23. KAPITEL

 

Wo lag nur ihr Messer? Sie würde es nicht rechtzeitig in die Finger bekommen. Und sie konnte auch ihre Peitsche nicht rechtzeitig lösen. Sie ließ ihr Hemd zu Boden fallen und schloss ihre Hand dann um die Pistole, die sie in den Bund ihrer Jeans gesteckt hatte.

Sigismund packte sie plötzlich und riss sie an seine Brust. Er schwang sein Schwert nach vorn und drückte es gegen ihren Hals. »Ich hätte dich schon vor Jahren umbringen sollen. Jedrek hat darauf bestanden, es selbst zu tun, aber er ist jetzt nicht mehr. Du und deine widerlichen Freunde werdet für seinen Mord bezahlen.«

Vanda hielt den Atem an. Sie fürchtete, das Schwert würde ihr den Hals durchtrennen, wenn sie auch nur einatmete.

Er drückte das Schwert fester gegen ihren Hals. »Vielleicht will ich erst noch etwas Spaß mit dir haben. Ich wollte dich schon immer ficken.«

Sein widerliches Grunzen drang an ihr Ohr. Doch mit einem Mal fiel sein Schwert auf den Boden. Vanda wirbelte herum.

Sigismund war nur noch ein Haufen Staub. Ihre Schwester stand vor ihr, starrte seine Überreste an, und das Schwert zitterte in ihrer Hand.

»Marta?«, flüsterte Vanda.

»Ich... ich bin endlich frei«, flüsterte Marta auf Polnisch. Sie hob ihren Blick, bis sie Vanda in die Augen sah. Dann fiel auch ihr Schwert zu Boden.

»Du hast mir das Leben gerettet.« Vanda konnte es nicht fassen.

Martas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe unsere kleine Schwester umgebracht. Ich hatte es nicht vor. Ich wollte es nicht.« Sie sah den Haufen Staub an. »Er hat mich so lange kontrolliert.« Als würde sich all ihre Wut plötzlich entladen, trampelte sie jetzt auf seinem Staubhaufen herum Sie schrie und stampfte mit den Füßen dabei auf. »Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!«

»Marta.« Vanda griff nach ihren Schultern. »Es ist schon gut. Wir sind jetzt zusammen.«

Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Kannst du mir vergeben?«

»Ja.« Ganz eng zog Vanda ihre Schwester an sich und umarmte sie. Marta zitterte in ihren Armen. »Kannst du mir helfen, Robby hier rauszubringen?« Sie ließ ihre Schwester los und trat hinter Robby, um die Ketten an seinen Handgelenken zu lösen.

Marta stand stumm da und betrachtete Robby. Sie weinte noch immer.

»Robby!«

Vanda hörte Angus nebenan brüllen. »Wir sind hier!«

Im selben Moment quetschte der Schotte sich durch die enge Öffnung. Beim Anblick von Marta blieb er stehen und hob sein Schwert.

»Es ist schon in Ordnung, Angus. Sie gehört zu mir.« Vanda löste die Kette, die Robbys Handgelenke zusammenhielt, und er fiel kraftlos nach vorne.

Gerade noch rechtzeitig fing Angus ihn auf. »Oh, Robby, mein Junge.«

»Hunger«, flüsterte Robby.

»Natürlich.« Angus griff unter seinen Sporran und zog eine Flasche Blut heraus. Er riss den Verschluss ab und legte sie an Robbys Mund.

Robby schluckte gierig.

»Was ist draußen los?«, fragte Vanda gespannt.

»Die Schlacht ist vorbei. Es hat den Malcontents nicht gefallen, von uns aufgespießt und von wilden Tieren angefallen zu werden. Sie haben sich teleportiert. Wo kommen die Wölfe auf einmal her?«

»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Vanda. »Sie wollten Phil beweisen, was sie können.«

»Mir haben sie es jedenfalls bewiesen.« Angus nickte anerkennend. Dann zog er einen Flachmann aus seinem Sporran. »Hier, Lad. Etwas Blissky hilft gegen die Schmerzen.«

»Ich schaffe das.« Robby nahm die Flasche in seine zitternden, blutigen Hände. Doch sein Griff wurde schwächer.

Angus fing die Flasche und hielt sie Robby an den Mund. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Ich bringe die Bastarde um, die dir das angetan haben.«

»Robby!« Aus der großen Höhle nebenan drangen weitere Rufe zu ihnen.

