunkler Umriss vor der blendend hellen, blauen Öffnung der Höhle. Er hob das Messer, bereit, jeden, der kam, zu erdolchen.

»Nein, nein«, sagte sie lachend. »Komm, sieh dir das an, komm! Du wirst es nicht glauben!«

Blinzelnd, weil die Helligkeit von Himmel und Meer ihn blendete, kroch er zu ihr hinüber. »Schau«, sagte sie glücklich, auf den Strand zeigend.

Etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt stand ein Boot auf dem Sand, eine alte, kleine, zweirotorige Barkasse mit weißem Rumpf und rotem Rand. Sie stand gerade außerhalb des Wassers, ganz leicht nach vorne geneigt. Auf dem Rand und der Windschutzscheibe, von der ein Teil zu fehlen schien, waren weiße Flecke zu sehen.

»Lass uns nachsehen, ob es seetüchtig ist«, sagte Lilac. Eine Hand auf Chips Schulter gestützt, wollte sie aus der Höhle herauskriechen. Er ließ das Messer fallen, ergriff ihren Arm und zog sie zurück. »Warte eine Minute«, sagte er. »Wozu?« Sie sah ihn an.

Er rieb sich den Kopf, wo er ihn angeschlagen hatte, und blickte stirnrunzelnd auf das Boot, das so weiß und rot und leer und wie bestellt unter der kahlen, dunstlosen Morgensonne lag. »Das ist irgendein Trick«, sagte er. »Eine Falle. Es ist zu einfach. Wir gehen schlafen und wachen auf, und ein Boot ist für uns bereitgestellt worden. Du hast recht: Ich glaube es nicht

»Es wurde nicht für uns ›bereitgestellt‹«, sagte sie. »Es ist seit Wochen hier. Sieh dir doch an, wie viel Vogeldreck darauf liegt und wie tief das Heck im Sand steckt.«

»Woher ist es gekommen?«, fragte er. »Es gibt keine Inseln in der Nähe.«

»Vielleicht haben Händler es von Mallorca gebracht und sind an Land gefasst worden«, sagte sie. »Oder sie haben es absichtlich zurückgelassen, für Mitglieder wie wir. Du hast gesagt, es könnte einen Rettungsdienst geben.«

»Und niemand hat es gesehen und Meldung erstattet, seitdem es hier liegt?«

»Uni hat keinen bis zu diesem Teil des Strandes vordringen lassen.«

»Lass uns warten«, sagte er. »Lass uns einfach die Augen offen halten und eine Weile warten.«

Widerstrebend sagte sie: »Na gut.«

»Es ist zu einfach«, sagte er.

»Warum muss alles kompliziert sein?«

Sie blieben in der Höhle. Sie aßen und wickelten die Decken wieder zu einem Bündel zusammen, ohne das Boot aus den Augen zu lassen. Sie krochen abwechslungsweise zum hinteren Teil der Höhle und vergruben ihre Abfälle im Sand.

Wellenkämme brachen sich unter der Rückseite der Außenfläche des Boots. Als die Ebbe kam, blieben sie aus. Vögel – vier Möwen und zwei kleinere braune – kreisten darüber und ließen sich auf der Windschutzscheibe und der Reling nieder.

»Es wird mit jeder Minute schmutziger«, sagte Lilac. »Und was ist, wenn es gemeldet wurde und heute der Tag ist, an dem es abgeholt wird?«

»Bitte flüstere, ja!«, sagte Chip. »Christus und Wei, ich wollte, ich hätte das Fernglas mitgebracht.«

Er versuchte, aus der Kompasslinse, einer Taschenlampenlinse und dem zusammengerollten Deckel des Kuchenkartons eines zu konstruieren, aber es klappte nicht.

»Wie lange warten wir noch?«, fragte sie.

»Bis es dunkel ist«, sagte er.

Niemand ging über den Strand, und außer dem Plätschern der Wellen und dem Flügelschlagen und den Schreien der Vögel war kein Laut zu hören.

Er ging allein zu dem Boot, langsam und vorsichtig. Es war älter, als es von der Höhe aus geschienen hatte. Unter der abblätternden weißen Farbe war zu erkennen, dass der Rumpf schon repariert worden war, und der Rand war verbeult und rissig. Er ging um das Boot herum, ohne es anzurühren, und suchte mit der Taschenlampe nach Anzeichen drohender Tücken und Gefahren – welcher Art sie sein könnten, wusste er auch nicht. Er entdeckte jedoch nichts. Er sah nur ein altes, auf unerklärliche Weise verlassenes Boot, das keine Mittelsitze mehr hatte, dem ein Drittel der Windschutzscheibe fehlte und das vollständig von getrocknetem weißem Vogelmist bedeckt war. Er knipste sein Licht aus und sah zu den Klippen empor – berührte die Reling des Bootes und wartete auf einen Alarm. Die Klippe blieb dunkel und verlassen im fahlen Licht des Mondes.

