29.
Bis auf einen Mann waren Gabriels Leute zurückgekommen. Vergebens versuchte ich, mich an das Gesicht zu erinnern, das fehlte, aber ich vermochte es nicht. Mein Gehirn weigerte sich, einen Namen auszuspucken.
Dieser eine musste auch die Schwachstelle gewesen sein, durch die die Jäger bis zum Lager vorgedrungen waren. Zum Glück war es nicht Orion. Er war da, und diesmal lag in seinen Augen kein Strahlen, sondern kalte Wut. Die Abwesenheit seines Lächelns war wie eine Wunde in seinem Gesicht; es war, als wäre einer der Sterne in dem Sternbild, das seinen Namen trug, erloschen.
Während das ganze Lager in Aufruhr war, blieb Gabriel ganz ruhig. Seine engsten Getreuen scharten sich um ihn und gaben ihm Rückendeckung, während er zur Eile mahnte.
»Wer hat diese Jäger getötet?«, schrie eine Frau. »Nun werden die Regs uns alle umbringen!«
»Sei still«, befahl Merton. »Vielleicht sind sie schon irgendwo in der Nähe.«
Da wurde sie bleich und verstummte.
»Unser einziges Heil liegt in der Flucht. Leise. Schnell. Zum Glück ist das meiste sowieso schon gepackt. Wir müssen nur noch die Zelte abbauen und die Netze abhängen. Und dann los. Ihr kennt den Treffpunkt.«
»Das muss Konsequenzen haben«, sagte eine Frau, die ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt. »Denkt ihr Idioten denn jemals an die Kinder? Es muss Konsequenzen haben, wenn ihr uns alle in Gefahr bringt!«
»Erst die Flucht«, sagte Jakob. »Begreift ihr nicht? Eile ist das Einzige, was uns noch retten kann.«
»Kommt.« Ricarda sprach mit Autorität zu den anderen Frauen. »Wir müssen aufbrechen, oder es war alles umsonst.«
Wie festgewachsen blieb ich stehen und beobachtete, wie die Ersten loszogen und ihre Habseligkeiten auf den langen Stangen hinter sich herschleiften. Wie Orion sich über die Toten beugte, gemeinsam mit Alfred. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken, was sie dachten, worüber sie sprachen. Was sie wussten.
Gabriel winkte mich zu sich. »Heute.« Er dämpfte seine Stimme, aber vielleicht kam mir auch alles nur gedämpft vor. »Jetzt. Sie werden mit dem Hubschrauber herkommen, um ihre Jäger zu suchen. Wir müssen unseren Plan jetzt sofort durchziehen, während Paulus abwesend ist.«
Schon stand Orion neben mir. »Lass Pia in Ruhe. Sie ist verletzt.«
Ich hatte mich am Seeufer gewaschen, aber offenbar nicht das ganze Blut wegbekommen. »Nein«, sagte ich, »nein, mir geht es gut«, während meine Beine sich anfühlten, als seien sie aus Gummi, während ich schwankte wie ein Schilfrohr im Wind.
Orion streckte die Hand aus. »Was ist das?« Er berührte mein Haar und von meiner Stirn breitete sich eine Welle aus, die das Wissen in jede Zelle meines Körpers trug. Er ist hier, bei mir.
Ich wollte sterben. Wenn er mich in die Arme nahm, würde es leicht sein, das wusste ich. Leichter als atmen.
»Nichts«, flüsterte ich.
Er wusste, was ich getan hatte. Ich sah das Wissen in seinen nachdenklichen Augen.
Und Gabriel wusste es auch. »Sorg dafür, dass dein Vater uns die Probe bringt. Und dass Lucky bereit ist.«
»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Siehst du nicht, wie es ihr geht?«, fragte Orion schroff, während ich Gabriel nur benommen anstarren konnte.
