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In einer Nacht im August, als er nach weiteren Werken in Italiano suchte, fand er ein Buch in einer anderen Sprache, dessen Titel, Vers l’avenir, den Italiano-Wörtern verso und avvenire glich und offenbar Der Zukunft entgegen bedeutete. Er schlug das Buch auf und blätterte die Seiten durch, und plötzlich sprang ihm Wei Li Chun ins Auge. Der Name war zwanzig- oder dreißigmal als Seitenüberschrift gedruckt. Über anderen Abschnitten standen andere Namen: Mario Sofik, A. F. Liebman. Er begriff, dass das Buch eine Sammlung kurzer Schriften verschiedener Autoren war; und zwei stammten wirklich von Wei. Den Titel des einen, Le pas prochain en avant, erkannte er (pas hieß passo, avant avanti) als »Der nächste Schritt nach vorn« aus dem ersten Teil von Weis lebendige Weisheit.

Als ihm klar wurde, welchen Wert seine Entdeckung besaß, verschlug es ihm den Atem. Hier, in diesem kleinen braunen Buch, dessen Einband nur noch an ein paar Fäden hing, waren zwölf oder fünfzehn Seiten in einer Sprache aus der Zeit vor der Vereinigung, zu denen er eine genaue Übersetzung in seiner Nachttischschublade liegen hatte ’ Tausende von Wörtern, Verben in ihren verwirrend wechselnden Formen. Anstatt zu raten und zu kombinieren wie bei seinen fast nutzlosen Versuchen mit Italiano, konnte er innerhalb von Stunden eine solide Grundkenntnis dieser zweiten Sprache erwerben!

Den anderen sagte er nichts davon. Er steckte das Buch in die Tasche, setzte sich zu ihnen und stopfte seine Pfeife, als wäre nichts geschehen. Schließlich war der pas-undsoweiter-avant gar nicht unbedingt der »Nächste Schritt nach vorn«. Aber er war es doch, er musste es sein. Und er war es, das erkannte Chip, sobald er die ersten paar Sätze verglichen hatte. Er blieb die ganze Nacht wach und las und verglich sorgfältig, einen Finger auf der Zeile im Original und einen auf der Übersetzung. Er ackerte sich zweimal durch die vierzehn Seiten des Aufsatzes, dann begann er die Vokabeln in alphabetische Listen zu ordnen.

In der nächsten Nacht war er müde und schlief, aber in der übernächsten blieb er wieder auf, um zu arbeiten, nachdem Snowflake ihn besucht hatte.

Er fing an, auch in den Nächten zwischen den Zusammenkünften ins Museum zu gehen. Dort konnte er beim Arbeiten rauchen und nach anderen Français-Büchern suchen – Français hieß die Sprache; das Häkchen unter dem c blieb ihm ein Rätsel – und die Hallen im Schein der Taschenlampe durchstreifen. Im dritten Stock fand er eine Landkarte von 1951, die an mehreren Stellen kunstvoll überklebt war. Eur hieß hier »Europa«, und ein Teil davon, wo Français gesprochen wurde und die Städte merkwürdige und verlockende Namen wie »Paris« und »Nantes« und »Lyon« und »Marseille« trugen, hieß »Frankreich«.

Den anderen sagte er immer noch nichts. Er wollte King mit einer vollkommen beherrschten Sprache überraschen und Lilac damit entzücken. Bei den Zusammenkünften arbeitete er nicht mehr an Italiano. Eines Nachts fragte ihn Lilac danach, und er sagte wahrheitsgemäß, er habe seine Bemühungen aufgegeben. Sie wandte sich mit enttäuschter Miene ab, und er war glücklich, weil er die Überraschung kannte, die er ihr bereiten würde.

Die Nächte zum Sonntag waren verlorene Zeit – er schlief mit Mary KK – und die Nächte der Zusammenkünfte auch, obwohl Leopard nach Hushs Tod manchmal nicht kam und Chip dann im Museum zurückblieb, um aufzuräumen und später noch zu arbeiten.

In drei Wochen konnte er Français fließend lesen, nur hier und da stieß er auf ein Wort, das ihm rätselhaft blieb. Er fand mehrere Bücher in Français. Er las eines, dessen Titel in der Übersetzung Die Morde der purpurnen Sichel lautete, und ein anderes, Die Pygmäen des Äquatorwalds, und noch eines, Vater Goriot.

