6. KAPITEL

 

Sie ging ihm aus dem Weg. Oder wenigstens schien es Phil so. Bis Donnerstagabend hatte Vanda kaum mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt. Gerechterweise musste man sagen, dass es nicht nur ihre Schuld war. Sie konnte nichts dafür, am Tag nicht ansprechbar zu sein.

Als sie am Mittwoch im Stadthaus angekommen waren, hatte er Vanda und ihren Freundinnen Zeit gelassen, sich in ihren Schlafzimmern im zweiten Stock einzuleben. Er hatte Phineas angerufen und ihn gebeten, die Schlange aus Vandas Wohnung zu teleportieren. Phil hatte ihn auch gebeten, in der Nacht ein paar Mal im Club nach dem Rechten zu sehen. Phineas übernahm diese Aufgabe nur zu gern, als er hörte, dass viele heiße Babes im Horny Devil waren.

Als Phil wieder nach oben gegangen war, um nach den dreien zu sehen, hatten sie sich bereits in den Club teleportiert. Pamela hatte ihm eine Nachricht geschrieben und kündigte ihre Rückkehr für halb sechs am nächsten Morgen an. Keine Nachricht von Vanda.

Er stellte seinen Wecker auf fünf Uhr, damit er sich duschen, rasieren und anziehen konnte, ehe sie wiederkam. Die drei trafen kurz vor Phineas und Jack ein. Alle nahmen noch einen Snack zu sich, ehe sie sich in ihre Zimmer zurückzogen und in den Todesschlaf fielen. Vor den anderen Männern war es unmöglich, mit Vanda zu flirten. Wieder war er in der Rolle ihres Wächters gefangen. Er war auch ihr Sponsor für das Anti-Aggressions-Training. Das machte die ganze Sache doppelt schwierig.

Aber er war auch doppelt so entschlossen. Am Donnerstagabend, bei Sonnenuntergang, wartete er in der Küche mit dem Frühstück auf die Vampire. Cora Lee und Pamela kamen ohne Vanda. Sie hatte die beiden gebeten, ihr eine Flasche in ihr Zimmer zu bringen. Als Phil anbot, ihr das Frühstück nach oben zu bringen, sahen sich die beiden amüsiert an.

Mit der warmen Flasche in der Hand klopfte er an die Tür. Lauter als nötig teilte sie mit, sie sei noch nicht angezogen, und er solle die Flasche an der Tür abstellen und in zehn Minuten wiederkommen. Er kam nach fünf zurück, aber sie hatte sich bereits zur Arbeit teleportiert.

Offensichtlich ging sie ihm aus dem Weg. Ein langer Lauf durch den Central Park baute etwas von seiner Frustration ab. Dann holte er sich eine Pizza, ging zurück ins Stadthaus und machte es sich im Wohnzimmer vor dem Breitbildfernseher bequem, um zu essen. Das Digital Vampire Network lief, und »Live with the Undead« fing gerade an.

Corky Courrant trug einen engen roten Pullover, um ihre falschen Brüste zu betonen. Der rote Lippenstift passte perfekt zu ihrem falschen Lächeln. Mit einem ihrer liebsten Ziele begann sie den Prominentenklatsch - dem berühmten Model Simone. Anscheinend hatte Simone sich mit einem reichen Playboy-Vampir aus Monaco getroffen, und der hatte sie für ein anderes Model sitzen gelassen. Corky war es gelungen, Material von einem Kampf zwischen Simone und Inga auf der Jacht des Playboys zu bekommen.

Mit einem Seufzen griff Phil nach der Fernbedienung. Sein Daumen war bereits auf dem Aus-Knopf, als er erstarrte. Corky hatte gerade ein neues Bild aufgerufen. Er selbst war zu sehen, wie er Max in Vandas Nachtclub auf den Boden drückte. Ein Gaffer in der Menge musste das Bild aufgenommen und an Corky weitergeleitet haben.

»Wieder einmal kam es zu einem Ausbruch der Gewalt im berüchtigten Nachtclub Horny Devils in New York City«, verkündete Corky mit einem boshaften Lächeln. »Aus verschiedenen Quellen wurde lautbar, dass ein ehemaliger Tänzer, der von Clubbesitzerin Vanda Barkowski schlimm misshandelt wurde, in der Nacht von Dienstag mit einem Messer bewaffnet in den Club eingedrungen ist. Es ist ein Wunder, dass niemand dabei getötet wurde. Schon wieder.«

Phils Bild verschwand vom Schirm, und die Kamera zoomte dicht an Corkys Gesicht heran. Sie setzte einen tragischen, schmerzerfüllten Blick auf. »Meine lieben Zuschauer, das ist derselbe Club, in dem mich im letzten Dezember niemand anders als Vanda Barkowski selbst brutal angegriffen hat. Ich habe immer noch Albträume von dieser grausamen Attacke!«

Vampire träumten in ihrem Todesschlaf überhaupt nicht. Sie waren tot. Phil schüttelte den Kopf.

