21.
Paulus verlangte mich zu sehen. Ich hatte ihn noch nie gesehen, ich kannte seine Stimme nicht, doch die Art, wie der Fremde vor dem Zelt mit der Frau sprach, die mich aufgenommen hatte, deutete unzweifelhaft auf einen Anführer hin. Durch die Plane sah ich nur einen Schatten am Eingang.
Mir gegenüber saß Benni und hatte wieder sein wortloses Wimmern angestellt. Er schaute mich an, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich gar nicht wahrnahm. Das Geräusch war so nervtötend, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um ihn nicht zu schütteln.
»Du kannst da nicht rein!«, protestierte Ricarda. »Sie schläft. Sie braucht Ruhe und eine warme Mahlzeit und Zeit. Vor allem Zeit. Sie ist noch ein halbes Kind!«
»Wir haben keine Zeit.« Der Mann klang völlig unaufgeregt, sanft und doch sehr bestimmt. »Und erst recht hat hier niemand Zeit, ein Kind zu sein.«
Ich setzte mich auf. Ricarda hatte unrecht – ich brauchte nicht nur etwas zu essen, sondern ganz dringend auch ein Bad und etwas Sauberes zum Anziehen. Und Ruhe hatte ich hier ganz bestimmt nicht. Benni schaukelte hin und her, während er Sirene spielte. Die dunklen Haare fielen ihm in die Stirn.
»Hey«, sagte ich leise. »Benni, nicht wahr? Sag mal, was soll das? Kannst du mal einen Moment – wenigstens einen einzigen Moment! – still sein?«
Der Junge hielt kurz inne, bevor er mit seinem eintönigen Singsang fortfuhr.
Draußen stritten die Erwachsenen.
»Der Soldat schläft doch auch noch, soviel ich weiß, oder? Macht es nicht Sinn, sie beide zusammen zu befragen?«
Und wieder schmerzte es unerträglich, dass wir nur zu zweit hier angekommen waren.
»Sag mir nicht, wie ich meine Arbeit zu tun habe!« Paulus klang mehr als verärgert.
»Dann sag du mir auch nicht, wie ich mit meinen Kindern umgehen soll. Ich werde dir mitteilen, wenn das Mädchen so weit ist. Ich und niemand sonst!«
Ich duckte mich unwillkürlich, als jemand das Tuch, das den Eingang verhängte, zur Seite schob, doch es war zum Glück bloß Ricarda, kein fremder Mann, der mich verhören wollte. Ihr Lächeln offenbarte eine Reihe schiefer, fleckiger Zähne. »Wie geht es dir, Pia?«
»Kann ich mich hier irgendwo waschen?«, wollte ich wissen. »Dann rede ich auch mit dem Typen da draußen. Aber bitte nicht so.«
»Kann ich gut nachvollziehen. Wir haben hier einen See. Ich schicke Jeska zu dir, damit sie dich begleitet.«
»Kann man da nichts tun?« Ich wies auf Benni. »Es muss doch etwas geben …?«
Ricarda hörte auf zu lächeln. »Du wirst ihn akzeptieren müssen, so wie er ist. Geh jetzt baden.«
Bloß raus hier. Weniger erfreut war ich allerdings von der Aussicht, die gewohnte heiße Dusche gegen kaltes, dreckiges Seewasser zu tauschen.
Das Mädchen namens Jeska, das mich durch das Lager aus grünbraunen Zelten zum Ufer führte, war ein paar Jahre jünger als ich, aber genauso groß. Ich fand sie schrecklich mager. Die grünbraune Kleidung, die hier alle trugen, schlotterte ihr um den Leib.
»Was ist, wenn man die Farbe nicht mag?«, fragte ich und dachte dabei an Moon und ihre Röcke in Pink oder Himmelblau. »Gibt es hier keine Klamotten in … Rot zum Beispiel?« Ein Wunder, dass sie ihre Haare nicht Ton in Ton mit ihrer faden Garderobe färbten.