Er stieg auf den Rand, kletterte in das Boot und richtete den Lichtstrahl auf das Armaturenbrett. Es war leicht zu überblicken: Ein- und Ausschalter für die Antriebsrotoren und den Auftriebsrotor, ein Geschwindigkeitsregulator, der auf 100 km/h begrenzt war, ein Steuerknüppel, einige Pegel und Zähler, und ein Schalter, auf dem Kontrolliert und Automatisch stand und der auf Automatisch gestellt war. Er fand den Batteriekasten auf Deck zwischen den Vordersitzen und klappte ihn auf. Laut Aufschrift würde die Batterie im April 171, in einem Jahr also, verbraucht sein.

Er richtete den Lichtstrahl auf die Rotorengehäuse. Eines war mit Zweigen vollgestopft. Er fegte sie heraus, entfernte die restlichen einzeln mit den Fingern und beleuchtete den Rotor; er war neu und glänzte. Der andere Rotor war alt und seine Flügel, von denen einer ganz fehlte, vom Rost zerfressen.

Er setzte sich vor das Armaturenbrett und fand den Schalter für die Beleuchtung. Eine Miniaturuhr stand auf 5.11 Fr 27. Aug. 169. Er ließ einen Antriebsrotor an und dann den anderen. Sie knatterten, aber dann surrten sie leise und gleichmäßig. Er schaltete sie an, besah die Pegel und Zähler und schaltete das Licht des Armaturenbretts aus.

Auf der Klippe hatte sich nichts verändert. Keine Mitglieder waren aus Verstecken hervorgesprungen. Er blickte auf das Meer hinter ihm. Es war unbewegt und leer, und ein Silberstreifen erstreckte sich, immer schmaler werdend, bis zum Horizont, wo er unter dem Vollmond endete. Kein Boot kam Chip entgegen.

Er saß ein paar Minuten in dem Boot, dann stieg er aus und ging zu der Höhle zurück.

Lilac stand vor dem Eingang. »Ist es in Ordnung?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Es ist keine Botschaft oder etwas Derartiges darin zu finden; also wurde es nicht von Händlern zurückgelassen. Die Uhr ist letztes Jahr stehen geblieben, aber der Rotor ist neu. Den Auftriebsrotor wollte ich im Sand nicht ausprobieren, aber selbst wenn er funktioniert, ist der Bootsrand an zwei Stellen beschädigt und könnte auseinanderbrechen. Andererseits könnte uns das Boot direkt nach ’082 – zu einem kleinen Medizentrum an der Küste – befördern, obwohl es scheinbar der Telekontrolle entzogen ist.«

Lilac stand vor ihm und sah ihn an.

»Wir könnten es aber trotzdem versuchen«, sagte er. »Wenn das Boot nicht von Händlern zurückgelassen wurde, werden sie nicht an Land kommen, solange es hier ist. Vielleicht sind wir einfach zwei Mitglieder, die sehr viel Glück haben.« Er gab ihr die Taschenlampe.

Er holte den Karton und das Deckenbündel aus der Höhle und klemmte beides unter den Arm. Sie machten sich auf den Weg zum Boot. »Und was ist mit den Sachen zum Handeln?«, sagte sie.

»Wir werden es haben«, sagte er. »Ein Boot ist hundertmal wertvoller als Kameras und Verbandskästen.« Er schaute zu der Klippe hinauf. »So, ihr Ärzte!«, rief er. »Jetzt könnt ihr hervorkommen!«

»Pst, lass das!«, sagte sie.

»Wir haben die Sandalen vergessen«, sagte er.

»Sie sind im Karton.«

Er legte den Karton und das Bündel in das Boot, und sie schabten den Vogelmist mit Muschelstücken von der Windschutzscheibe. Sie hoben den Bug des Bootes hoch und schoben ihn vorwärts, auf das Meer zu. Dann machten sie dasselbe mit dem Heck.

Immer wieder hoben sie das Boot an beiden Enden hoch und zerrten es nach vorne, bis es endlich, unsicher schlingernd und schaukelnd, in der Brandung lag. Chip hielt es fest, während Lilac hineinkletterte, dann schob er es weiter hinaus und stieg selbst an Bord.