»Falls Sie diesen schrecklichen Vorfall vergessen haben sollten, hier können Sie sich die Bilder noch einmal ansehen.« Corky machte eine Handbewegung, und auf einer Bildschirmhälfte wurde die Aufnahme von Vanda eingespielt, die kreischte und über einen Tisch hechtete, um Corky zu würgen. Auf der anderen Bildschirmhälfte sah man Corky, die sich dramatisch schüttelte und sich dann schwach gegen ihren Tisch fallen ließ.

Als wäre nichts geschehen, setzte Corky sich wieder auf, lebhaft wie immer. »Ich muss Ihnen dringend raten, liebe Freunde, diesem ruchlosen Club fernzubleiben. Ich wiederhole, gehen Sie nicht ins Horny Devils. Es ist ein böser Ort voller Gewalt, und wir können nur hoffen, dass bald Gerechtigkeit herrscht und er von diesem Planeten getilgt wird. Vanda Barkowski muss für ihre Verbrechen bezahlen!«

»Mist.« Phil schaltete den Fernseher aus.

Am besten stemmte er im Keller einige Gewichte, um sich abzureagieren. Vielleicht sollte er anschließend in Vandas Club nachsehen, ob es ihr gut ging. Sie hatte vielleicht von Corkys Boykott gehört, und als ihr Trainings-Sponsor musste er sicherstellen, dass sie nichts tat, was sie später bereute.

Mit einem Schnaufen begann er seine zweite Einheit Bizeps-Übungen. Anscheinend war ihm jede Ausrede recht, um Vanda zu sehen. Und es war ebenso offensichtlich, dass sie ihn nicht sehen wollte.

Warum ging sie ihm aus dem Weg? Sie hatte auf ihren ersten Kuss so gut reagiert. Sie hatte ihrem Begehren nachgegeben, ihren bebenden Körper eng an seinen geschmiegt. Sie hatte seinen Kuss mit einer Leidenschaft erwidert, die sein Herz zum Rasen brachte. Und ihre wunderschönen grauen Augen waren rot geworden. Er wusste, dass das ein gutes Zeichen war.

Bei dem ganzen Nachdenken hatte er nicht mitgezählt, wie viele Wiederholungen er schon gemacht hatte. Es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn immer wieder Vandas nackter Körper in seinem Kopf auftauchte. Er hatte versucht, nicht hinzusehen, als er sie umgezogen und gesäubert hatte. Etwa zwei Sekunden lang. Dann hatte er die blauen Flecken gesehen, die diese verdammte Schlange verursacht hatte, und er wollte Max mit seinen bloßen Händen auseinanderreißen.

Und Vanda wollte ihn einfach nur vergessen. Keine Toten mehr auf ihrem Gewissen, hatte sie gesagt. Und sie hatte angenommen, er hätte Max umgebracht. Was waren ihre Worte gewesen?

Ich verstehe die Wut, die einen dazu bringt, ein Leben zu nehmen.

Was war in ihrer Vergangenheit geschehen? Er wusste, dass sie aus Polen stammte. Hatte der Zweite Weltkrieg sie so traumatisiert, dass sie den Schutz des Harems suchen musste, um sich zu erholen?

Er duschte, während er weiter überlegte. Laut Connor neigte Vanda schon immer zu Wutausbrüchen, schon seit er sie zum ersten Mal getroffen hatte, 1950. Fünfzig Jahre ungelöste, aufgestaute Wut waberten in ihrem Innern, und er war sich sicher, ein in Polen durchlittenes Trauma war die Ursache dafür. Es war gut möglich, dass die Ursache ihrer Wut auch mit ihrer Angst, sich mit ihm einzulassen, zu tun hatte.

War es eine Frage des Vertrauens? Hatte jemand, den sie liebte, sie in der Vergangenheit hintergangen?

Ohne Antworten kam er nicht weiter, und von Vanda würde er sie offensichtlich nicht bekommen. Wie jeder Krieger, der eine Belagerung plant, musste er sein Ziel genau studieren und die Schwachpunkte finden, mit denen sich ihre Rüstung aufbrechen ließ. Er lächelte entschlossen. Vanda war sich dessen nicht bewusst, aber die Jagd war in vollem Gange.