Er wartete, bis Leopard einmal nicht da war, und dann berichtete er ihnen die Neuigkeit. King sah aus, als habe er eine schlechte Nachricht vernommen. Er maß Chip mit den Augen, und sein Gesicht war ruhig und beherrscht, aber plötzlich älter und noch hagerer. Lilac freute sich wie über ein langersehntes Geschenk. »Du hast Bücher in der Sprache gelesen?«, sagte sie. Ihre Augen waren groß und glänzten, und ihre Lippen blieben geöffnet. Aber Chip konnte die Reaktionen der beiden nicht so genießen, wie er es sich vorgestellt hatte. Zu schwer lastete sein neues Wissen auf ihm.

»Drei Stück«, sagte er zu Lilac. »Und ein viertes habe ich schon zur Hälfte gelesen.«

»Das ist herrlich, Chip!«, sagte Snowflake. »Warum hast du ein Geheimnis daraus gemacht?« Und Sparrow sagte: »Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

»Gratuliere, Chip«, sagte King und nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Das ist eine Leistung, auch wenn dir der Aufsatz zu Hilfe gekommen ist. Du hast mich richtig in den Schatten gestellt.« Er sah auf seine Pfeife und hantierte an ihrem Stiel, um ihn gerade zu richten. »Was hast du bis jetzt herausgefunden?«, fragte er. »Irgendetwas von Interesse?«

Chip sah ihn an. »Ja«, sagte er. »Eine Menge von dem, was man uns beigebracht hat, stimmt. Es gab Verbrechen und Brutalität und Dummheit und Hunger. An jeder Tür war ein Schloss. Fahnen und Staatsgrenzen spielten eine große Rolle. Kinder warteten darauf, dass ihre Eltern starben, damit sie ihr Geld erbten. Die Vergeudung von Arbeitskraft und Material war unvorstellbar.«

Er sah Lilac an und lächelte ihr tröstend zu – ihr ersehntes Geschenk war am Zerbrechen. »Aber trotz allem«, sagte er, »haben sich die Mitglieder anscheinend stärker und glücklicher gefühlt. Sie konnten gehen, wohin sie wollten, tun, was sie wollten, etwas ›verdienen‹ und ›besitzen‹, wählen, immer wählen – und deshalb waren sie lebendiger als die Mitglieder von heute.«

King griff nach dem Tabak. »Nun, das entspricht doch ziemlich genau dem, was du erwartet hast, nicht wahr?«

»Ja, ziemlich«, sagte Chip. »Und da ist noch etwas.«

»Was denn?«, fragte Snowflake.

Den Blick auf King gerichtet, sagte Chip: »Hush hätte nicht sterben müssen.«

King sah ihn an. Die anderen auch. »Wovon sprichst du?«, fragte King und hörte auf, seine Pfeife zu stopfen.

»Weißt du es nicht?«, fragte ihn Chip.

»Nein«, sagte King. »Ich verstehe nicht.«

»Was meinst du denn?«, fragte Lilac.

»Weißt du es nicht, King?«, fragte Chip.

»Nein«, sagte King. »Was soll – ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf du hinauswillst. Wie kannst du aus Büchern aus der Zeit vor der Vereinigung etwas über Hush erfahren? Und wenn es doch möglich ist, warum sollte ich dann wissen, um was es sich handelt?«

»Dass man zweiundsechzig wird«, sagte Chip, »ist keine wunderbare Errungenschaft von Chemie und Genetik und Vollnahrungskuchen. Die Pygmäen der Äquatorwälder, deren Leben sogar nach den Maßstäben der Zeit vor der Vereinigung schwer war, wurden fünfundfünfzig und sechzig. Ein Mitglied namens Goriot wurde dreiundsiebzig, und niemand fand das besonders außergewöhnlich, und das geschah im frühen neunzehnten Jahrhundert. Es gab Mitglieder, die über achtzig, sogar über neunzig Jahre alt wurden.«

»Das ist unmöglich«, sagte King. »Der Körper hätte nicht so lange durchgehalten; das Herz, die Lungen ...«

»Das Buch, das ich gerade lese«, sagte Chip, »handelt von Mitgliedern, die 1991 lebten. Einer von ihnen hatte ein künstliches Herz. Er bezahlte die Ärzte dafür, dass sie es ihm anstelle seines eigenen Herzens einpflanzten.«

»Um alles ...«, sagte King. »Bist du sicher, dass du dieses Frandäs wirklich verstehst?«

»Français«, sagte Chip. »Ja, absolut sicher. Zweiundsechzig Jahre sind keine lange Lebensdauer, sondern eine relativ kurze.«