Er setzte sich vor das Armaturenbrett und schaltete die Beleuchtung an. Lilac saß auf dem Sitz neben ihm und schaute zu. Er konnte sehen, dass sie ihn ängstlich beobachtete. Nach kurzem Zögern schaltete er den Antriebsrotor und den Auftriebsrotor ein. Das Boot schwankte so heftig, dass sie von einer Seite zu anderen geschleudert wurden, und dann fing es an laut zu knattern. Er packte den Steuerknüppel, hielt ihn fest und drehte am Geschwindigkeitsregulator des Bootes. Das Boot schoss vorwärts, und das Schwanken und Rattern ließ nach. Er beschleunigte das Tempo auf zwanzig, auf fünfundzwanzig Stundenkilometer. Das Rattern hörte auf, und das Schwanken ging in ein gleichmäßiges Vibrieren über. Das Boot bewegte sich schwerfällig auf der Wasseroberfläche dahin.

»Es hebt sich nicht«, sagte er.

»Aber es fährt«, sagte sie.

»Und wie lange noch? Es ist nicht dafür gebaut, so tief im Wasser zu liegen, und die Außenfläche ist schon beschädigt.« Er beschleunigte das Tempo, und das Boot brauste durch die Schaumkronen der Wellen. Er betätigte versuchsweise den Steuerknüppel. Das Boot reagierte darauf. Er steuerte nach Norden, holte seinen Kompass hervor und verglich ihn mit dem Kursweiser. »Es bringt uns nicht nach ’082«, sagte er. »Bis jetzt wenigstens nicht.«

Sie schauten nach hinten und blickten zum Himmel auf. »Es kommt niemand«, sagte sie.

Er legte noch mehr Tempo zu, und das Boot hob sich ein bisschen höher aus dem Wasser heraus, aber das hatte den Nachteil, dass das Fahrzeug vom Anprall gegen die Wellen noch heftiger erschüttert wurde. Er drosselte die Geschwindigkeit wieder. Der Tachometer stand auf sechsundfünfzig. »Ich glaube, wir machen nicht mehr als vierzig«, sagte er. »Es wird hell sein, wenn wir ankommen – falls wir ankommen. Aber es wird schon klappen, nehme ich an. Ich werde schon nicht auf der falschen Insel landen. Ich weiß nicht, wie weit uns das vom Kurs abbringt.«

Zwei andere Inseln lagen bei Mallorca: vierzig Kilometer nordöstlich EUR 91 766, wo Kupfer gefördert wurde, und fünfundachtzig Kilometer südwestlich EUR 91 603, wo sich ein Algenverarbeitungs-Werk und ein Klimasteuerungs-Unterzentrum befanden.

Lilac schmiegte sich an Chip, um dem Wind und dem Gischt, die durch das Loch in der Windschutzscheibe drangen, auszuweichen. Chip hielt den Steuerknüppel. Er beobachtete den Kursweiser und die mondhelle See und die Sterne über dem Horizont.

Die Sterne erloschen, der Himmel wurde hell, und kein Mallorca war zu sehen. Rings umher war nur Meer, ruhig, glatt und endlos.

»Mit vierzig Stundenkilometer hätten wir sieben Stunden gebraucht«, sagte Lilac. »Wir sind aber schon länger unterwegs, nicht wahr?«

»Vielleicht sind wir nicht mit vierzig gefahren«, sagte Chip.

Oder vielleicht hatte er nicht stark genug oder zu stark gegen die Ostströmung des Meeres angekämpft. Vielleicht lag Mallorca schon hinter ihnen, und sie fuhren auf EUR zu. Oder vielleicht existierte Mallorca nicht mehr und war aus den vV-Landkarten getilgt worden, weil vV-Mitglieder es durch »Bomben« völlig zerstört hatten und die Familie nicht an Wahnsinn und Barbarei erinnert werden sollte?

Er steuerte das Boot weiterhin fast direkt – mit einer winzigen Abweichung nach Westen – nordwärts, senkte aber die Geschwindigkeit ein wenig.

Der Himmel wurde heller, und noch war keine Insel, kein Mallorca zu sehen. Schweigend suchten sie den Himmel ab, wobei einer dem Blick des anderen auswich.

Ein letzter Stern funkelte im Nordosten über dem Wasser – nein, auf dem Wasser. Nein – »Da drüben ist ein Licht«, sagte er.

Sie sah in die Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers und umklammerte seinen Arm.

Das Licht bewegte sich in einem Bogen hin und her, dann auf und ab, als ob es ihnen zuwinkte. Es war etwa einen Kilometer entfernt.

»Christus und Wei«, sagte Chip leise und steuerte darauf zu.

»Sei vorsichtig«, sagte Lilac. »Vielleicht ist es –«

Er nahm den Steuerknüppel in die andere Hand, zog das Messer aus der Tasche und legte es in seinen Schoß.