»Gut genug für einen glaubwürdigen Anruf bei ihrem Vater«, sagte Gabriel. »Und bei ihrem Freund.«
»Nein!«, rief Orion. »Pi, jetzt hör mir zu. Lucky ist auch mein Freund, das weißt du. Aber das hier kann ich nicht zulassen. Du darfst nicht Gabriel und Jakob für Lucky opfern!«
Konnte ich von irgendjemandem erwarten, sein Leben für meine Liebe aufs Spiel zu setzen? Für Lucky, den Gabriel nicht einmal kannte? Der Schmerz in mir, der wie eine gigantische Sonne alles andere überstrahlte und auslöschte, sagte ja. Ich wollte Lucky. Ich brauchte Lucky.
»Wo ist der Tom?«, fragte ich. »Ich werde Lucky sagen, dass er sich auf dem Dach des Kids-for-freedom-Hochhauses einfinden soll. Da oben kann ein Hubschrauber bestimmt gut landen.«
»Lucky wird nicht begreifen, wie wichtig und eilig es ist«, sagte Orion eindringlich. »Und um ihn abzuholen und zwangsweise mitzunehmen, wird Gabriel die Zeit fehlen. Ist dir klar, was mit ihm geschieht, wenn sie ihn erwischen? Hast du die Plakette vergessen? Er ist Neustadt-Freiwild! Du darfst ihn nicht dazu überreden, Pi. Du darfst nicht.«
Wenn es einen Menschen gibt in Neustadt, hinter dem Zaun, einen einzigen Menschen, für den du alles tun würdest – wie weit würdest du gehen? Würdest du alle deine Freunde opfern, um ihn zu retten? Würdest du ihm die ganze Welt zu Füßen legen, in die Glut der Vernichtung? Und wenn du es tätest, zu wem würde er zurückkommen?
Er hat recht, sagten die klaren Gedanken. Aber es gibt noch eine Option, weißt du? Eine, die Gabriel und Jakob nicht mehr gefährdet, als diese ganze verrückte Aktion es ohnehin tut.
Ich atmete tief durch. »Dies ist auch mein Kampf gegen die Regs«, sagte ich. »Ich werde euch helfen, Gabriel, ohne Bedingungen. Mir ist klar geworden, dass ihr Lucky nicht mitbringen könnt.«
»Pi, was hast du vor?«, fragte Orion leise. Wie dumm, anzunehmen, ich könnte ihn hinters Licht führen. Er wusste natürlich sofort, dass ich selbst gehen wollte. Aber wie hätte ausgerechnet er mich daran hindern können? Er, dessen Hand immer noch auf meinem Haar verweilte, als wäre ich eine seiner Wildkatzen. Wenn mich irgendjemand retten konnte, war es Lucky.
»Ich mache es«, sagte ich zu Gabriel, der erleichtert nickte.
Orions Lächeln hatte immer noch keine Strahlkraft, war wie ein roter Kratzer in seinem Gesicht. Heute war sein Lächeln nicht jung. Von dem Jungen, der mit mir auf die Schule gegangen war, der immer vor dem Wartezimmer des Arztes neben mir gesessen hatte, war erschreckend wenig übrig. Aber auch die Pi, die ich einmal gewesen war, war verschwunden, und mir blieb nur die einzige Hoffnung, sie in Neustadt wiederzufinden.
Um uns her zogen die Menschen los, verstreuten sich in alle Richtungen, um den Jägern kein Ziel zu bieten. Keine Herde, die von einer Wasserstelle zur nächsten wanderte, kein Vogelschwarm auf dem Weg nach Süden, sondern kleine Grüppchen, schwerfällig und beladen. Flüchtig fragte ich mich, wie Ricarda zurechtkam, mit Benni und dem Zelt, ob Jeskas Hilfe ausreichte. Aber die drei hatten sich bislang auch ohne mich von einem Lager zum nächsten bewegt. Heute konnte ich niemanden retten außer mich selbst.