»Aber in dem Alter sterben wir«, sagte Sparrow. »Und warum, wenn wir nicht müssen?«

»Wir sterben gar nicht ...«, sagte Lilac und blickte von Chip zu King. »So ist es«, sagte Chip. »Man – das heißt Uni – lässt uns sterben. Uni ist auf Zweckmäßigkeit programmiert, Zweckmäßigkeit über alles und für ewig und immerdar. Er hat alle Daten in seinen Gedächtnisspeichern gehortet – und zwar nicht in den süßen rosaroten Spielzeugattrappen, die ihr bei eurem Besuch gesehen habt, sondern in scheußlichen stählernen Ungeheuern – und er hat entschieden, dass zweiundsechzig die optimale Zeit zum Sterben ist; besser als einundsechzig oder dreiundsechzig und besser als Versuche mit künstlichen Herzen. Wenn zweiundsechzig Jahre keinen neuen Rekord an Langlebigkeit darstellen, den wir glücklich erreicht haben – und dass das nicht zutrifft, weiß ich genau –, dann ist das die einzige Möglichkeit. Unsere Ersatzleute sind ausgebildet und warten, und dann weg mit uns! – Vielleicht ein paar Monate früher oder später, damit es nicht zu auffällig geplant wirkt. Nur für den Fall, dass einer krank genug ist, um etwas zu ahnen

»Christus, Marx, Wood und Wei«, sagte Snowflake.

»Ja«, sagte Chip. »Besonders Wood und Wei.«

»King?«, sagte Lilac.

»Ich bin erschüttert«, sagte King. »Jetzt verstehe ich, warum du dachtest, ich wüsste es, Chip.« Zu Snowflake und Sparrow sagte er: »Chip weiß, dass ich Chemotherapeut bin.«

»Und weißt du es nicht?«, fragte Chip.

»Nein.«

»Enthalten die Behandlungsapparate Gift oder nicht?«, fragte Chip. »Das musst du wissen.«

»Immer sachte, Bruder, ich bin ein altes Mitglied«, sagte King. »Ein eigentliches Gift nicht, nein, aber nahezu jeder Bestandteil der Behandlung könnte zum Tode führen, wenn die Dosis zu stark ist.«

»Und du weißt nicht, wie viel einem Mitglied verabreicht wird, wenn es zweiundsechzig ist?« »Nein«, sagte King. »Behandlungen werden durch Impulse gesteuert, die direkt von Uni zu den Apparaturen gelangen, und es gibt keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Ich kann Uni natürlich fragen, woraus eine bestimmte Behandlung besteht, aber wenn es wahr ist, was du sagst« – er lächelte – »wird er mich belügen, nicht wahr?«

Chip holte tief Luft und atmete aus. »Ja«, sagte er.

»Und wenn ein Mitglied stirbt«, sagte Lilac, »dann sprechen die Symptome für Altersschwäche?«

»Es sind Symptome, die ich als typisch für Altersschwäche gelernt habe«, sagte King. »Sie könnten sehr wohl für etwas ganz anderes typisch sein.« Er sah Chip an. »Hast du medizinische Bücher in dieser Sprache gefunden?«, fragte er.

»Nein«, sagte Chip.

King zog sein Feuerzeug hervor und schnippte es mit dem Daumen auf. »Es ist möglich«, sagte er. »Es ist durchaus möglich. Ich habe nie daran gedacht. Mitglieder werden zweiundsechzig Jahre alt, früher lebten sie kürzer, eines Tages werden sie länger leben, wir haben zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase. Feststehende Tatsachen!« Er ließ das Feuerzeug aufflammen und zündete seine Pfeife an.

»Es muss wahr sein«, sagte Lilac. »Weil es die logische Schlussfolgerung vom Denken Woods und Weis ist. Bestimme das Leben jedes Einzelnen, und schließlich wirst du auch den Tod jedes Einzelnen bestimmen.«

»Schrecklich«, sagte Sparrow. »Ich bin froh, dass Leopard nicht hier ist. Könnt ihr euch vorstellen, wie ihm zumute wäre? Nicht nur, dass Hush tot ist – er selbst kann jeden Tag dran sein. Wir dürfen ihm nichts sagen. Lasst ihn in dem Glauben, dass es auf natürliche Weise geschieht.«

Snowflake sah Chip böse an. »Warum musstest du es uns sagen?«, fragte sie.

King sagte: »Damit wir eine glückliche Art von Trauer erleben können. Oder war es eine traurige Art von Glück, Chip?« Er schaute ihn fragend an.