Das Licht ging aus, und sie sahen ein kleines Boot, in dem jemand saß und winkte, einen hellen Gegenstand schwenkte – einen Hut! Dann winkte er mit dem Arm und mit der leeren Hand.

»Ein Mitglied!«, sagte Lilac.

»Ein Mensch!«, sagte Chip. Mit einer Hand am Steuer und der anderen am Geschwindigkeitsregulator fuhr er weiter dem Boot entgegen, das wie ein Ruderboot aussah.

»Schau ihn an!«, sagte Lilac.

Der winkende Mann war klein und hatte einen weißen Bart. Sein Gesicht unter dem breitrandigen gelben Hut war rot und frisch. Er trug ein Kleidungsstück aus einem blauen Oberteil und weißen Hosenbeinen. Chip fuhr langsam auf das Ruderboot zu und stellte alle drei Rotoren ab.

Der Mann – er war über zweiundsechzig und hatte blaue Augen, fantastisch blaue Augen – lächelte, wobei braune, lückenhafte Zähne sichtbar wurden – und sagte: »Ihr seid wohl den Blödianen davongelaufen, was? Sucht ihr die Freiheit?« Sein Boot schwankte in ihren Bugwellen auf und ab. Er hatte Angeln und Netze dabei – Fischfang-Geräte.

»Ja«, sagte Chip. »Ja, so ist es. Wir sind auf der Suche nach Mallorca.« »Mallorca?«, sagte der Mann. Er lachte und kratzte seinen Bart. »Myorca!«, sagte er. »Nicht Mallorca – Myorca! Aber jetzt heißt es Freiheits-Insel. Myorca heißt es schon lange nicht mehr – Gott weiß wie lange, hundert Jahre nehme ich an. Freiheits-Insel sagt man jetzt.«

»Sind wir bald dort?«, fragte Lilac, und Chip sagte: »Wir sind Freunde. Wir sind nicht gekommen, um irgendwie zu stören, um euch ›heilen‹ zu wollen oder so etwas.«

»Wir sind selbst Unheilbare«, sagte Lilac.

»Wenn ihr es nicht wärt, würdet ihr nicht auf diesem Weg kommen«, sagte der Mann. »Dazu bin ich ja da: um nach Leuten wie euch Ausschau zu halten und sie in den Hafen zu lotsen. Ja, ihr kommt bald zu der Insel. Das da drüben ist sie.« Er zeigte nach Norden.

Und nun war am Horizont ganz klar ein flacher, dunkelgrüner Streifen zu erkennen. Über seiner westlichen Hälfte leuchteten rosarote Punkte – Berge im Glanz der ersten Sonnenstrahlen.

Chip und Lilac schauten hinüber, sahen einander an und wandten den Blick wieder nach Mallorca-Myorca, zur Freiheits-Insel.

»Haltet mal an«, sagte der Mann, »dann mache ich achtern fest und komme an Bord.«

Sie drehten sich auf ihren Sitzen um, sodass sie sich das Gesicht zuwandten. Chip nahm das Messer vom Schoß, lächelte und warf es auf den Boden. Er ergriff Lilacs Hände.

Sie lächelten sich an.

»Ich dachte, wir seien daran vorbeigefahren«, sagte sie.

»Das habe ich auch angenommen«, sagte er, »oder dass es überhaupt nicht mehr existiert.«

Sie lächelten sich zu, beugten sich vor und gaben sich einen Kuss.

»He, helft mir mal, ja?,« sagte der Mann, der sich mit seinen schmutzigen Fingern am Heck des Bootes festklammerte und zu ihnen hochsah. Sie sprangen auf und gingen zu ihm hinüber. Chip kniete sich auf den Rücksitz und half ihm herein.

Seine Kleider waren aus Stoff, sein Hut bestand aus flachen Streifen einer gelben Faser. Er war einen halben Kopf kleiner als sie und strömte einen merkwürdigen, starken Geruch aus. Chip erfasste seine harte Hand und schüttelte sie. »Ich heiße Chip«, sagte er, »und das ist Lilac.«

»Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen«, sagte der bärtige, blauäugige alte Mann und lächelte mit seinen hässlichen Zähnen. »Ich bin Darren Costanza.« Er schüttelte Lilac die Hand.

»Darren Costanza?«, sagte Chip.

»Das ist mein Name.«

»Ein wunderschöner Name!«, sagte Lilac.

»Gutes Boot habt ihr da«, sagte Darren Costanza und sah sich um.

»Es hebt sich nicht«, sagte Chip, und Lilac sagte: »Aber es hat uns hierher gebracht. Ein Glück, dass wir es gefunden haben.«

Darren Costanza lächelte ihnen zu. »Und eure Taschen sind voll von Kameras und allem Möglichen?«, sagte er.