Wir folgten Gabriel tiefer in den Wald hinein, wo wir auf Jakob, Lumina und Merton stießen. Hier war es still. Niemand hätte geglaubt, dass unter diesen dicht belaubten Bäumen, in denen die Vögel sangen und die Eichhörnchen spielten, Menschen gestorben waren.
»Also«, meinte ich, »wann geht es los? Sollte ich nicht mit meinem Vater sprechen, bevor die Jäger kommen?«
»Wir können keinen Treffpunkt und keine Zeit vereinbaren, wenn wir nicht wissen, wann genau wir den Hubschrauber haben«, sagte Gabriel. »Doch dann muss es ganz schnell gehen. Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite. Die Jäger wissen nicht, was sie hier erwartet. Sie werden noch nicht zum Morden herkommen, sondern um die beiden zu suchen, die in der Nacht nicht zum Hubschrauber zurückgekehrt sind. Sie könnten verletzt sein oder sich versteckt haben. Die Rache wird später erfolgen, wenn die Familien der Getöteten einen Feldzug starten.«
»Also hört zu.« Jakob legte den Plan dar.
Besonders kompliziert war er nicht – während die Regs ihre Toten holten, wollten Gabriel und Jakob den Hubschrauber stürmen, und Orion sollte ihnen Feuerschutz geben. In der Zwischenzeit mussten Merton und Lumina die Regs, die schon im Wald waren, an der Rückkehr hindern. Meine Aufgabe war es, mich versteckt zu halten. Und meinen Vater anzurufen. Was ich darüber hinaus vorhatte, ahnte keiner der anderen. Es war verrückt, natürlich, aber was in dieser verrückten Welt war das nicht?
Orion musterte mich nachdenklich, während ich den Tom entgegennahm. Der Lack war etwas zerkratzt, ansonsten konnte man von außen nicht erkennen, dass etwas an ihm verändert worden war.
»Ruf an, sobald du den Hubschrauber hörst«, befahl Gabriel. »Wir suchen uns jetzt jeder ein Versteck.« Er war nervös, das merkte sogar ich, obwohl ich in meine eigene Dunkelheit verstrickt war. Ich fühlte mich wie eine Fliege, die eingesponnen war, allein mit sich und dem Netz und der Spinne. Und doch nahm ich darüber hinaus noch viel mehr wahr, als ich mir wünschte.
Was ich tun wollte, würde es Gabriel und Jakob vielleicht doch gefährden? Was würden die Sekunden, die ich brauchte, um in den Hubschrauber zu klettern, die beiden kosten?
Nein, sagte ich mir. Es wird keinen Unterschied machen. Ich werde schnell sein. Alle meine Gefühle abschalten und einfach handeln, und drüben in Neustadt werde ich genauso sein – rasch, effizient, ohne Tränen. Und ich werde von niemandem Abschied nehmen.
»Hier«, sagte Orion leise. »Verstecken wir uns unter den Ästen dort.«
Lumina ging mit Merton, aber Orion war bei mir. Der Baum war freundlich zu uns. Er ließ seine Äste herabhängen, sodass sie den Boden berührten. Die Blätter raschelten leise, während sie von einem leichten Wind bewegt die Erde streiften.
»Ich erlaube es nicht«, flüsterte er. »Es ist eine bodenlose Dummheit.«
»Du weißt doch gar nicht, was ich vorhabe. Seit wann kannst du Gedanken lesen?«
Orion lachte, kaum hörbar. »Instinkt«, sagte er. »Wenn ich die Menschen beobachte, kann ich gut erraten, was sie vorhaben. Aber um zu sehen, wie es dir geht, braucht man keine speziellen Fähigkeiten.«
»Ach ja?« Aus irgendeinem Grund machte mich das wütend. Ich hatte keine Gefühle, aber trotzdem ärgerte es mich.