Während ihrer Zeit im Harem waren Darcy und Maggie ihre besten Freundinnen gewesen. Darcy und ihr Ehemann dienten zurzeit als Tagwache für Angus und sein Team in der Ferienanlage von Apollo. Da sie dort in geheimer Mission unterwegs waren, konnte er unmöglich anrufen.

Aber Maggie war erreichbar. Die Sonne war in Texas, wo sie mit ihrem Mann, Pierce O'Callahan, lebte - früher bekannt als DVNs Seifenoper-Star Don Orlando de Corazon -, bereits untergegangen. Phil suchte in der Datenbank von MacKay nach ihrer Nummer.

Glücklicherweise ging Maggie sofort ans Telefon. »Phil! Wie geht es dir? Bist du noch in Texas?«

»Nein, ich bin wieder in New York.« Phil erklärte ihr, wie Vanda vom Gericht des Zirkels beauftragt worden war, sich einem Anti-Aggressions-Training zu unterziehen. Dann erzählte er ihr von dem Vorfall mit der Schlange.

»Heilige Maria und Joseph!«, keuchte sie. »Ich sollte ihr beistehen. Ist es in Ordnung, wenn ich mich teleportiere, um nach ihr zu sehen?«

»Ja, sicher.« Er ging an die Sicherheitskonsole an der Vordertür, um den Alarm auszuschalten.

In der Zwischenzeit berichtete Maggie ihrer Familie von ihrem Notfallbesuch in New York. Einige Minuten später erschien sie in der Eingangshalle.

»Phil!« Sie grinste ihn an. »Es ist kaum möglich. Ich glaube, du siehst jetzt noch besser aus als früher.«

Er lächelte, als er den Alarm wieder einschaltete. »Und du noch texanischer.«

Maggie hatte ihren kurzen Rock, die schweren Springerstiefel und den engen Pullover gegen ein Paar Jeans, Cowboystiefel und ein besticktes Denim-Hemd getauscht. Über ihrer Schulter hing eine Handtasche mit einem Saum aus Lederfransen.

»Das passiert, wenn man das glamouröse Leben eines Ranch-Besitzers führt.« Sie umarmte ihn und trat dann mit einem erstaunten Keuchen zurück. »Du bist ein Formwandler!«

Phil war so überrascht, dass er sie einen Augenblick lang nur anstarren konnte. »Du weißt von Formwandlern?«

»Ja. Pierce' Onkel ist ein Werkojote und seine Schwester ein Werpräriehase.« Maggie verzog das Gesicht. »Du kannst dir vorstellen, wie angespannt es im Haus wird, wenn der Mond voll ist. Niemand will, dass Onkel Bob seine Nichte verschlingt.«

»Das ist wirklich unangenehm. Ich nehme an, sie sind gebissen worden?« Normalerweise verwandelten sich Mitglieder einer Familie sonst nicht in verschiedene Kreaturen.

»Ja.« Maggie sah ihn mitleidig an. »Ist dir das auch passiert? Bist du auch in Texas gebissen worden?«

»Nein, ich bin als Wandler geboren.«

Sie riss die Augen weit auf. »Wirklich?« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr schwarzes Haar, das immer noch zu einem kurzen Bob geschnitten war. »Ich glaube, das habe ich nie gemerkt, weil ich von Wandlern nichts wusste, ehe ich nach Texas gezogen bin. Jetzt erkenne ich den Duft.«

»Viele Vampire wissen nichts davon. Und wir hätten gerne, dass das so bleibt, falls es dir nichts ausmacht.«

»Natürlich.« Maggie tat, als würde sie mit einem Reißverschluss ihre Lippen verschließen. »Und jetzt erzähl mir, was es alles Neues gibt bei den Exharemsdamen.«

Phil führte sie in die Küche, und sie wärmte sich eine Flasche Chocolood in der Mikrowelle auf, während er erklärte, dass er Informationen über Vandas Vergangenheit suchte. »Verstehst du, ich glaube, sie schleppt Probleme mit sich herum, denen sie sich seit Jahren nicht stellt. Wenn wir Vanda zwingen können, sich ihnen zu stellen, können wir sie vielleicht von ihren Wutausbrüchen befreien.«

»Interessant«, murmelte Maggie, während sie heißes Chocolood in eine Teetasse goss.