»Nein«, sagte Chip, »wir haben beschlossen, nichts mitzunehmen. Es war gerade Flut und –«

»Oh, das war ein Fehler«, sagte Darren Costanza. »Habt ihr gar nichts mitgenommen?«

»Eine Pistole ohne Generator«, sagte Chip und zog sie aus der Tasche. »Und ein paar Bücher und ein Rasiermesser in dem Bündel hier.«

»Nun, das ist schon etwas wert«, sagte Darren Costanza. Er nahm die Pistole, sah sie an und befingerte ihren Griff.

»Wir haben das Boot zum Handeln«, sagte Lilac.

»Ihr hättet mehr mitnehmen sollen«, sagte Darren Costanza. Er drehte sich um und trat einen Schritt zurück. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu und schauten auf ihn und wollten ihm folgen, aber er drehte sich um, die Pistole in der Hand. Er hielt sie auf die beiden gerichtet und steckte Chips Pistole in die Tasche. »Das alte Ding schießt mit Kugeln«, sagte er, während er weiter rückwärts auf die Vordersitze zuging. »Peng, peng. Ins Wasser mit euch, aber ganz schnell. Los! Ins Wasser!«

Sie sahen ihn an.

»Springt ins Wasser, ihr blöden Stahlinge!«, schrie er. »Wollt ihr eine Kugel in den Kopf?« Er bewegte etwas am hinteren Ende der Pistole und richtete sie auf Lilac.

Chip schubste sie zum Bootsrand hinüber. Sie kletterte über die Reling auf den Rand und fragte: »Warum tat er das?«, und glitt ins Wasser. Chip sprang hinter ihr her.

»Weg von dem Boot!«, schrie Darren Costanza. »Haut ab! Schwimmt!« Sie schwammen ein paar Meter, wobei sich ihre Overalls im Wasser aufblähten wie Ballons; dann drehten sie sich, im Wasser tretend, um.

»Warum tust du das?«, fragte Lilac.

»Vielleicht kommst du von selbst darauf, Stahling!«, sagte Darren Costanza, der jetzt vor dem Armaturenbrett des Bootes saß.

»Wir ertrinken, wenn du uns im Stich lässt!«, schrie Chip. »Wir können doch nicht so weit schwimmen.«

»Wer hat euch geheißen, hierher zu kommen?«, sagte Darren Costanza, und das Boot schoss durch die Wellen davon, und das am Heck vertäute Ruderboot wirbelte Gischt auf.

»Du verfluchter Bruderhasser!«, brüllte Chip. Das Boot fuhr auf die Ostspitze der in weiter Ferne liegenden Insel zu.

»Er behält es für sich selbst!«, sagte Lilac. »Er wird es eintauschen!«

»Der kranke, selbstsüchtige –«, sagte Chip. »Christus, Marx, Wood und Wei, ich hatte das Messer in der Hand und ließ es zu Boden fallen! – ›Ich habe euch erwartet, um euch zum Hafen zu begleiten‹ – Er ist ein Pirat, nichts anderes, der verfluchte –«

»Nicht! Sei still!«, sagte Lilac und sah ihn verzweifelt an.

»Christus und Wei!«, sagte er.

Sie öffneten die Verschlüsse ihrer Overalls und wanden sich heraus. »Halt sie fest!«, sagte Chip. »Wenn wir sie verknoten, wirken sie wie Luftkissen.« »Ein anderes Boot!«, sagte Lilac.

Ein weißer Fleck zog rasch von Westen nach Osten vorüber, auf halbem Weg zwischen ihnen und der Insel.

Sie schwenkten die Overalls.

»Zu weit!«, sagte Chip. »Wir müssen schwimmen!«

Sie knüpften sich die Ärmel ihrer Overalls um den Hals und schwammen gegen das eiskalte Wasser an. Die Insel war unerreichbar fern – zwanzig Kilometer oder noch mehr.

Wenn wir auf unseren aufgeblähten Overalls Ruhepausen einlegen, könnten wir so weit vorankommen, dass wir vielleicht von einem anderen Boot entdeckt werden, dachte Chip. Aber wer würde darinsitzen? Mitglieder wie Darren Costanza? Übelriechende Piraten und Mörder? Hatte King recht gehabt? »Ich hoffe, ihr kommt dorthin«, sagte King, mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegend. »Alle beide. Ihr habt es verdient.« Kampf dem Bruderhasser!

Das zweite Boot war dem entführten nahe gekommen, das nun weiter nach Osten fuhr, wie um dem anderen auszuweichen.