»Du hast zwei Menschen getötet«, flüsterte er. Wir hockten so dicht beieinander, dass sein Atem mein Gesicht streifte. Es gab keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Ich hätte aufgehört zu atmen, wenn ich gekonnt hätte. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war da ein Teil von mir, der jede Sekunde mitnehmen und aufbewahren wollte. Jedes Wort. Jeden Moment, an dem ich seinen Körper so dicht neben meinem spürte.
»Das war ich nicht.«
»Ach, Pi. Meine kleine Erbse.« Er legte seine warme Hand an meine Wange. »Ich muss dir nicht sagen, was du damit bewirkt hast. Wie vielen Menschen du das Leben gerettet hast.«
»Hör auf.«
In meinem Kopf war immer noch das Geräusch von Stein auf Knochen. Meine Hände hatte ich gewaschen, trotzdem fühlte ich das klebrige, warme Blut daran. Es gab nur einen einzigen Weg, um das loszuwerden – zurück in meine Wolke. Zurück in mein altes Leben, auch wenn es nur ein gedämpftes, halbes Leben war. Ich würde glücklich sein. Lucky würde da sein. Was brauchte ich mehr? Im Moment schien es mir die einzige Möglichkeit, um überhaupt irgendwie zu überleben.
»Pi«, sagte Orion eindringlich, »ich werde es nicht zulassen. Du wirst Gabriel nicht begleiten.«
»Das würdest du mir antun?« Auf einmal verwandelte er sich vom Freund zum Feind.
»Im Gegenteil, ich werde dich daran hindern, dir etwas anzutun«, sagte er. »Bei Gott, hast du den Verstand verloren? Hast du vergessen, was Neustadt ist? Ein Gefängnis, und die Regs sind die Wärter oder die Henker, wie es ihnen gerade passt.«
Er hatte noch nie »bei Gott« gesagt. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.
»Du bist einer von den Damhirschen, Orion«, stellte ich fest. Es machte mich unsagbar traurig. Und zugleich froh. Wenigstens einer von uns war angekommen. »Einer von Gabriels Leuten. Aber ich nicht. Ich kann so nicht leben.«
»Ich auch nicht. Deshalb kämpfen wir. Deshalb werden wir den Jägern beweisen, dass wir mehr sind als jagbares Wild. Wir werden ihnen ein für alle Mal zeigen, dass man mit uns rechnen muss.«
Auf einmal war das Lächeln wieder da. Es war ernst, ja sogar ein wenig bitter, aber es war ein richtiges Lächeln, und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern.
Er war kein Soldat, und ich war nicht dazu fähig, einen Menschen zu töten. Und doch, während wir uns anlächelten, wurden wir alt, viel älter als die Anzahl unserer Jahre. Nun hieß es, von einer Jahreszeit zur nächsten. Ein Sommer, ein Herbst. Und jede Nacht konnte eine Ewigkeit bedeuten. Wir waren beide nicht mehr, was wir vor kurzem gewesen waren – weder von der tollpatschigen Pi noch von dem gefeierten Schulhelden war noch etwas übrig.
»Du musst nicht fortgehen. Es wird heißen, ich sei es gewesen«, flüsterte er. »Wer würde auch etwas anderes glauben? Paulus kann dir nichts, wenn du unauffällig bist. Und Ricarda wird dich von nun an als ihre echte Tochter betrachten.«
Wenn er die Schuld auf sich nahm – und wer würde ihm nicht glauben, dass er getötet hatte, um mich zu beschützen? –, würde Paulus ihn in die Wildnis schicken. Oder hatte er, so wie ich auch, gar nicht vor, ins nächste Lager zu gehen? Hatte er vor, hier im Wald zu bleiben, sein Leben im Kampf gegen die Jäger zu opfern, damit Gabriel den Hubschrauber stehlen konnte?
Nein, wollte ich rufen, nicht du auch noch, doch da lag schon das vertraute Geräusch der Rotorblätter in der Luft. Der Wind wurde stärker und zupfte an den Baumwipfeln.