»Na ja, ich habe Psychologie studiert, also glaube ich, an meiner Theorie ist etwas dran.«

»Ich meinte nicht deine Theorie.« Maggie stellte ihre Tasse und die Untertasse auf den Küchentisch und setzte sich. »Ich finde es interessant, dass ich dich nach allen Haremsdamen gefragt habe, du aber nur von Vanda redest.«

Phil zuckte mit den Schultern. »Ich mache mir natürlich Sorgen, weil ich mich gemeldet habe, ihr Sponsor zu sein.«

Maggie nippte an ihrem Getränk. »Und warum hast du dich gemeldet?«

»Irgendwer musste es tun. Niemand sonst hat sich freiwillig gemeldet, und ich habe immerhin einige Erfahrungen in Psychologie.« Als Maggie ihn durchdringend anstarrte, hob er ergeben die Hände. »Schon gut, ich gebe es ja zu. Ich bin hoffnungslos in sie verknallt. Schon immer gewesen.«

»Ich wusste immer, dass zwischen euch beiden irgendetwas ist. Aber warum meinst du, es ist hoffnungslos?«

Phil nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie. »Erst konnte ich mich nicht mit ihr einlassen, weil ich ihr Wächter war, und ehrlich gesagt, habe ich auch gedacht, dass sie nur mit mir spielt, weil sie sich langweilt.«

»Sie hat sich gelangweilt, aber ich glaube, sie hat dich auch wirklich gemocht.«

»Das ist mir erst kürzlich klar geworden.« Er dachte an ihren Kuss zurück, und wie leidenschaftlich sie sich ihm geöffnet hatte. Und dann erinnerte er sich an die Jahre, die ungenutzt vergangen waren, ohne dass er sie umworben hatte. Mit einem Seufzer trank er etwas von seinem Bier.

»Jetzt dürfte es nicht mehr hoffnungslos sein«, meinte Maggie.

Er setzte sich ihr am Tisch gegenüber. »Ich bin ihr Sponsor beim Anti-Aggressions-Training, also darf ich mich nicht mit ihr einlassen. Und ich bin wieder ihr Wächter. Theoretisch gesehen ist sie verboten.«

»Theoretisch?«

Während er an dem Bier nippte, zuckte er gedankenverloren mit den Schultern. »Ich bin nicht sehr theoretisch veranlagt.«

Lächelnd sah Maggie ihn an. »Mehr ein Mann der Tat, was? Das ist vielleicht genau das, was Vanda braucht.«

Er stellte seine Bierdose auf dem Tisch ab. »Sie geht mir aus dem Weg. Ich glaube, sie... hat Angst.«

»Ah.« Maggie fuhr mit dem Finger am Rand ihrer Teetasse entlang. »Sie war immer sehr auf der Hut, neue Beziehungen einzugehen. Sie kannte mich schon zehn Jahre, ehe sie zugeben konnte, dass wir Freunde sind. Aber wenn sie dich erst ihren Freund nennt, kämpft sie wie ein Tiger, um dich zu verteidigen. Wusstest du, dass sie meinem Ehemann Gewalt angedroht hat, falls er mich einmal nicht gut behandelt?«

Phil lächelte. »Das klingt ganz nach ihr. Sie hat auch versucht, Ian zu verteidigen, im letzten Dezember.«

»Sie hat mir einmal anvertraut, dass Ian ihrem jüngsten Bruder sehr ähnlich sieht. Aber als ich sie nach ihrer Familie gefragt habe, hat sie sich geweigert, darüber zu sprechen.«

»Weißt du, was passiert ist?«

»Nein, nicht so richtig. Als sie sich dem Harem angeschlossen hat, war sie wie ein... verwundetes Tier. Sie hat mit niemandem gesprochen. Hat uns nicht ins Gesicht gesehen. Es war so traurig.« Maggie verstummte und legte die Stirn in Falten, während sie sich erinnerte.

»Erzähl mir mehr«, bat Phil leise.