Chip schwamm mit regelmäßigen Zügen und warf immer wieder einen Blick auf Lilac, die neben ihm schwamm. Würden sie oft genug eine Verschnaufpause einlegen können, um durchzuhalten und ihr Ziel zu erreichen? Oder würden sie ertrinken, ersticken, leblos durch das dunkle Wasser in die Tiefe gleiten ... Er verscheuchte das Bild und schwamm weiter, immer weiter. Das zweite Boot hatte angehalten; ihr eigenes war weiter von ihm entfernt als zuvor. Aber das zweite Boot schien jetzt größer, immer größer zu werden.

Chip hörte auf zu schwimmen und packte Lilac am Bein. Sie drehte sich keuchend um, und er zeigte mit dem Finger auf das Boot. Es hatte gar nicht angehalten, sondern gewendet, und kam jetzt auf sie zu.

Sie zupften an den Overallärmeln, lösten sie von ihren Hälsen und schwenkten die beiden Kleidungsstücke, das hellblaue und das leuchtend gelbe.

»Hier!«, riefen sie, »Hilfe! Hier! Hilfe!« – und winkten, sich so hoch wie möglich aus dem Wasser reckend, mit den Overalls.

Das Boot wendete in die andere Richtung, dann wieder scharf zurück. Es hielt auf sie zu, wurde größer, und eine Hupe ertönte – laut, laut, laut, laut, laut.

Lilac sank Chip entgegen. Sie hustete und spuckte Wasser. Er schob seine Schulter unter ihren Arm und stützte sie.

Das Boot zischte auf sie zu und hielt so abrupt, dass sie von einer Welle überspült werden. Nun lag es dicht vor ihnen – schneeweiß und in voller Größe. Es hatte nur einen Rotor, und auf seinem Rumpf stand in großen, grünen Buchstaben E. H.

»Festhalten!«, rief ein Mitglied, und etwas flog durch die Luft und klatschte neben ihnen ins Wasser: ein weißer Rettungsring an einem Tau. Chip griff danach, und das Tau straffte sich, weil ein junges Mitglied mit gelben Haaren daran zerrte. Er zog sie durch das Wasser. »Ich habe es gut überstanden«, sagte Lilac in Chips Armen. »Es ist nichts passiert.«

An der Seite des Bootes führten Sprossen nach oben. Chip nahm Lilac den Overall aus der Hand, bog ihre Finger um eine Sprosse und legte ihre andere Hand auf die nächsthöhere Sprosse. Sie kletterte hinauf. Das Mitglied beugte sich herunter, streckte den Arm aus und ergriff ihre Hand, um ihr behilflich zu sein. Chip stützte sie an den Füßen und stieg hinter ihr empor.

Hand in Hand und keuchend lagen sie auf warmen, festen Planken unter kratzigen Decken. Ihre Köpfe wurden, einer nach dem anderen, hochgehoben und ein kleiner Metallbehälter an ihre Lippen gedrückt. Die Flüssigkeit darin roch wie Darren Costanza. Sie brannte in der Kehle, aber nachdem sie sie geschluckt hatten, wurde ihnen überraschend warm im Magen.

»Alkohol?«, sagte Chip.

»Keine Angst«, sagte der gelbhaarige junge Mann, der auf sie herablächelte, während er den kleinen Behälter auf eine Feldflasche schraubte, »ein Schlückchen wird euch nicht um den Verstand bringen.« Er war etwa fünfundzwanzig, hatte einen kurzen, gleichfalls gelben Bart, normale Zähne und normale Haut und Augen. An einem braunen Gürtel um seine Hüften hing eine braune Tasche mit einer Pistole; er trug ein weißes, ärmelloses Stoffhemd und beige, kniefreie Hosen mit blauen Flicken. Als er die Flasche zur Seite legte, hakte er den Gürtel auf. »Ich hole eure Overalls«, sagte er. »Seht zu, dass ihr wieder zu Atem kommt.« Er legte den Pistolengurt neben die Flasche und stieg über den Rand des Bootes. Ein Platschen war zu hören, und das Boot schwankte.

»Wenigstens sind nicht alle so wie der andere«, sagte Chip.

»Er hat eine Pistole«, sagte Lilac.

»Aber er hat sie hiergelassen«, sagte Chip. »Wenn er – krank wäre, hätte er das nicht gewagt.«

Sie lagen schweigend, Hand in Hand, unter den kratzigen Decken, holten tief Luft und schauten zu dem klaren, blauen Himmel hinauf.

Das Boot neigte sich, und der junge Mann stieg mit ihren tropfenden Overalls wieder an Bord. Seine Haare, die seit Langem nicht mehr geschnitten waren, klebten in nassen Kringeln um den Kopf. »Geht’s schon besser?«, fragte er sie lächelnd.

»Ja«, sagten sie beide.