Verständnislos schüttelte Jeska den Kopf. »Wie lange willst du denn in Rot überleben? Da kannst du dich auch gleich hinstellen und dir eine Zielscheibe vor die Stirn halten.«
Vor uns glänzte das Blau eines kleinen Sees. Weit und breit war niemand zu sehen, trotzdem wurde mir mulmig zumute. »Ich soll da rein? Ist das nicht, äh, schmutzig?«
»Nicht so schmutzig wie du.« Sie lachte mich an, und ich konnte nicht umhin, wenigstens einen Menschen hier in der Wildnis sympathisch zu finden. Das änderte sich jedoch gleich bei ihrem nächsten Satz. »Na los, zieh dich aus.«
»Wie bitte?«
»Wir haben nicht ewig Zeit. Paulus wird immer so schnell ungeduldig. Man muss halt alles schaffen, solange man noch lebt.«
Von der Logik dieser Äußerung noch etwas mitgenommen, lenkte ich behutsam auf ihre Aufforderung zurück. »Ich kann mich doch nicht einfach ausziehen und in den See springen!«
Das Ufer war mit langen grünen Halmen bewachsen. Schlamm quoll an den Seiten meiner Schuhe hoch. Die Bäume, die ihre dicken Äste über das Wasser hielten, boten Sichtschutz, genauso gut konnte sich aber auch jemand dahinter verstecken. Was fürchtete ich mehr? Dass mir jemand etwas wegguckte oder die unzähligen Krankheitskeime in dem ungefilterten Wasser?
»Wenn du dich so zierst, komme ich eben mit«, sagte Jeska und zog sich das lange Hemd bereits über den Kopf. »Schließlich sind wir jetzt Schwestern. Ich bin dreizehn, und du?«
»Schwestern?«, echote ich. Ich hätte wegschauen sollen, aber ich sah hin. Jede einzelne Rippe hob sich voneinander ab. Eine dicke, fleischige Narbe zog sich quer über ihren Bauch und lenkte den Blick von ihren winzigen Brüsten ab.
»Was ist?«, fragte sie. »Ach, das. Darüber spreche ich normalerweise nicht, weißt du. Aber ich schätze, dir kann ich es erzählen. Pia.« Sie fügte meinen Namen hinzu, als sei er ihre ureigene Entdeckung, etwas, das sie nach langer Suche verborgen im Wald gefunden hatte. »Das waren die Jäger. Sie haben mich erwischt, und der Doc hat mich wieder zusammengeflickt. Mir fehlt der halbe Darm oder so, deshalb nehme ich nicht zu. Nicht, dass du dachtest, wir würden hier verhungern.« Sie band ihre Hose auf, ließ sie einfach hinunterfallen, schleuderte sie von den Füßen und lief mit einem Quieken in den See hinein.
Ich folgte ihr nicht sofort. Einen Augenblick lang überwältigte mich alles. Jeskas Geschichte, die Narbe und ihr ausgemergelter Körper. Die Bäume, in deren Blättern der Wind rauschte. Das schmutzige Gras zu meinen Füßen. Jeska, ihr schmaler Rücken, die langen, dünnen Beine. Ihr strähniges blondes Haar. In Neustadt sah niemand so aus.
Und doch fand ich sie wunderschön, schöner als ich je einen Menschen gefunden hatte, außer Lucky. Vielleicht hatte ich auch noch nie darüber nachgedacht, was Schönheit war – die langen, dünnen Beine einer Dreizehnjährigen, ihre erhobenen Arme, während sie durchs Wasser stakste und sich dann ins Tiefe fallen ließ. Ein Muster lief über die Wasseroberfläche, Kreis um Kreis.
Ich hörte auf, mich zu schämen, mich zu fürchten. Streifte meine schmutzstarrenden Kleider ab. Das Wasser spielte kühl um meine Füße, ich zuckte zurück, dann nahm ich mir ein Herz und rannte in den See hinein, so wie Jeska es mir vorgemacht hatte, und schließlich, als das Wasser mir bis an die Hüfte ging, warf ich mich vorwärts. Es spritzte mir ins Gesicht. Und es war überhaupt nicht schmutzig, sondern klarer als das Wasser im Schulschwimmbad. Erst ein paar Meter unter mir wurde es dunkel, darüber wogten Wasserpflanzen, in denen ein Schwarm kleiner, silbriger Fischchen hin und her flitzte. Hastig schwamm ich von ihnen fort, dorthin, wo Jeska auf mich wartete.
»Du kannst ja tatsächlich schwimmen«, sagte sie. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
»Warum nicht? Wir haben Bäder in Neustadt.«
»Ihr habt doch solche Angst vor Krankheiten. Kann man sich da nicht an irgendwas anstecken?«
»Bei wem? Wir sind doch alle gesund, und das Wasser ist desinfiziert.«
»Trotzdem«, beharrte sie. »Ich dachte, ihr lauft mit Mundschutz rum. Mit Gesichtsmasken. In Ganzkörperschutzanzügen!«
Sie lachte wieder, sonst hätte ich vielleicht nicht gemerkt, dass sie mich auf den Arm nahm.
»Wie könnten wir sonst Sport machen?«, fragte ich. »In der Schule müssen wir das, für die Gesundheit, selbst die Loserklasse.«
»Die Loserklasse? Ist ja witzig. Du bist in der Loserklasse?«
»Musst du das ständig wiederholen? Wenn du das noch einmal sagst …«, drohte ich.