»Ich hatte Angst, dass sie verhungert. Es gab Nächte, in denen sie sich geweigert hat zu... jagen.« Maggie sah ihn entschuldigend an. »Das war, bevor es synthetisches Blut gab.«

»Ich verstehe. Und Vanda wollte nicht jagen? War das nicht schmerzhaft für sie?«

»Oh, ja. Schrecklich. Ich habe sie angefleht, mit mir auf die Jagd zu gehen. Und selbst dann hat sie nicht mehr Blut genommen als unbedingt nötig, um am Leben zu bleiben. Es schien, als wollte sie sich selbst bestrafen.«

»Warum quälte sie sich so?«

»Ich habe sie gefragt, aber sie hat es mir nie verraten.« Maggie leerte ihr Chocolood aus und brachte ihr Geschirr dann an die Spüle zum Auswaschen. »Sie erinnerte mich an einen Spatz mit gebrochenen Flügeln. Ganz braun und eingeschüchtert. Sie hat dieses alte braune Kleid getragen, und ihr Haar war auch braun. Ein schönes Braun, mit roten Strähnen durchzogen, aber sie hat es zu einem festen Knoten zusammengenommen. Es war, als würde sie in ein Loch kriechen und nie mehr fliegen wollen.«

Phil saß schweigend da. Das war nicht die Vanda, die er kannte. Soweit er es beurteilen konnte, lagen bei ihr ein posttraumatisches Stresssyndrom und eine Depression vor. An den Nachwirkungen litt sie vielleicht immer noch. Schließlich war sie von einem Extrem ins andere gewechselt, vom zerbrechlichen braunen Spatz zu einer lilahaarigen, Peitsche schwingenden Wildkatze, die zu Wutausbrüchen neigte. Die echte Vanda - die, vor der sie selbst Angst hatte - lag irgendwo dazwischen.

Er trank sein Bier aus. »Hat sie sich nie jemandem anvertraut?«

»Nein.« Maggie stellte ihre Tasse und die Untertasse in den Geschirrspüler. »In ihrem ersten Jahr im Harem hat sie kaum geredet. George, der damals Zirkelmeister war, hat uns allen ein kleines monatliches Taschengeld gegeben. Cora Lee, Pamela und ich sind damit shoppen gegangen oder ins Kino. Vanda hat ihr Geld für Malsachen verwendet.«

Phil setzte sich überrascht zurück. »Sie hat gemalt?«

»Ja. Jede Nacht. Die ganze Nacht lang.« Maggie verzog das Gesicht. »Schreckliche Bilder. Überall rote Farbe. Blut, Leichen, Hakenkreuze, Stacheldraht, Wölfe...«

»Wölfe?«

»Ja.« Maggie schauderte. »Sie hat sie mit riesigen, scharfen Zähnen gemalt.«

Er musste schlucken. Was zum Henker hatten Wölfe mit dem Krieg zu tun? Oder mit Vanda?

»Und dann, eines Nachts, ist sie durchgedreht«, erzählte Maggie mit leiser Stimme. »Sie hat alle Bilder im Hinterhof zu einem Haufen aufgeschichtet und angezündet. Sie hat auch ihre Malsachen verbrannt und nie wieder einen Pinsel angefasst.«

Phil zerdrückte die leere Bierdose in seiner Faust. »Hat sie gesagt, warum sie aufgehört hat zu malen?«

»Nur, dass sie sich nicht mehr erinnern wollte.« Maggie seufzte. »Aber sie erinnert sich natürlich trotzdem. Wir alle erinnern uns an die Schmerzen aus unserer Vergangenheit.«

Ausgelöst durch Maggies Worte stiegen seine eigenen schmerzhaften Erinnerungen auf. Es war neun Jahre her, dass sein Vater ihn verbannt hatte. Neun Jahre lang hatte er seine Familie nicht gesehen. Während der ersten Jahre erhielt er Briefe von seiner Schwester. Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt, also hinterließ sie ihm die Briefe in seiner Jagdhütte in Wyoming, in der Hoffnung, er würde sie finden.

Er war seit vier Jahren nicht mehr in der Hütte gewesen. Wozu auch? Dem Rudel seines Vaters konnte er sich nie wieder anschließen. Dieser Teil seines Lebens war vorbei.

Maggies Miene erhellte sich plötzlich. »Ich weiß, was helfen könnte. Vor ein paar Jahren hat Darcy die Haremsdamen für diese Realityshow interviewt. Vielleicht ist hier irgendwo eine Kopie.«

Maggie rannte aus der Küche ins Wohnzimmer. » Iiih. » Sie rümpfte die Nase über die Pizzareste, die noch auf dem Couchtisch standen.

»Ich hole sie schon.« Er schloss den Karton, ging damit in die Küche und stellte ihn in den Kühlschrank. Als er wieder zurückkam, hatte Maggie schon eine CD in den DVD- Spieler gesteckt.

»Gefunden!« Sie zeigte ihm die Hülle, auf der stand »The Sexiest Man on Earth«.