»Hier drinnen!«, rief Angus zurück.

Jean-Luc, Connor und Phil quetschten sich hinein. Vandas Herz machte beim Anblick von Phil einen Sprung. Er hatte einige Schnitte und Kratzer, aber ansonsten sah er absolut wunderbar aus.

Überrascht schaute er sie an und lächelte dann verstohlen. Er hatte sicher gewusst, dass sie zusammen mit den Wölfen gekommen war. Dann erblickte er Robby, und sein Lächeln verblasste.

»Oh, Lad.« Connor kniete sich vor Robby hin. »Wir bringen dich schnell zurück zu Romatech, damit du verarztet werden kannst.«

»Habt ihr Casimir gefunden?«, fragte Angus.

»Nay«, erwiderte Connor. »Sieht aus, als hätte der Bastard sich wieder teleportiert.«

»Ich sage den anderen, dass wir Robby gefunden haben.« Jean-Luc klopfte Robby auf die Schulter und verließ dann die kleine Höhle.

»Hey, Robby.« Phil berührte sein Knie und sah dann zu Vanda. »Geht es dir gut?«

Sie nickte und deutete dann auf den Staub, der im ganzen Raum verteilt war. »Sigismund hat versucht, mich umzubringen, aber meine Schwester hat mich gerettet.« Sie zog Marta zu sich. »Sie ist jetzt auf unserer Seite.«

»Willkommen.« Phil schüttelte Marta die Hand. »Danke, dass du Vanda gerettet hast.«

Marta nickte. Ihr strömten immer noch Tränen über das Gesicht.

Mit einem Mal wurde sich Vanda der Situation bewusst, und auch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte ihre Schwester zurück. Und Phil hatte die Schlacht überlebt. »Ich bin froh, dass es dir gut geht.«

»Ich bin auch froh, dass es dir gut geht.« Seine Augen glänzten vor Liebe und Sehnsucht.

»Jetzt umarm sie schon endlich, Lad«, knurrte Connor. »Uns machst du doch nichts vor.«

Überglücklich packte Phil seine große Liebe und drückte sie eng an sich. »Ich hatte solche Angst, als mir klar wurde, dass du hier bist.« Er küsste sie auf die Stirn. »Aber danke, dass du gekommen bist. Die Jungen und die Japaner waren eine große Hilfe.«

»Ich würde mich gern mit den Japanern unterhalten«, sagte Angus. »Phil, kannst du sie bitten, mit uns zu Romatech zu kommen?«

»Sicher.« Phil ließ Vanda los. »Ich würde auch gerne die Jungen mitnehmen, sie brauchen ein Zuhause und eine Schule.«

»Sind sie Waisen?«, fragte Angus.

»Verbannt, wie ich es war«, antwortete Phil. »Sie haben kein Zuhause.«

»Jetzt haben sie eines.« Angus half Robby beim Aufstehen. »Ich bringe ihn zu Romatech. Ihr kümmert euch um die anderen.« Angus legte einen Arm um Robbys Schultern, und sie verschwanden.

»Gehen wir.« Phil nahm Vandas Hand, doch sie wich zurück.

»Ich... ich bringe Marta in Howards Hütte. Wir haben einiges aufzuholen. Wir sehen uns später.«

Besorgt schaute Phil sie an. »Bist du sicher?«

»Natürlich. Wir kommen zurecht.« Jetzt nur nicht weinen, dachte Vanda traurig. »Ich werde dich immer lieben, Phil. Ich weiß, du hast eine großartige Zukunft vor dir.«

Verwirrt nickte er ihr zu.

Vanda griff nach ihrer Schwester und teleportierte sich davon.

****

Zwei Stunden später ließ Phil die Jungen in einem der Konferenzzimmer bei Romatech allein, damit sie ihre Anmeldungen für Shannas Schule ausfüllen konnten. Er ging den Korridor zu den Behandlungszimmern hinab, um nachzusehen, wie es Robby ging. Der Raum war voller Menschen, die auf Neuigkeiten warteten.