Jeska hatte keine Angst vor mir, da konnte ich sie noch so grimmig anfunkeln. Sie klatschte ins Wasser, sodass mir alles in die Augen spritzte. Ich rächte mich, bis sie lachend floh.
Das kühle Wasser tat meinen geschundenen Knochen unendlich gut, trotzdem merkte ich bald, dass ich müde wurde, deshalb kehrte ich zu einer seichteren Stelle zurück. Meine Füße gruben sich in den weichen Grund. Jeska schwamm unter den Bäumen hindurch, wo riesige Blätter die Seeoberfläche bedeckten. Sie störte ein paar Vögel auf, die mit lautem Flügelschlag hochflatterten. Ich schrie erschrocken auf, dann besann ich mich wieder, wo und wer ich war. In der Wildnis. Unter den Wilden. In gewisser Weise gehörte dies alles mir – der See, die Bäume, die großen grünen Blätter, zwischen denen gelbe Blumen blühten. Die Fische, die an meinen Waden vorbeistrichen und mich dabei kitzelten. Heute war ich ein Teil dieser Welt, und ich sehnte mich danach, mit Lucky darüber zu sprechen. Siehst du, würde ich sagen, das ist hinter dem Zaun. Wer hätte das gedacht? Ein See, in dem man baden kann. Wasser, das nicht in den Augen brennt. Siehst du es? Fühlst du es?
Ich streckte die Hand aus, schloss die Augen und stellte mir vor, wie er seine Hand in meine legte. Ich konnte seine Finger um meine fühlen, ich konnte sein Lächeln sehen, während er sich umsah. Er war hier. Wie hätte es anders sein können? Lucky würde immer dort sein, wo ich war.
»Sieben wilde Schwäne«, sang Jeska. »Sie schwammen auf dem See, Frost und Eis verwandelten die Welt.«
»Was singst du denn da?«
»Sieben wilde Schwäne stiegen in den Himmel. Ließen Schnee und Eis und mich zurück.«
Alle Lieder in Neustadt hatten etwas mit Glück zu tun, mit der Sonne und unbeschwerten Sommertagen. Es gab, wenn ich es mir recht überlegte, überhaupt keine Lieder über den Winter. Und erst recht keine, die so traurig klangen wie dieses.
»Es ist eine Geschichte«, erklärte sie. »Von sieben Schwänen. Sie sind jeden Frühling gekommen, zum See, dort, wo ich bin. Das Ich ist natürlich das Ich in dem Lied.«
»Klar«, sagte ich.
»Aber einer der Schwäne möchte im Herbst nicht wegfliegen, er möchte bei mir bleiben. Die anderen sagen ihm, es ist dumm. Ich sage ihm, flieg. Und er fliegt und ist den ganzen Winter über fort.«
»Wie traurig.«
»Nein«, widersprach Jeska vehement. »Es kommt noch schlimmer. Im nächsten Jahr ist es wieder dasselbe. Schnee und Eis und weiß überfrorenes Schilf. Und er will bei mir bleiben. Seine Brüder warten auf ihn, warten, bis es nicht mehr anders geht. Dann fliegen sie doch, steigen in den Himmel auf. Aber er wartet zu lange. Das Eis umgibt ihn von allen Seiten, und er kann nicht mehr auffliegen und stirbt.«
»Und so was singst du?«, fragte ich.
Sie lächelte und sang weiter, und während sie sang, dachte ich an Lucky. Lucky, den ich im Stich gelassen hatte. Er war nicht hier, und alles Wünschen und Vorstellen und Träumen nützte nichts. Ich fühlte mich wie der Schwan, der weggeflogen war, zusammen mit seinen Gefährten. Und nun würde ich den ganzen Winter über fort sein …
»Warum weinst du?«, fragte Jeska leise.
»Ich weine gar nicht.« Ich tauchte mein Gesicht ins Wasser und hielt die Luft an. Die Welt im See war fremd, in ein seltsames grünliches Licht getaucht. Eine Welt der Stille, in die mein heller Körper hineinragte wie eine Porzellanstatue. Jeskas Gesicht erschien vor meinem, ihre Haare wehten um sie herum, ihre Augen schienen mir groß und dunkel. Sie lachte nicht. Ernst sah sie aus und fremd, doch als wir gemeinsam wieder auftauchten, prustete sie und spuckte und steckte mich mit ihrem hysterischen Gelächter an.
»Was ist eigentlich mit Benni los?«, fragte ich.