»Jetzt. Sie gehen da hinten auf der Lichtung runter, genau wie geplant. Ruf deinen Vater an, es geht los.«
Keine Zeit für Diskussionen oder Streit, keine Gelegenheit mehr für letzte Worte.
Mit zitternden Fingern wählte ich die vertraute Nummer.
Hörte das vertraute Dudeln des Glücksliedes.
Und dann eine Stimme. Tief und warm und ein kleines bisschen unsicher, als hätte man ihn gerade ertappt.
»Ja?«
Ich brachte kein Wort heraus. Ein Kloß hinderte mich am Schlucken, die Fragen verknäulten sich auf meiner Zunge.
»Ja?«, fragte mein Vater noch mal. »Wer ist denn da?«
Das Display war auf »blind« gestellt, wir konnten einander also nicht sehen. Wo er wohl war? Im Institut, zu Hause?
»Ich bin’s«, krächzte ich schließlich. »Bitte, sag kein Wort. Es geht mir gut. Wenn du willst, dass das so bleibt, musst du etwas für mich tun. Ein Freund von mir wird in Kürze auf dem Platz vor deiner Arbeitsstelle landen. Ungefähr in zwei Stunden.« Orion nickte mir zu. »Du musst dich dort mit ihm treffen und etwas mitbringen. – Papa, bist du noch da?«
»Ich höre dich.«
»Es ist wichtig. Dieser Freund möchte etwas … das, was Luther hatte.« Wie lange hatte ich darüber nachgegrübelt, wie ich die Forderung formulieren sollte, ohne »Morbus Fünf« auszusprechen. Ich war mir ziemlich sicher, dass das ein verbotener Begriff war, den man am Telefon lieber nicht erwähnen sollte.
»Ich verstehe«, sagte er. Auch er sprach es nicht aus. Mein Vater war klug und besonnen. Ich hatte mir so viel Schreckliches ausgemalt, wie dieses Gespräch verlaufen könnte, wie er sich selbst in Gefahr brachte, aber die Stimme am anderen Ende blieb ruhig. Nur ein leises Zittern darin, eine ungewohnte Heiserkeit verriet mir, wie sehr er sich aufregte.
»Wirst du da sein?«, fragte ich noch, doch da hatte Orion bereits den Daumen an die Taste gelegt und den Tom ausgeschaltet. Ich kämpfte mit den Tränen. »Das war mein Vater.«
»Ich weiß«, sagte er leise. »Du warst sehr gut.«
Mein Vater würde da sein. Und ich würde aus dem Hubschrauber springen, in seine Arme.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem Orion sich davonschleichen musste, um Gabriel und Jakob beizustehen. Er zögerte kurz und sah mich an.
Wir beide wussten, dass ich ihm folgen würde. Und er konnte das nicht verhindern, er konnte höchstens …
Ich warf mich flach auf den Boden, gerade als er die Faust hob. Diesmal war ich schneller als er. Ich kroch unter den Ästen hervor, er erwischte mich am Knöchel, doch ich strampelte mich frei. Er durfte es nicht riskieren, Lärm zu machen. Auch wenn er sich darauf verlassen konnte, dass ich nicht schreien würde, würde ein Kampf doch die Jäger auf den Plan rufen. Also setzte er mir nicht nach, und ich huschte von Baum zu Baum. Offenbar hatte er sich damit abgefunden, dass er mich nicht stoppen konnte, aber ich ließ mich nicht täuschen. Ich musste vorsichtig bleiben, denn wenn ich Pech hatte, würde ich demnächst mit schmerzendem Schädel erwachen, während Gabriel längst ohne mich fort war und alle anderen tot auf dem Waldboden lagen.
In Neustadt würde es mich nicht kümmern. Ich würde nicht ständig an Orion denken. Oder an Gabriel. Nicht an Benni und Jeska, die jederzeit sterben konnten. Gar nichts würde mehr wichtig sein.
Lucky. Ich würde nur noch an Lucky denken.