»Ich dachte, ihr würdet es wissen wollen«, sagte er.

»Wozu?«, sagte Snowflake. »Was können wir denn tun? Uns bei unseren Beratern beschweren?«

»Ich werde euch sagen, was wir tun können«, sagte Chip. »Der Gruppe mehr Mitglieder zuführen!«

»Ja«, sagte Lilac.

»Und wo finden wir sie?«, fragte King. »Wir können doch nicht einfach irgendeinen Karl oder eine Mary von der Straße auflesen!«

Chip sagte: »Soll das heißen, dass du an deinem Arbeitsplatz nicht an eine Aufstellung aller Mitglieder mit anomalen Neigungen in unserer Stadt herankommen kannst?«

»Nicht ohne Uni einen guten Grund dafür anzugeben«, sagte King. »Ein verdächtiger Schritt – und die Ärzte werden mich untersuchen, Bruder, was bedeutete, dass sie dich wieder untersuchen.«

»Aber es gibt andere Anomale«, sagte Sparrow. »Jemand schreibt ›Kampf Uni‹ auf die Rückseiten der Gebäude.«

»Wir müssen überlegen, wie sie uns finden können«, sagte Chip. »Durch irgendein Kennzeichen.«

»Und was dann?«, sagte King. »Was tun wir, wenn wir zwanzig oder dreißig sind? Einen Gruppenbesuch beantragen und Uni in die Luft jagen?«

»Daran habe ich schon gedacht«, sagte Chip.

»Chip!«, sagte Snowflake. Lilac starrte ihn an.

»Erstens«, sagte King lächelnd, »ist Uni unbezwinglich, und zweitens waren die meisten von uns schon dort, sodass uns kein zweiter Besuch gestattet würde. Oder sollen wir von hier nach Eur zu Fuß gehen? Und was fingen wir mit der Welt an, wenn alles außer Rand und Band wäre – die Fabriken stillgelegt und die Wagen zusammengestoßen und die Gongs verstummt –, sollten wir wirklich vorvereinigungsmäßig werden und ein Gebet sprechen?«

»Wenn wir Mitglieder finden könnten, die etwas von Computern und Mikrowellen verstehen«, sagte Chip, »die Uni kennen, könnten wir vielleicht einen Weg finden, seine Programmierung zu verändern.«

»Wenn wir solche Mitglieder finden könnten«, sagte King, »wenn wir sie für uns gewinnen könnten, wenn wir nach EUR-Strich-eins kommen könnten! Siehst du nicht, was du verlangst? Das Unmögliche, weiter nichts. Deshalb habe ich dir gesagt, du solltest deine Zeit nicht an deine Bücher verschwenden. Wir können nichts ändern. Das ist Unis Welt, geht dir das nicht in den Schädel? Die Welt wurde ihm vor fünfzig Jahren übergeben, und er wird seine Aufgabe erfüllen – die verfluchte Familie über das verfluchte Weltall zu verbreiten –, und wir werden unsere Aufgabe erfüllen. Und dazu gehört, mit zweiundsechzig zu sterben und keine Fernsehsendung zu versäumen. Alles, was wir an Freiheit erhoffen können, finden wir hier, Bruder: eine Pfeife und ein paar Witze und ein bisschen außerplanmäßigen Beischlaf. Wir wollen doch nicht verlieren, was wir erreicht haben, oder?«

»Aber wenn wir andere ...«

»Sing ein Lied, Sparrow«, sagte King.

»Ich will nicht«, sagte sie.

»Sing ein Lied!«

»Also gut.«

Chip warf King einen Blick zu, stand auf und verließ den Raum. Er irrte durch die dunkle Ausstellungshalle, stieß mit der Hüfte gegen etwas Hartes und setzte schimpfend seinen Weg fort. Er ließ den Verbindungsgang und den Lagerraum weit hinter sich. Seine Stirn reibend, stand er auf schwankenden Beinen vor den juwelenglitzernden Königen und Königinnen, stummen Zuschauern, dunkler als das Dunkel. »King!«, sagte er, »hält sich tatsächlich für einen König, der brudermörderische ...«

Schwach vernahm er Sparrows Gesang und den Saitenklang ihres Instruments und Schritte, die näher kamen. »Chip?« Es war Snowflake. Er drehte sich nicht um. Sie berührte seinen Arm. »Komm doch zurück«, sagte sie.