»Oh«, sagte sie, und etwas an ihrem Lächeln veränderte sich. »Benni. Du hast keinen guten Zeitpunkt erwischt, um ihn kennenzulernen.«
»Ist er sonst anders?«
»Ja«, antwortete sie. »Ist er. Normalerweise ist er ganz still. Dann glaubt man nicht, dass er überhaupt eine Stimme hat. Du musst dich einfach an ihn gewöhnen.«
Das hatte Ricarda mir auch schon gesagt.
»Er ist jetzt auch dein Bruder, weil Ricarda dich zugesprochen bekommen hat«, sagte Jeska. »Sie hat keine Kinder mehr, ihre ganze Familie … na ja, du weißt schon. Deshalb sind Benni und ich zu ihr gekommen und du bist jetzt ihr drittes Kind.«
»Wie kann ich ihr Kind sein? Das ist doch absurd.«
»Du bist ihre Tochter. Sie hat sich ja schon wie eine Löwin für dich eingesetzt.« Jeska spritzte mit beiden Händen ins Wasser, aber der Zauber der Unbeschwertheit war vorüber. »Ricarda ist eine gute Mutter, du hättest es schlechter treffen können. Mit drei Kindern hat sie das Recht auf einen guten Mann, aber im Moment ist keiner übrig.«
Ihre Sätze rauschten an mir vorbei, während ich noch versuchte, den Sinn zu erfassen. »Was ist mit Orion?«, platzte ich schließlich heraus. »Gabriel hat gesagt, wir würden nicht getrennt werden.« Dumpf erinnerte ich mich an den gestrigen Abend, an den fremden Ausdruck in seinem Gesicht, an den stöhnenden Alfred in seinen Armen. Es kam mir vor, als hätte ich das alles nur geträumt.
»Keine Ahnung«, sagte Jeska bloß. »Aber wir müssen jetzt aus dem Wasser.«
Ricarda erwartete uns mit Stofffetzen, die wohl Handtücher sein sollten, aber so hart und rau waren, dass man sich die ganze Haut aufscheuerte. Außerdem hatte sie Ersatzkleider für mich mitgebracht, die, welche Überraschung, grünbraun waren. Sie schwieg, während sie eine Decke vor uns hielt, hinter der wir uns abtrocknen und umziehen konnten, und ich schwieg ebenfalls, nur Jeska plapperte unentwegt irgendwelches Zeug. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass das niemanden interessierte, aber Ricarda lächelte liebevoll, und da verkniff ich mir jede abfällige Bemerkung. Ich hatte nie eine Schwester gehabt, mit der ich das Streiten hätte üben können. Moon zählte nicht. Mit ihr hatte ich mich nie gestritten, sie hatte mir einfach immer gesagt, wo es langging, und ich hatte gehorcht. War ich wirklich so eine Belastung für sie gewesen? Ihre vernichtenden letzten Worte wirkten immer noch nach.
»Wir müssen dich unbedingt kämmen, Pia«, sagte Ricarda. »Du hast schöne Haare, so fein und weich. Was für eine charmante Farbe.«
»Paulus stirbt bestimmt schon vor Ungeduld«, meinte Jeska fröhlich.
»Das riskieren wir. Ich werde Pia trotzdem erst vorzeigbar machen. Er soll sie als meine Tochter befragen, nicht als Flüchtling ohne Familie.«
»Sie sind nicht meine Mutter. Und das kann ich alleine.« Ich nahm ihr den groben Kamm aus der Hand, denn ich wollte nicht, dass sie mich anfasste. Sie war nicht meine Mutter, auch wenn sie so tat, als ob. »Gut«, sagte sie, ohne im Mindesten enttäuscht oder traurig zu klingen. »Ich warte dann auf dich.«
Während Jeska sich einen Zopf aus ihren langen Haaren flocht, brachte ich meine nassen Strähnen in Ordnung. »Was sollte denn das?«
»Ich bin nicht ihre Tochter.«
»Doch, bist du. Jetzt schon. Aber es ist normal, dass Teenager mit ihren Eltern streiten. Sie hat mich; sie ist daran gewöhnt.« Jeska nahm mir den Kamm aus der Hand. »Wie willst du das denn ohne Spiegel machen? So. Du bist total hübsch, weißt du das?«
»Meine Haare sind wie aus Erdnussbutter.«
Sie betrachtete mich eingehend. »Nein. Es ist die Farbe der Hirsche. Wenn sie auf einer Lichtung stehen und die Sonne auf ihrem Fell glänzt. Oder«, sie kniff mir in die Nase, »wie ein Goldhamster.« Bevor ich mich rächen konnte, sprang sie schon davon.