Der Hubschrauber schwebte über der Lichtung. Er machte einen Lärm, der jedes Rascheln und Knacken übertönte. Zum ersten Mal seit langem konnte ich mich nicht mehr auf meine Ohren verlassen, sondern nur auf meine Augen. Ein kaltes Kribbeln lief mir den Nacken hinunter.
Die Jäger, die die Toten einsammeln sollten, mussten bereits im Wald sein. Doch den Hubschrauber hatten sie garantiert nicht schutzlos zurückgelassen. Eine Bewegung im Gebüsch verriet mir, wo Gabriel und Jakob sich befanden. Mein Herz begann wild zu klopfen. Würde ich mich wirklich trauen, ihnen über die offene Fläche nachzulaufen und mit einzusteigen?
Gerade als sich unsere Freunde aus der Deckung hervorwagten, stieg der Helikopter wieder auf. Er war schwarz und schlank und glänzte wie eine frisch geputzte Krähe oder der schimmernde Panzer eines großen Käfers.
»Verdammt«, knurrte Orion hinter mir. »Sie warten über den Wipfeln, bis sie gerufen werden. Das war’s mit unserem Plan. Und mit deinem auch.«
Ich antwortete nicht. Er wartete ja doch nur auf die Gelegenheit, mir eins überzubraten, also duckte ich mich und rannte davon, zurück in den Wald, zurück zu unserem Lagerplatz am See.
Es war still. Das Dröhnen der Rotorblätter ließ den Boden vibrieren und die Bäume erzittern, doch unter dieser gleichmäßigen Schicht Lärm war es ruhig. Zu ruhig.
Ich hatte keine Ahnung, wo die anderen waren, wo sich die Jäger befanden. Sie waren nicht hier, um zu jagen, sondern um ihre Freunde abzuholen; mittlerweile hatten sie sie sicherlich schon gefunden. Dorthin musste ich.
Jeder Schritt von Baum zu Baum kostete mich Überwindung. Zweige knackten unter meinen Füßen, Blätter raschelten, wo ich hindurchkroch. Gleichzeitig lauschte ich auf alles um mich herum, auf jedes Geräusch, das die Standorte der anderen verriet. Würde Gabriel aufgeben, weil es nicht so lief wie geplant? Wohl kaum. Mittlerweile kannte ich ihn gut genug, um das zu beurteilen. Nein, er würde nicht lockerlassen, und der heutige Tag würde entweder mit einem triumphalen Sieg oder in einer Katastrophe enden.
Ein Schuss krachte ganz in der Nähe, jemand schrie. Dann die Donnerschläge weiterer Schüsse.
Es hatte schon angefangen. Meine Angst brüllte mir ins Ohr, dass ich in die falsche Richtung lief, doch eine weitere Angst gesellte sich dazu. Wen hat es getroffen? Gabriel? Orion? Wen?
Ich stolperte vorwärts, gerade rechtzeitig, um eine schwarzgekleidete Gestalt zu sehen, die durchs Gebüsch brach. Jemand lag am Boden. Jakob.
Neben ihm kniete Orion, er sprang auf, als er mich sah. »Den kralle ich mir«, sagte er, »bleib bei ihm.« Und damit setzte er dem Jäger nach.
Ich kniete mich neben Jakob hin, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Rücken lag. Seine Hände zitterten, er atmete schwer. Auf seiner Brust breitete sich ein Fleck aus, ein dunkler See.
»Hilf Orion«, flüsterte er.
Ja, Orion war in Gefahr. Das war viel wichtiger. Ich richtete mich wieder auf, schlängelte mich durch die Sträucher, die sich an mich hefteten, die mich an Armen und Beinen festhielten. Wir mussten die Aktion abbrechen, sofort. Wofür sollte Orion sterben, wenn Jakob den Hubschrauber doch nicht mehr fliegen konnte? Wozu sollte Gabriel kämpfen und töten, wenn wir doch schon verloren hatten?