»Lass mich in Ruhe, ja?«, sagte er. »Lass mich nur ein paar Minuten allein!«

»Komm doch«, sagte sie. »Du bist kindisch.«

Er wandte sich zu ihr um. »Sei so gut und geh!«, sagte er. »Höre Sparrow zu oder rauche deine Pfeife.«

Sie schwieg, dann sagte sie: »Ist gut«, und ging weg.

Tief atmend wandte er sich wieder den Königen und Königinnen zu. Seine Hüfte schmerzte, und er rieb sie. Es war zum Wahnsinnigwerden, wie King ihm jeden Gedanken abschnitt und alle Mitglieder nach seiner Pfeife ...

Sie kam zurück. Er wollte schon sagen, sie solle sich wegscheren, aber dann beherrschte er sich doch. Er atmete mit zusammengebissenen Zähnen ein und drehte sich um.

Es war King, der auf ihn zukam. Sein graues Haar und sein grauer Overall waren in dem düsteren Licht aus dem Verbindungsgang zu erkennen. Dicht vor Chip blieb er stehen. Sie sahen einander an, und King sagte: »Es war nicht meine Absicht, mich so scharf auszudrücken.«

»Wieso hast du dir noch keine von diesen Kronen aufgesetzt?«, fragte Chip. »Und ein Staatsgewand angelegt. Nur dieses Medaillon – Hass, das ist nicht genug für einen echten vorvereinigungsmäßigen König.«

King schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich bitte dich um Verzeihung.«

Chip zog die Luft ein und stieß sie erst nach einer Weile wieder aus. »Jedes Mitglied, das wir für uns gewinnen könnten«, sagte er, »würde neue Gedanken und Informationen bedeuten und Möglichkeiten, an die wir vielleicht noch nicht gedacht haben.«

»Neue Gefahren auch«, sagte King. »Versuche doch, es von meinem Standpunkt aus zu sehen.«

»Das kann ich nicht«, sagte Chip. »Lieber lasse ich mich wieder voll behandeln, als mich mit diesem bisschen zufriedenzugeben.«

»Einem Mitglied in meinem Alter kommt dieses ›bisschen‹ ganz hübsch vor.«

»Du bist zwanzig oder dreißig Jahre näher an zweiundsechzig als ich; dir sollte daran gelegen sein, die Dinge zu ändern.«

»Wenn eine Veränderung möglich wäre«, sagte King, »würde ich mich vielleicht darum bemühen, aber gegen Chemotherapie plus Computerverwaltung ist nichts zu machen.«

»So sicher ist das gar nicht«, sagte Chip.

»Doch«, sagte King, »und ich möchte nicht erleben, dass dieses ›bisschen‹ in die Brüche geht. Dass du außerplanmäßig hierher kommst, bedeutet bereits ein zusätzliches Risiko. Aber nichts für ungut« – er hob eine Hand – »damit will ich nicht sagen, du sollst nicht mehr kommen.«

»Ich komme schon wieder«, sagte Chip, und dann: »Mach dir keine Sorgen, ich bin vorsichtig.«

»Gut«, sagte King. »Und wir werden weiterhin Ausschau nach Anomalen halten, aber vorsichtig, ohne Kennzeichen.« Er streckte die Hand aus.

Chip schüttelte sie nach kurzem Zögern.

»Komm jetzt mit zurück«, sagte King, »die Mädchen regen sich auf.« Chip ging mit ihm auf den Verbindungsgang zu.

»Was hast du da vorhin gesagt: Die Gedächtnisspeicher seien stählerne Ungeheuer?«, fragte King.

»Das sind sie auch«, sagte Chip. »Riesige gefrorene Blöcke. Viele Tausend. Mein Großvater hat sie mir gezeigt, als ich ein Junge war. Er hat geholfen, Uni zu bauen.«

»Der Bruderhasser.«

»Nein, er hat es bereut. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Christus und Wei, er würde ein prachtvolles Mitglied abgeben, wenn er noch lebte!«

In der Nacht darauf saß Chip in dem Lagerraum und las und rauchte, als plötzlich jemand »Grüß dich, Chip« sagte – Lilac stand mit einer Taschenlampe in der Tür.

Chip erhob sich und sah sie an.

»Bist du böse, weil ich dich unterbreche?«, fragte sie.

»Natürlich nicht, ich freue mich, dich zu sehen«, sagte er. »Ist King hier?«

»Nein«, sagte sie.

»Komm herein«, sagte er.

Sie blieb unter der Tür stehen. »Ich möchte, dass du mich diese Sprache lehrst«, sagte sie.