Er schüttelte die Overalls über dem Bootsrand aus. »Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig hier war, um euch vor diesem Lunki zu schützen«, sagte er. »Die meisten Einwanderer kommen aus Eur, deshalb halte ich mich gewöhnlich im Norden auf. Wir brauchen eben zwei Boote, nicht nur eines. Oder einen Sucher mit größerer Reichweite.«

»Bist du ein – Polizist?«, fragte Chip.

»Ich?« Der junge Mann lächelte. »Nein, ich bin von der Einwanderer-Hilfe. Die Gründung dieser Einrichtung, die neuen Einwanderern hilft, sich zurechtzufinden und an Land zu kommen, ohne zu ertrinken, wurde uns großzügigerweise gestattet.« Er hängte die Overalls über die Reling und zog die klatschnassen Falten auseinander.

Chip stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Kommt das oft vor?«

»›Einwanderer-Boote-Stehlen‹ ist hier ein beliebter Zeitvertreib«, sagte der junge Mann. »Aber es gibt andere, die sogar noch mehr Spaß machen.«

Chip setzte sich auf und Lilac neben ihm auch. Der junge Mann stand direkt vor ihnen, von rosigem Sonnenschein übergossen.

»Tut mir leid, dass ich euch enttäuschen muss«, sagte er, »aber ihr seid in kein Paradies gekommen. Vier Fünftel der Inselbevölkerung stammen von den Familien ab, die vor der Vereinigung hier lebten oder kurz danach gekommen sind. Sie sind beschränkt, unwissend, dumm, selbstgerecht – und sie verachten Einwanderer. ›Stahlinge‹ nennen sie uns. Wegen der Armbänder. Sogar nachdem wir sie abgenommen haben.« Er hob den Pistolengürtel von dem Sitz auf und legte ihn um die Hüften. »Wir nennen sie ›Lunkis‹«, sagte er, indem er die Gürtelschnalle schloss. »Aber sprecht das nie laut aus, sonst treten euch gleich ein paar von ihnen die Rippen ein. Das ist auch eine von ihren Lieblingsbeschäftigungen.«

Er sah sie wieder an. »Die Insel wird von einem General Costanza beherrscht«, sagte er, »mit der –«

»Der hat uns das Boot weggenommen«, sagten sie. »Darren Costanza!«

»Wohl kaum«, sagte der junge Mann. »Der General steht so früh nicht auf. Euer Lunki muss euch einen Bären aufgebunden haben.«

Chip sagte: »Der Bruderhasser!«

»General Costanza«, sagte der junge Mann, »hat die Armee und die Kirche hinter sich. Freiheit gibt es selbst für Lunkis kaum, und für uns überhaupt nicht. Wir müssen in vorgeschriebenen Bezirken, den Stahling-Städten, leben, die wir ohne triftigen Grund nicht verlassen dürfen. Wir müssen jedem Lunki-Polizisten Kennkarten vorweisen und können nur an die untergeordnetsten und anstrengendsten Posten herankommen.« Er hob die Flasche auf. »Wollt ihr noch ein bisschen?«, fragte er. »Es heißt Schnaps.«

Chip und Lilac schüttelten den Kopf.

Der junge Mann schraubte den Verschluss ab und goss bernsteinfarbene Flüssigkeit hinein. »Na, was habe ich noch vergessen?«, sagte er. »Wir dürfen kein Land und keine Waffen besitzen. Ich gebe meine Pistole ab, sobald ich einen Fuß an Land setze.« Er hob das Trinkgefäß und sah sie an. »Willkommen auf der Freiheits-Insel«, sagte er und trank.

Sie sahen einander entmutigt an, dann blickten sie zu dem jungen Mann auf.

»So nennen sie sie«, sagte er. »Freiheits-Insel.«

»Wir dachten, sie würden Neuankömmlinge freudig begrüßen«, sagte Chip, »weil sie helfen, die Familie fernzuhalten.«

Der junge Mann schraubte den Verschluss wieder auf die Flasche und sagte: »Hierher kommt keiner, von zwei oder drei Einwanderern im Monat abgesehen. Die Familie hat zum letzten Mal versucht, die Lunkis zu behandeln, als es noch fünf Computer gab. Seit Uni in Betrieb ist, wurde nicht ein einziger Versuch mehr unternommen.«

»Warum nicht?«, fragte Lilac.

Der junge Mann sah sie an. »Das weiß niemand«, sagte er. »Es gibt verschiedene Theorien. Die Lunkis glauben, dass entweder ›Gott‹ sie beschützt oder die Familie vor der Armee, einem Haufen versoffener, unfähiger Halunken, Angst hat. Die Einwanderer glauben – nun, einige von ihnen glauben, die Insel sei so verkommen und entvölkert, dass es sich für Uni einfach nicht lohnt, jeden hier zu behandeln.«

»Und andere denken –«, sagte Chip.