Am liebsten hätte ich die beiden gerufen. Orion! Gabriel! Aber ich schluckte den Schrei in meiner Kehle hinunter. Und verhielt, eingefroren mitten in der Bewegung. Ich erstarrte, denn sie waren genau vor mir.
Da war der Mörder. Dunkel, gebückt schleichend. Und hinter ihm, genauso reglos wie ich, Orion.
Der Jäger hatte mich gehört. Drehte sich um.
Orion, das Gewehr im Anschlag, wollte schießen. Ich wusste, fühlte es, während er schon den Hahn spannte, während er genauso schnell reagierte wie der Reg.
Es war Moon.
In dieser einen Schrecksekunde, in der Orion nicht schoss, zögerte, vom Entsetzen getroffen wurde wie von einem Pfeil, starrte ich ungläubig in das Gesicht des Mädchens. Blondes Haar lugte unter einem Helm hervor. Diese Jägerin hätte ich nicht so einfach mit einem Stein erschlagen können. Sie war vorsichtig. Sie war klug. So wie Moon eben war. Aber seit wann war Moon blond? Denn die Züge, die blauen Augen, die Nase, der Schwung der Lippen – das alles war mir unheimlich vertraut. Moon. Meine Moon.
Orion schoss nicht. In dem Moment, als er erkannte, dass sie es nicht war, dass dieses höhnische kalte Lächeln einer Fremden gehörte, war es schon zu spät. Sie hatte auf ihn angelegt, sie wollte …
Und dann ein Schatten aus dem Unterholz, während sie schon abdrückte, und die Jägerin ging zu Boden, über ihr Gabriel. Sie bewegte sich unglaublich schnell, entwand sich ihm, trat, schlug ihn zurück. Ein Messer blitzte auf – seines? Ihres? Doch bevor sie sich befreien und erneut schießen konnte, reagierte Orion, war da, riss ihr das Gewehr aus der Hand, schlug sie nieder.
Sie schrie, fauchte wie eine Katze.
»Sie war es! Sie hat Jakob erschossen!« Gabriel krümmte sich, er hielt sich die blutende Hand.
Das Mädchen gab sich immer noch unbesiegt, kämpfte verbissen gegen Orion an. Nein, das war nicht Moon. In ihren Augen war keine Angst, nur Wut. Noch wusste sie nicht, was es hieß, den Wilden in die Hände zu fallen. »Lasst mich gehen! Ihr müsst!«
»Sie hat Jakob erschossen«, wiederholte Gabriel, Tränen liefen über sein Gesicht. Nicht der Schmerz zwang ihn in die Knie, begriff ich, sondern das Leid, die Hoffnungslosigkeit. Schon wieder eine Schlacht verloren. Ein Plan gescheitert. Schon wieder ging die Welt unter, verblutete ein Mann, war er nichts als Wild, waren wir alle Opfer.
Es war unerträglich.
Orion, seine riesigen Pranken. Auf ihrem Gesicht, ihrem Hals. Er drückte ihr die Kehle zu. Ihre Augen traten hervor, sie keuchte, wimmerte, ihre Hände rissen an seinem Arm, ihre Beine zuckten, und ich wusste, was jetzt kam, was gleich kommen würde.
Ich fasste ihn an der Schulter. »Nicht. Nicht, Orion, bitte.«
»Eine Jägerin.« Er weinte nicht, aber es war in seiner Stimme, all die Tränen, die er nie herauslassen konnte, er, der Soldat. Jakob. Jakob, der uns durch den Sumpf und den Wald geführt hatte, schweigend, grimmig, unser Jakob. »Eine Mörderin.«
»Ja«, sagte ich, »aber du nicht.«
Er wandte den Blick ab von ihr, versenkte seine Augen in meine. Was las er darin? Zu viele Gefühle? All die Gefühle, die so groß waren, dass man keines davon mehr empfinden konnte?
»Wenn du es nicht tust, mach ich’s«, sagte Gabriel. In seiner Stimme eiskalter Zorn.