»An die Show erinnere ich mich.« Phil machte es sich auf der Couch bequem. »Da haben die drei das Geld gewonnen, mit dem sie den Nachtclub finanziert haben.«

»Und Darcy hat den heißesten Mann gewonnen«, fügte Maggie mit einem Lachen hinzu. Sie fand Vandas Interview im Menü und setzte sich dann auf das Sofa neben Phil.

Vanda erschien auf dem Bildschirm. Sie lächelte in die Kamera. Ihre hübschen taubengrauen Augen blitzten, und ihre Lippen waren voll und süß geformt. Der Reißverschluss an ihrem lila Overall war gerade weit genug hinabgezogen, um etwas Ausschnitt zu zeigen. Phil erwischte sich dabei, wie er zurücklächelte.

Maggie lachte in sich hinein. »Du bist so was von verknallt.«

Er zischte ihr zu, ruhig zu sein, als Darcys Stimme ertönte und Vanda bat, dem Publikum etwas über sich zu erzählen.

In Vandas klarer Stimme war nur der Hauch eines Akzents zu hören. Sie war 1917 in Polen geboren worden, in einem kleinen Dorf im Süden. Ihre Mutter war gestorben, als Vanda 18 gewesen war, und als älteste Tochter hatte sie sich von da an um die große Familie gekümmert. Einen Vater, vier Brüder und zwei Schwestern.

Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste, als sie über den Tod ihrer Mutter redete. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, als sie erzählte, wie die Deutschen und die Russen 1939 in Polen einmarschiert waren und ihr Vater und ihre Brüder in die Schlacht gezogen waren.

»Mein Vater wollte, dass ich mit meinen zwei jüngeren Schwestern fliehe. Ich habe Vorräte eingepackt, und wir sind in die Karpaten gezogen. Ich war schon dort gewesen, und ich wusste, dass es dort Höhlen gab, in denen wir uns verstecken konnten. Ich... habe meinen Vater und meine Brüder nie wiedergesehen.«

»Wie schrecklich«, flüsterte Maggie.

Vanda fuhr fort und beschrieb ihre lange Wanderung in die Berge. Ihre jüngste Schwester, die dreizehnjährige Frieda, wurde krank, und als sie endlich eine flache Höhle gefunden hatten, konnte sie kaum noch gehen. Vanda war bei ihr geblieben, und Marta sollte ihre Wasserbeutel auffüllen.

Die Schwester kam nicht zurück. Am nächsten Morgen machte Vanda es ihrer kranken Schwester so bequem wie möglich und ging los, um nach Marta zu suchen und Wasser zu holen. Sie war fast wild vor Sorge. Marta war verschwunden, und Frieda ging es immer schlechter.

Als sie die Schwester entdeckte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Doch Marta griff sie an, biss sie und trug sie mit übermenschlicher Kraft in eine Höhle. Ein Vampir hatte Marta verwandelt und nahm sich dort in der Höhle nun auch Vanda vor, die vor Hunger und Blutverlust zu schwach war, um zwei Vampire abzuwehren.

»Am nächsten Abend«, erzählte Vanda stockend weiter, »war ich noch immer völlig fassungslos und schockiert über das Geschehen. Aber ich bin zu meiner kleinen Schwester geeilt, um nach ihr zu sehen. Sie war gestorben. Ganz allein.«

Vanda bedeckte ihr Gesicht, und Phil konnte sehen, dass der Film geschnitten worden war. Die Kamera ruhte einen Augenblick auf Darcy. Als Vanda wieder ins Bild kam, hatte sie sich wieder gefasst.

Die Jahre danach waren so aufreibend für sie gewesen, dass sie sich dem Harem anschloss, um etwas Frieden und Entspannung zu finden. Dann lächelte sie und sagte, wie froh sie war, an der Show teilzunehmen, und das Interview war beendet.

»Arme Vanda.« Maggie schniefte. »Sie hat alle verloren.«

»Nicht ganz.« Phil benutzte die Fernbedienung, um den Fernseher abzuschalten. »Sie hat eine Schwester, die vielleicht noch am Leben ist.«

»Marta?« Maggie verzog das Gesicht. »Marta hätte ihr helfen sollen, ihre andere Schwester zu retten.«

»Vanda hat vielleicht das Gefühl, ihre einzige überlebende Verwandte hat sie hintergangen.«

Mit einem tiefen Atemzug lehnte Maggie sich zurück. »Na ja, wenigstens weißt du jetzt, warum sie so wütend ist.«

»Da ist immer noch vieles, was sie nicht erzählt hat. Sie ist 1939 verwandelt worden.«

»Oh, du hast recht.« Maggie setzte sich auf. »Und sie ist erst 1948 hierhergekommen. Das sind acht ungeklärte Jahre.«

»Und sie hat sie im Interview bloß ›schwierig‹ genannt. Ich habe das Gefühl, sie ist durch die Hölle gegangen.«

Maggies Augen füllten sich mit Tränen. »Natürlich ist sie das. Es war alles in ihren Bildern. Leichen, Hakenkreuze, Stacheldraht, Blut.«

Und Wölfe. Phil musste schlucken. Wie konnte er je Vandas Vertrauen gewinnen, wenn sie sich vor Wölfen fürchtete?