Der junge Mann wandte sich ab und stellte die Flasche auf ein Bord unter dem Armaturenbrett des Bootes. Er ließ sich auf dem Sitz nieder und drehte sich um, sodass er ihnen ins Gesicht blickte. »Andere«, sagte er, »und zu diesen gehöre ich, nehmen an, dass Uni die Insel und die Lunkis und alle verborgenen Inseln auf der ganzen Welt benutzt.«

»Sie benutzt?«, sagte Chip, und Lilac fragte: »Wie denn?«

»Als Gefängnisse für uns«, sagte der junge Mann.

»Warum liegt immer ein Boot am Strand?«, fragte er. »Immer, in Eur und in Afr – ein altes Boot, das noch die Überfahrt hierher schafft? Und warum hängen diese überklebten Landkarten so offen in den Museen? Wäre es nicht einfacher, Fälschungen herzustellen, auf denen die Inseln wirklich weggelassen sind?«

Sie starrten ihn an.

»Was tut man«, sagte er, indem er sie eindringlich ansah, »wenn man einen Computer für die Erhaltung einer vollkommen leistungsfähigen, vollkommen beständigen, vollkommen auf gegenseitige Zusammenarbeit ausgerichteten Gesellschaft programmiert? Welche Vorsorgen trifft man gegen biologische Missbildungen, ›Unheilbare‹, mögliche Störenfriede?«

Sie starrten ihn wortlos an.

Er beugte sich näher zu ihnen vor. »Man lässt, über die ganze Welt verteilt, ein paar ›nicht-vereinigte‹ Inseln übrig«, sagte er. »Man lässt Landkarten in Museen hängen und Boote an Stränden stehen. Der Computer braucht die Missratenen nicht aus dem Weg zu räumen, weil sie das selbst besorgen. Sie schweben glücklich in die nächste Isolierstation, wo Lunkis mit einem General Costanza an der Spitze warten, um ihre Boote zu stehlen, sie in Stahling-Städte zu pferchen und dafür zu sorgen, dass sie hilflos und harmlos bleiben – und zwar durch Mittel und Wege, auf die geistig hochstehende Jünger von Christus, Marx, Wood und Wei nicht im Traum verfallen würden.«

»Es kann nicht sein«, sagte Lilac.

»Viele von uns glauben, dass es sein kann«, sagte der junge Mann.

Chip sagte: »Uni hat uns hierher kommen lassen

»Nein«, sagte Lilac. »Es ist – zu sehr um drei Ecken herum gedacht.« Der junge Mann sah Chip an.

Chip sagte: »Ich hielt mich für so verflucht schlau!«

»Mir ging es ebenso«, sagte der junge Mann und lehnte sich zurück. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst.«

»Nein, es kann nicht sein«, sagte Lilac.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und dann sagte der junge Mann: »Ich führe euch jetzt ins Innere der Insel. Die E. H. wird eure Armbänder entfernen und euch registrieren lassen und für den Anfang fünfundzwanzig Dollar leihen.« Er lächelte. »So schlimm es auch ist«, sagte er, »besser als bei der Familie ist es doch. Stoff ist bequemer als Paplon – wirklich –, und selbst eine verdorbene Feige schmeckt besser als Vollnahrungskuchen. Ihr könnt Kinder haben, etwas zu trinken, eine Zigarette – ein paar Zimmer, wenn ihr hart arbeitet. Manche Stahlinge – Unterhaltungskünstler zumeist – werden sogar reich. Wenn ihr die Lunkis mit ›Herr‹ anredet und in der Stahling-Stadt bleibt, ist alles in Ordnung. Keine Raster, keine Berater und nicht ein einziges Mal im Jahr ›Marx’ Leben‹ im Fernsehen.«

Lilac lächelte. Chip lächelte ebenfalls.

»Zieht die Overalls an«, sagte der junge Mann. »Die Lunkis haben einen Horror vor Nacktheit. Sie ist ›gottlos‹.« Er wandte sich dem Armaturenbrett des Bootes zu.

Sie legten die Decken zur Seite und schlüpften in ihre feuchten Overalls. Dann standen sie hinter dem jungen Mann, während er das Boot auf die Insel zusteuerte, die grün und golden, von Bergen gekrönt und mit weißen, gelben, rosaroten und hellblauen Tupfen übersät, im Schein der gerade aufgegangenen Sonne vor ihnen lag.

»Wunderschön!«, sagte Lilac mit Entschiedenheit.

Chip, der den Arm um ihre Schultern gelegt hielt, blickte mit zusammengekniffenen Augen nach vorn und sagte kein Wort.