Orion ließ das Mädchen los. Sie lag da und krümmte sich, hustete, das Gesicht von Tränen und Erde verschmiert, und sie war so wunderschön wie Moon, zarte weiße Haut, die blonden Locken klebten an ihrer nassen Wange, die Lippen, bläulich verfärbt, schon fast die einer Toten.
»Ich lasse sie nicht gehen«, sagte Gabriel. »Wenn du zu schwach bist, werde ich es tun.«
Orion nahm ihr den Helm ab. Jetzt sah sie noch viel mehr wie Moon aus. Wir betrachteten sie ungläubig, und Gabriel sagte ein drittes Mal: »Ich will, dass sie stirbt.«
Über uns wurde der Hubschrauber wieder lauter. Und ein fremder Mann schrie: »Savannah, komm!«
Wenn Orion und ich uns ansahen, wurden wir zu einem Wesen. Wir wussten, was der andere dachte. Oder wusste nur er es, seine Soldatengene, seine kriegerische Perfektion, die es ihm erlaubte, jedes Gefühl, jedes Stirnrunzeln, Blinzeln oder Lippenkräuseln in seinem Gegenüber zu erkennen und zu deuten? Und ich riet blind drauflos?
Jedenfalls riet ich gut. Denn ich sah seinen Hass, sein Staunen, seine Verletzlichkeit. Seine Wut darüber, dass diese Mörderin die Frechheit besaß, wie Moon auszusehen. Die Erkenntnis, was diese Tat mit ihm getan hätte, und Dankbarkeit darüber, dass ich ihn daran gehindert hatte.
Und der Plan in meinen Augen, meine wütende Entschlossenheit, spiegelte sich ebenfalls in seinem Gesicht.
Er nickte. »Ziehen wir sie aus.«
»Was …?«, begann Gabriel.
»Wir behalten sie, als Geisel«, sagte Orion. »Irgendwo in ihren Kleidern ist der Ortungschip. Ziehen wir sie aus. Rasch.«
Ich vergaß jedes Schamgefühl, als ich die Schuhe abstreifte und aus meiner graubraunen Hose schlüpfte. Gabriels Blick streifte mich – jetzt verstand auch er.
»Das kannst du nicht tun, Pia«, sagte er. »Die bringen dich um. Sie werden alles, was du weißt, aus dir herauspressen. Alles über uns.«
»Ich weiß nicht besonders viel«, sagte ich, während ich mir die enge schwarze Hose über die Hüfte zog, »und ihr zieht sowieso weiter.«
»Ich sollte gehen.«
»Dich werden sie nicht mal von weitem für ein Mädchen halten.« Ich sagte nicht, was auf der Hand lag: dass die Regs mich, wenn sie mich erwischten, vielleicht einfach nach Hause brachten. Während sie Gabriel zweifellos hinrichten würden.
Ich nahm ein Kleidungsstück nach dem anderen entgegen. Orion setzte mir den Helm auf und musterte mich kritisch, dabei wusste ich selbst, dass ich dem fremden Mädchen nicht im Geringsten glich. Nichts auf der Welt würde mich aussehen lassen wie Moon. Mein Gesicht unter dem Helm konnte niemanden täuschen, aber vielleicht gelang es mir, mich im Hintergrund zu halten.
Orion bückte sich und schmierte mir Erde auf die Wangen und die Stirn. Die junge Jägerin, nur noch in Unterwäsche, ächzte leise, sie rang immer noch um Atem, ihre Finger gruben sich durch Erde und Laub, als wollte sie sich in den Waldboden wühlen, um uns zu entkommen.
Ein letztes Mal riefen die anderen Jäger nach Savannah.
Ich spürte Orions Hände auf meinen Schultern.
Gabriel weinte nicht mehr. Etwas Hartes, Wildes glänzte in seinen Augen, aber er versuchte nicht, mich zurückzuhalten.
Ich rannte los, die schwitzende, kalte Hand um das Gewehr gekrallt.