Zaghaft berührte Maggie seinen Arm. »Ich will sie sehen. Selbst wenn ich sie nur umarmen kann.«

»Natürlich. Sie dürfte noch im Horny Devils sein.«

»Ich habe mich schon einmal dorthin teleportiert, ich kenne den Weg.« Maggie stand auf. »Möchtest du mitkommen?«

»Ja.« Er legte einen Arm um Maggies Schultern. Jetzt konnte Vanda ihm nicht mehr aus dem Weg gehen. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn du ihr nicht sagst, dass ich ein Wandler bin.«

Mit gerunzelter Stirn sah Maggie ihn an. »Du wirst es ihr sagen müssen, wenn du eine Zukunft mit ihr willst.«

»Das werde ich.« Aber jetzt noch nicht. Wahrscheinlich hatte sie schon genug Gründe, vor ihm davonzulaufen.

****

Phil und Maggie bahnten sich im Horny Devils einen Weg durch die Menge. Als Maggie Pamela an der Bar entdeckte, quietschte sie laut, und die zwei Frauen verbrachten fünf Minuten damit, sich zu umarmen und zu lachen. Phil konnte sie durch den Lärm kaum verstehen.

Er hob eine Hand zum Gruß. »Ist viel los heute.«

Pamela grinste und reichte ihm ein Bier. »Ist das nicht toll? Diese schreckliche Corky hat allen gesagt, sie sollen nicht mehr herkommen, weil es schändlich und böse ist.« Sie lachte. »Und natürlich müssen das alle mit eigenen Augen sehen.«

»Weiß Vanda von dem Boykott?«, fragte er.

»Nein, Gott sei Dank, und wir müssen dafür sorgen, dass es auch so bleibt. Sie dreht sonst vielleicht durch, und noch mehr Klagen können wir uns nicht leisten.« Pamela entdeckte Cora Lee und winkte ihr. »Sieh mal, wer hier ist!«

Cora Lee rannte auf Maggie zu, und das Kreischen und Umarmen ging noch einmal von vorne los. Dann zog Maggie einen Stapel Familienfotos aus der Handtasche, und die Frauen begutachteten Maggies niedliche Tochter. Am liebsten hätte Phil gefragt, wie es für Maggie möglich war, ein Kind zu bekommen, fragte aber lieber nicht, weil die Erklärung vielleicht lange dauerte und er Vanda so bald wie möglich sehen wollte.

»Hey, Alter!« Phineas kam, zwei weibliche Vampire am Arm, auf ihn zu. »Ich bin hergekommen, wie du gesagt hast. Du hattest so was von recht mit den heißen Babes.«

»Irgendein Anzeichen von Max?«, brüllte Phil durch den Lärm.

»Nein.« Phineas sah seine neuen Freundinnen entschuldigend an. »Ich sage es nicht gern, Ladies, aber ich muss wieder an die Arbeit.«

»Oh nein, Dr. Phang.« Die Brünette an seinem linken Arm schob schmollend die Lippe hervor. »Wie kannst du uns allein lassen?«

»Die Pflicht ruft, Süße.« Phineas tätschelte ihr die Hand. »Aber ich komme alle paar Stunden zurück, um sicherzustellen, dass ihr nicht in Gefahr seid.«

»Oh, Dr. Phang, du bist so mutig.« Die Blonde an seiner Rechten rieb sich an ihm.

»Wo arbeitest du?«, fragte die Brünette und versuchte, seine Aufmerksamkeit von der Blonden abzulenken.

»Kann ich dir nicht verraten, Schatz«, antwortete Phineas. »Streng geheimes Zeug, du verstehst.«

»Oooh.« Die Blonde schauderte. »Bist du ein Spion?«

»Ich kann euch nur sagen, wenn Gefahr in den Schatten lauert, rufen sie Dr. Phang.« Phineas trat zurück und senkte seine Stimme. »Ich komme wieder.«

»Ich warte auf dich«, rief die Brünette ihm nach, als Phineas verschwand.