»Mit Vergnügen. Ich wollte dich schon fragen, ob du die Listen haben willst. Komm herein.«

Er sah zu, wie sie hereinkam, erinnerte sich an die Pfeife in seiner Hand, legte sie weg und ging zu den Relikten hinüber. Er packte einen der Stühle, die sie benutzten, drehte ihn mit der Sitzfläche nach oben und trug ihn zum Tisch zurück. Sie hatte die Taschenlampe eingesteckt und blickte auf die aufgeschlagenen Seiten in dem Buch, das er gelesen hatte. Er stellte den Stuhl neben den seinen.

Sie drehte das Buch um und sah auf den Umschlag.

»Es heißt ›Ein Grund zur Leidenschaft‹«, sagte er. »Das ist ziemlich klar, aber der Rest ist nicht so leicht zu erraten.«

Sie sah wieder auf die aufgeschlagenen Seiten. »Sieht zum Teil aus wie Italiano«, sagte sie.

»So bin ich auch dahintergekommen«, sagte er. Er bot ihr den Stuhl an, den er für sie geholt hatte.

»Ich habe den ganzen Tag gesessen«, sagte sie. »Setz du dich. Fang an!« Er setzte sich und zog seine zusammengefalteten Listen unter dem Stapel Français-Bücher hervor. »Die kannst du behalten, so lange du magst«, sagte er, während er sie entfaltete und auf dem Tisch ausbreitete. »Ich weiß jetzt schon ziemlich alles auswendig.«

Er erklärte ihr, wie die Verben innerhalb gewisser Gruppen nach dem gleichen Schema verändert wurden, um Tempus und Subjekt auszudrücken, und wie die Adjektive, entsprechend dem Substantiv, zu dem sie gehörten, verschiedene Formen annahmen. »Es ist kompliziert«, sagte er, »aber wenn du einmal den Bogen raushast, ist das Übersetzen ziemlich leicht.« Er übersetzte ihr eine Seite aus Ein Grund zur Leidenschaft. Victor, der mit Aktien verschiedener Industriegesellschaften handelte – er war das Mitglied mit dem eingepflanzten künstlichen Herzen –, machte seiner Frau Caroline Vorwürfe, weil sie ein einflussreiches Regierungsmitglied unfreundlich behandelt hatte.

»Faszinierend«, sagte Lilac.

Chip sagte: »Ich staune, wie viele unproduktive Mitglieder es damals gab: diese Börsenmakler und Juristen, Soldaten und Polizisten, Bankiers, Steuereinnehmer ...«

»Sie waren nicht unproduktiv«, sagte sie. »Sie stellten keine Gegenstände her, aber sie machten es den Mitgliedern möglich, nach ihrer Façon zu leben. Sie produzierten die Freiheit oder erhielten sie zumindest.«

»Ja«, sagte er, »ich nehme an, du hast recht.«

»Bestimmt habe ich recht«, sagte sie, rastlos den Tisch umkreisend.

Er überlegte einen Augenblick. »Die Mitglieder, die vor der Vereinigung lebten, haben das Leistungsprinzip zugunsten der Freiheit aufgegeben. Und wir haben das Gegenteil getan.«

»Wir haben es nicht getan«, sagte Lilac. »Es wurde für uns getan.« Sie drehte sich um und fragte ihn ins Gesicht: »Hältst du es für möglich, dass die Unheilbaren noch am Leben sind? Dass ihre Nachkommen überlebt haben und irgendwo, auf einer Insel oder in einem Gebiet, das die Familie nicht benutzt, eine Gesellschaft bilden?«

»Au«, sagte er und rieb sich die Stirn. »Sicher ist es möglich. Vor der Vereinigung haben Mitglieder auf den Inseln überlebt, warum nicht auch danach?«

»Das meine ich eben«, sagte sie, zu ihm zurückkommend. »Seitdem gab es fünf Generationen –«

»Die von Krankheiten und Schicksalsschlägen heimgesucht wurden –«

»Sich aber nach Belieben fortpflanzten!«

»An eine Gesellschaft glaube ich nicht«, sagte er, »aber eine Siedlung könnte es geben –«

»Eine Stadt«, sagte sie. »Dort haben die Klugen, Starken gelebt.«

»Das ist eine Idee!«, sagte er.

»Es ist möglich, nicht wahr?« Sie beugte sich zu ihm vor, die Hände auf dem Tisch, die großen Augen fragend aufgerissen; die Erregung färbte ihre rosigen Wangen dunkler.

Er sah sie an. »Was meint King?«, fragte er. Er wich einen Schritt zurück und sagte: »Als ob ich mir das nicht denken könnte.«

Plötzlich war sie wütend, und ihre Augen blitzten wild. »Du hast ihn schrecklich behandelt gestern Nacht!«, sagte sie.