Er setzte sich neben Brynley. »Was machst du noch hier?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich warte darauf, dass einer deiner Vampirfreunde mich nach Hause bringt. Wie geht es den Jungs?«

»Sie schreiben sich gerade an der Schule ein. Bist du sicher, dass du dich nicht für eine Lehrstelle bewerben willst?«

»Ich weiß nicht. Ich habe ein gutes Leben in Montana.«

»Du könntest auf dem Schulgelände wohnen und die Jungs jeden Tag sehen.«

»Und meine Eltern nie wiedersehen? Und Howell und Glynis?« Sie sah ihn verärgert an. »Du willst nicht mal deine jüngeren Geschwister sehen?«

Phil seufzte. »Ich bin jetzt hier zu Hause.«

»Wo ist Vanda? Ich dachte, ihr zwei seid unzertrennlich.«

»Sie wollte eine Weile mit ihrer Schwester allein sein. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie hat nicht abgehoben.«

»Gut. Dann hat sie endlich Vernunft angenommen.«

Irgendwie kam Phil das alles komisch vor. »Was hast du zu ihr gesagt?«

»Ich habe ihr erklärt, wer du bist. Ich habe ihr gesagt, was für eine großartige Zukunft vor dir liegt.«

»Das hat sie zweimal zu mir gesagt.«

Seine Schwester nickte. »Ich denke, sie versteht jetzt, wohin du gehörst. Du wirst eines Tages ein bedeutender Anführer sein.«

»Vielleicht. In etwa dreihundert Jahren«, knurrte Phil. »Hast du das auch erwähnt?«

»Es geht dir ohne sie besser. Sie kann dir nicht einmal Kinder schenken.«

»Glaubst du, das interessiert mich?«, brüllte Phil, ohne darauf zu achten, dass alle im Wartezimmer ihn anstarrten. Er senkte seine Stimme. »Ich liebe sie, Bryn. Ich habe vor, sie zu heiraten. Und dagegen kannst du verdammt noch mal nichts unternehmen.«

Wütend starrte Brynley ihn an. »Du könntest alles haben. Reichtum, Macht und Ansehen. Du würdest das alles aufgeben für eine Vampirfrau...«

»Mit lila Haaren«, beendete Phil ihren Satz. »Ja, darauf kannst du wetten.«

Verärgert verließ er das Wartezimmer und ging auf dem Korridor auf und ab. Er könnte sich von Phineas in Howards Jagdhütte teleportieren lassen. Und was würde er dann tun? Wie konnte er Vanda überzeugen, dass sie die perfekte Frau für ihn war?

Außer ihr kam keine andere infrage. Vor Jahren, als er gegen seinen Vater rebelliert und im Stadthaus Unterschlupf gefunden hatte, war er Vanda zum ersten Mal begegnet. Mit ihren lila Haaren und ihrer Fledermaus-Tätowierung hatte er in ihr sofort die Rebellin erkannt. Eine weitere Ausgestoßene. Sie waren beide gleich, und sie verbargen beide ein leidenschaftliches, wütendes Biest in ihrem Inneren.

»Phil, wie geht es dir?«

Er drehte sich um und erblickte Father Andrew, der den Korridor hinabkam. »Gut, Father. Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Ich wollte mich mit dir unterhalten.« Der Priester zog seinen Terminkalender heraus und blätterte durch die Seiten. »Ich habe Nachforschungen über Vandas Familie angestellt, um zu sehen, ob ich ihre Schwester ausfindig machen kann.«

»Wir haben sie gefunden. Vanda ist jetzt gerade bei ihr. Sie raufen sich zusammen.«

Erstaunen und Freude erfüllten Father Andrew. »Ausgezeichnet.« Er riss eine Seite aus seinem Terminkalender und reichte sie Phil. »Ich dachte, das hier ist vielleicht interessant für dich.«

Phil las, was auf dem Papier geschrieben stand, und sein Herz wurde weit. Das war der perfekte Weg, Vanda zurückzugewinnen. »Danke, Father.«

»Gern geschehen, mein Sohn.« Er klopfte Phil auf den Rücken. »Dann werde ich bald eine weitere Hochzeit abhalten dürfen?«

»Sie wussten es?«

Die Augen des Priesters funkelten. »Dass ihr verbotenen Handlungen nachgeht? Keine Sorge. Ich glaube an Vergebung.«

Vergebung. Wenn Vanda ihrer Schwester vergeben konnte, dann war es vielleicht an der Zeit, dass er seinem Vater vergab. Immerhin, wenn sein Vater ihn nicht verbannt hätte, wäre er nie in der Welt der Vampire gestrandet. Und er hätte Vanda nicht gefunden. »Ich glaube auch an Vergebung. Und an die Liebe.«

Father Andrew lächelte. »Dann bist du wahrhaft gesegnet.