Die Blonde trat nahe an Phil heran. »Und, bist du auch ein Spion wie Dr. Phang?«

»Wir... arbeiten zusammen.« Phil bemerkte, dass Maggie mit Cora Lee und Pamela zu Vandas Büro ging, und wollte ihnen folgen, aber die zwei Vampirfrauen hatten sich an seinen Armen festgeklammert.

Die Brünette streichelte seinen Bizeps. »Du scheinst mir unglaublich stark für einen Sterblichen.«

»Und auf eine so erdige Art attraktiv«, fügte die Blonde hinzu.

»Ehrlich gesagt, ich spiele nicht in Dr. Phangs Liga.« Phil löste sich aus ihrem Griff. »Er ist viel stärker als ich. Und ein bisschen gefährlich. Ihr solltet euch besser von ihm fernhalten, wenn ihr es lieber harmlos mögt.«

Die Augen der Brünetten leuchteten auf. »Das klingt so aufregend.«

»Na ja, man nennt ihn auch den Love Doctor, wisst ihr«, gab Phil zu.

Die Blonde trat einen Schritt zurück. »Sei nicht sauer, Süßer, aber ich warte lieber auf den Love Doctor.«

Die Brünette drehte sich zu ihr um. »Nein, wirst du nicht. Ich habe ihn zuerst gesehen.«

Während die zwei Frauen sich um Phineas stritten, eilte Phil zu Vandas Büro.

Leise schloss er die Tür hinter sich, als Maggie ihn bemerkte. »Vanda, ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich habe Phil mitgebracht.«

Erschrocken drehte Vanda sich zur Tür um. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, und stattdessen überzog eine leichte Röte ihr Gesicht.

Er blieb in der Tür stehen. »Hallo, Vanda.«

»Hi.«

Pamela und Cora Lee begrüßten ihn mit einem Lächeln.

Er nickte ihnen knapp zu und sah dann wieder Vanda an. »Wie geht es dir?«

»Ja, Liebes, wie geht es dir?«, fragte Maggie, als Vanda nicht antwortete. »Phil hat mir von der schrecklichen Schlange erzählt, und ich musste einfach nachsehen, ob es dir auch gut geht.«

»Es ist... alles in Ordnung«, sagte Vanda leise.

»Also, es war wirklich nett von Phil, dich anzurufen«, sagte Cora Lee zu Maggie.

»Und wir freuen uns so, dich wiederzusehen«, fügte Pamela hinzu.

»Es ist schön, wieder hier zu sein«, freute sich Maggie. »Der Club ist ein riesiger Erfolg. Ich habe noch nie so viele Leute auf einem Haufen gesehen.«

»Ja, Corky Courrant hat genau das Gegenteil bewirkt«, murmelte Cora Lee.

Pamela zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.

Erst jetzt erschrak Cora Lee selbst über ihre Worte.

Vanda sah sie misstrauisch an. »Was ist hier los?«

»Nichts«, antworteten Pamela und Cora Lee gleichzeitig.

Vanda starrte Cora Lee wütend an. »Raus damit.«

»Es ist nichts!«, verteidigte sich Cora Lee und wendete sich hilfesuchend nach Pamela um. »Es ist doch eigentlich nichts, richtig? Wir haben eine riesige Besuchermenge. Sie sind alle gekommen, um zu sehen, warum Corky behauptet, in unserem Club herrschen Gewalttätigkeit und Bosheit.«

»Was?«, brüllte Vanda.

Phil ging auf sie zu. »Es ist schon gut. Corky hat ihre Sendung benutzt, um einen Boykott auf euren Club auszurufen, aber ihr Plan ist offensichtlich nach hinten losgegangen.«

Ein Blitzen in ihren Augen zeigte ihre Wut. »Sie versucht, mich zu zerstören.«

»Dem Club geht es prächtig«, beruhigte Phil sie leise.

»Nicht, solange diese Schlampe noch etwas zu sagen hat«, zischte Vanda und verschwand.

»Nein!« Phil griff nach ihr, aber sie war bereits verschwunden.

»Heiliger Strohsack«, flüsterte Cora Lee. »Wo ist sie hin?«

»Wohin glaubst du denn, Plappermaul?«, fuhr Pamela sie an. »Sie ist zu DVN, um es Corky zu zeigen.«

»Heilige Maria und Joseph«, hauchte Maggie. »Wir müssen sie aufhalten.«