»Schrecklich? Ich ihn

»Ja!« Sie sprang vom Tisch auf. »Du hast ihn ins Verhör genommen, als wärst du ... Wie konntest du auch nur denken, er wüsste, dass Uni uns umbringt, und sagte uns nichts davon?«

»Ich glaube immer noch, dass er es wusste.«

Sie sah ihm zornig ins Gesicht.

»Er wusste es nicht!«, sagte sie. »Er hat keine Geheimnisse vor mir, das kannst du mir glauben!«

»Bist du vielleicht seine Beraterin?«

»Ja!«, sagte sie. »Genau das bin ich, falls du es wissen willst.«

»Das gibt es nicht!«, sagte er.

»Doch!«

»Christus und Wei!«, sagte er. »Stimmt das wirklich? Du bist Beraterin? Das ist die letzte Klassifizierung, an die ich gedacht hätte. Wie alt bist du denn?«

»Vierundzwanzig.«

»Und du bist seine Beraterin?« Sie nickte.

Er lachte. »Ich hätte auf Gartenarbeit getippt«, sagte er. »Du riechst nach Blumen, weißt du das? Richtig nach Blumen.«

»Ich trage ihren Duft«, sagte sie.

»Du trägst ihn?«

»Den Duft von Blumen, in einer Flüssigkeit, die King für mich gemacht hat. Er nennt sie Parfüm.«

Er starrte sie an. »Parfum!«, sagte er und schlug das Buch vor sich auf. »Ich dachte, es sei eine Art Desinfektionsmittel. Sie hat es in ihr Bad geschüttet. Natürlich!« Er wühlte in den Listen, ergriff seinen Bleistift, strich etwas aus und schrieb dafür ein neues Wort. »Wie dumm von mir!«, sagte er. »Parfum bedeutet Parfüm, Wohlgeruch, Blumen in einer Flüssigkeit. Wie hat er das fertiggebracht?«

»Du darfst nicht wieder behaupten, er führe uns hinters Licht.«

»Gut, ich werde es nicht sagen.« Er legte den Bleistift beiseite.

»Alles, was wir haben, verdanken wir ihm«, sagte sie.

»Aber was ist das schon?«, sagte er. »Nichts – wenn wir es nicht dazu benutzen, mehr zu erstreben. Und das scheint er nicht zu wollen.«

»Er ist vernünftiger als wir.«

Er sah sie an, wie sie ein paar Meter von ihm entfernt vor den Relikten stand. »Was würdest du tun«, fragte er, »wenn wir herausfänden, dass es tatsächlich eine Stadt der Unheilbaren gibt?«

Sie wandte den Blick nicht von seinen Augen ab. »Hingehen«, sagte sie.

»Und von Pflanzen und Tieren leben?«

»Wenn es sein muss.« Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Buch hin. »Victor und Caroline scheinen ihr Abendessen genossen zu haben.«

Er lächelte und sagte: »Du bist wirklich eine vV-Frau, nicht wahr?«

Sie sagte nichts.

»Würdest du mich deine Brüste sehen lassen?«, fragte er.

»Wozu?«, sagte sie.

»Nur so, aus Neugier.«

Sie öffnete das Oberteil ihres Overalls und klappte es auseinander. Ihre Brüste waren rosigbraune, sanfte Wölbungen, die sich im Rhythmus ihres Atems bewegten, oben glatt und straff, weiter unten gerundet. Die stumpfen, rosigen Spitzen schienen sich unter seinem Blick zusammenzuziehen und dunkler zu werden. Er fühlte sich seltsam erregt, als ob er gestreichelt würde.

»Sie sind hübsch«, sagte er.

»Ich weiß, dass sie hübsch sind«, sagte sie. Dabei zog sie ihren Overall zu und drückte den Verschluss fest. »Das ist auch etwas, das ich King verdanke. Früher habe ich immer gedacht, ich sei das hässlichste Mitglied in der ganzen Familie.«

»Du?«

»Bis er mich überzeugt hat, dass es nicht stimmt.«

»Also gut«, sagte er, »du verdankst King sehr viel. Wir anderen auch. Weswegen bist du zu mir gekommen?«

»Ich habe es dir gesagt – um diese Sprache zu lernen.«

»Unsinn«, sagte er und stand auf. »Du willst, dass ich nach Orten suche, die die Familie nicht benutzt, nach Anzeichen für die Existenz deiner ›Stadt‹. Weil ich es tun werde und er nicht. Weil ich nicht ›vernünftig‹ oder alt bin oder mich damit begnüge, mich über das Fernsehen lustig zu machen.«

Sie schritt auf die Tür zu, aber er packte sie an der Schulter und riss sie herum. »Bleib hier!«, sagte er. Sie sah ihn verängstigt an, und er ergriff ihr Kinn und küsste sie auf den Mund, presste ihren Kopf zwischen seine Hände und stieß seine Zunge gegen ihre geschlossenen Zähne. Sie stemmte sich gegen seine Brust und verdrehte den Kopf. Er dachte, sie würde damit aufhören und nachgeben und seinen Kuss empfangen, aber sie tat es nicht, sondern wehrte sich immer heftiger, und endlich ließ er sie los, und sie stieß ihn von sich.

»Das ist – das ist schrecklich!«, sagte sie. »Mich zu zwingen! Das ist – ich bin noch nie so festgehalten worden!«

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Sieh mich an. Ich zittere«, sagte sie. »Wei Li Chun, ist das deine Art, zu lieben – indem du zum Tier wirst? Das ist fürchterlich

»Ich bin ein menschliches Wesen«, sagte er. »Wie du.«

»Nein«, sagte sie. »Ich würde keinem wehtun oder ihn so festhalten.« Sie fasste sich ans Kinn und bewegte die Kiefer hin und her. »Was glaubst du, wie die Unheilbaren küssen?«, fragte er.

»Wie Menschen, nicht wie Tiere.«

»Entschuldige«, sagte er. »Ich liebe dich.«

»Gut«, sagte sie. »Ich liebe dich auch – wie ich Leopard und Snowflake und Sparrow liebe.«

»So meine ich es nicht«, sagte er.

»Aber ich meine es so«, sagte sie. Sie sah ihn an, ging seitlich zum Ausgang und sagte: »Das darfst du nie wieder tun. Es ist schrecklich!«

»Willst du die Listen?«, fragte er.

Sie sah ihn an, als wolle sie Nein sagen, zögerte und sagte dann: »Ja. Deswegen bin ich gekommen.«

Er drehte sich um und sammelte die Listen auf dem Tisch ein, faltete sie und nahm Père Goriot von dem Bücherstapel. Sie kam herüber, und er gab ihr beides.

»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er.

»Schon gut«, sagte sie. »Aber tu es nicht wieder!«

»Ich werde nach Orten suchen, die die Familie nicht benutzt«, sagte er. »Ich werde die Landkarten im MEF durchgehen und sehen, ob –«

»Das habe ich schon getan«, sagte sie.

»Sorgfältig?«

»So sorgfältig, wie ich konnte.«

»Ich werde es noch einmal tun«, sagte er. »Millimeter für Millimeter. Anders können wir keinen Anfang finden.«

»Gut«, sagte sie.

»Warte eine Sekunde. Ich gehe jetzt auch.«

Sie wartete, während er seine Rauchsachen wegräumte und alles in dem Raum wieder so ordnete, wie es vorher gewesen war, dann gingen sie zusammen durch die Ausstellungshalle und die Rolltreppe hinunter.

»Eine Stadt der Unheilbaren«, sagte er.

»Es ist möglich«, sagte sie.

»Auf jeden Fall lohnt es sich, danach zu suchen«, sagte er.

Sie traten auf den Gehweg hinaus.

»In welche Richtung gehst du?«, fragte er.

»Nach Westen.«

»Ich begleite dich ein Stück.« »Nein«, sagte sie. »Wirklich, je länger du ausbleibst, desto leichter könnte jemand sehen, dass du die Raster nicht berührst.«

»Ich berühre den Rand und verdecke den Raster mit meinem Körper. Ganz raffiniert.«

»Nein«, sagte sie. »Bitte, geh deinen eigenen Weg.«

»Also gut«, sagte er. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und küsste ihre Wange.

Sie entzog sie ihm nicht; er fühlte, wie sich ihr Körper unter seiner Hand erwartungsvoll anspannte.

Er küsste ihren Mund, der warm war und weich und ganz leicht geöffnet. Sie drehte sich um und ging fort.

»Lilac«, sagte er und ging ihr nach.

Sie wandte sich um und sagte: »Nein, bitte geh, Chip«, und drehte sich wieder um und ging weiter.

Er blieb unsicher stehen. Ein anderes Mitglied tauchte auf und kam auf sie zu.

Voll Hass und voll Liebe sah er sie davonschreiten.