22.

Mein Herz klopfte schneller, während wir durch den Wald gingen. Das Lager war lange nicht so gut getarnt wie das erste, in das Helm uns gebracht hatte, aber die Leute waren dabei, das nachzuholen. Sie breiteten Netze über die Zelte, sägten dichtbelaubte Äste ab und platzierten sie geschickt in die Bäume. Sogar die Kinder halfen mit, ganze Arme voller Blätter und Grasbüschel schleppten sie an. Wo ich vorüberging, folgten mir unzählige Blicke, aber niemand sprach mich an, was vielleicht an Ricardas grimmigem Gesicht lag. »Hier ist es«, sagte sie vor einem niedrigen, langgestreckten Zelt, das ich gar nicht bemerkt hatte. Kunstvoll unter Netzen und Blättern versteckt, verschmolz es mit dem Wald.

»Hier?«, fragte ich bang.

Plötzlich wurde Ricardas Miene weich, sie legte die Hand auf meinem Arm und lächelte mir zu. »Ich bleibe bei dir. Keine Sorge, wir stehen das durch.«

»Das musst du nicht«, sagte ich.

Erst durch ihr feines Lächeln fiel mir mein Fehler auf: Unabsichtlich hatte ich wieder das vertrauliche Du benutzt.

Aber ich hatte eine Mutter, und nichts und niemand würde mich dazu bringen, das zu vergessen. Vera Friedrichs stand in Neustadt vor ihrer Staffelei und malte. Sie tauchte den Pinsel in Grün und Blau und mischte Grau und Schwarz mit hinein, bis das Dunkle die Farben in einem haltlosen Wirbel verschlang.

Orion saß auf einer Matte, die Arme um die Knie geschlungen. Er sah erschöpft aus, mit dunklen Ringen um die Augen, aber als er den Blick hob, war ich doch froh darüber, dass er wieder wie er selbst wirkte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er durchgemacht hatte. Alfred hatte den Sender herausoperiert, während die Jäger schon im Anflug waren; für eine Narkose war keine Zeit gewesen. Gleich danach war Orion mit dem verletzten Bein und der frisch aufgeschnittenen Schulter durch den Wald gerannt und hatte dabei auch noch Alfred getragen. Eigentlich gehörte er ins Genesungshaus.

Aber sein Lächeln war ohne Schmerz, sein Lächeln war das eines Mannes, der genau dort ist, wo er sein will.

Neben ihm saß Rightgood. Ich freute mich, dass er es ebenfalls geschafft hatte, den Bomben und Mördern zu entkommen; schuldbewusst musste ich mir eingestehen, dass ich kaum noch an ihn gedacht hatte. Ihm gegenüber hatte ein Mann Platz genommen, den Ricarda mir vorstellte, indem sie sagte: »Paulus, das ist Pia. Ich verlasse mich darauf, dass du freundlich zu ihr bist, sonst gehen wir wieder.«

Paulus lächelte grimmig. Er war ein recht gut aussehender, glatt rasierter Mann mit blonden Haaren, die ihm bis über die Augenbrauen fielen. Trotzdem verbargen die Strähnen nicht das kleine schwarze Kreuz auf seiner Stirn. Er war wie die übrigen unauffällig in Tarnfarben gekleidet, nur das große runde Medaillon um seinen Hals zog den Blick auf sich – eine Metallplakette mit den Buchstaben N und F darauf. Die gleiche, die auch Gabriel besaß. Links von ihm saßen Helm und Jakob und flüsterten miteinander, verstummten jedoch sofort, als Paulus zu sprechen begann.

»Ihr kommt spät.«

Ricarda nahm meine Hand und zog mich auf eins der Sitzkissen hinunter. »Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Hat der Junge keine Eltern, die für ihn sprechen?«

»Dieses Gespräch dient unter anderem der Klärung, ob er welche verdient«, sagte Paulus.

Meine neue Mutter nickte, was offenbar als Startschuss für die Befragung diente.

»Also …«, begann Paulus, doch in diesem Moment stolperte Gabriel ins Zelt, fing sich rasch wieder, warf einen neugierigen Blick zu Orion und Rightgood hinüber und nahm an Paulus’ freier Seite Platz.

»Können wir jetzt endlich beginnen?«

Gabriel hob entschuldigend die Hände.

Danach gab es keine Unterbrechung mehr. Paulus wollte alles wissen. Über unsere Flucht. Über die Welle. Darüber, wie wir die Zeit zwischen der missglückten Injektion und der Nacht am Tor zugebracht hatten. Zwischendurch knurrte mein Magen so laut, dass ich rot wurde, aber Paulus machte einfach weiter. Besonders interessierte ihn Orions Fluchtversuch am Südtor.

»Was genau hast du dort gesehen? Die Lebensmittel, die für die Wildnis bestimmt sind? Wie die Waggons beladen wurden?«

»Ja«, sagte Orion. »Sie hatten dort Fässer und Kisten. Ich denke immer noch darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, auf diesem Weg zu verschwinden.«

»Wenn du in eins jener Fässer gekrochen wärst, wärst du jetzt vermutlich tot«, sagte Helm und lachte. »Sie sind randvoll mit Gift.«

»Wie bitte?«, fragte ich erschrocken. »Aber wir spenden den Armen hier draußen doch bloß die Reste!«

»Reste, die mit diversen Mittelchen versetzt sind«, sagte Helm. »Es gibt immer noch Leute, die es trotzdem wagen, sich daran zu bedienen. Der Hunger treibt sie an, wer könnte es ihnen verdenken? Aber sie wissen nie, was sie erwartet. Tödliches Gift? Bewusstseinsverändernde Drogen? Essen, so bitter, dass man es nicht bei sich behalten kann? Neustadts Gaben an die Wildnis sind bloß ein Teil der grausamen Spielchen, die sie mit uns treiben.«

Das konnte ich nicht so recht glauben. Fragen meinerseits würgte Paulus jedoch ab. Abwechselnd verlangte er Details von Orion und mir. Keiner von uns wollte über Star reden, doch da wir Helm schon erzählt hatten, dass ein Mädchen bei der Flucht gestorben war, blieb uns nichts anderes übrig. Ich zerquetschte Orions Finger fast, während ich von unseren Besuchen im Genesungshaus berichtete.

»Marty Mozart? Der Sohn des Ministers? Der Glücksminister hat ein herzkrankes Kind?« Ricarda lachte bitter. »So viel Herz trauen wir den Regs normalerweise nicht zu.«

»Ich will euch mal was sagen«, begann Paulus, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Die Geschichte stinkt zum Himmel.«

Ich wollte protestieren, aber da ergriff Orion schon das Wort. »Sie haben recht«, sagte er. »Da waren an die zwanzig, dreißig Wächter. Dazu die Posten oben auf den Wachtürmen. Wart Stiller war auch dort, ich habe ihn gesehen. Und all diese Leute konnten uns nicht daran hindern, durchs Tor zu laufen?«

»Die haben uns nicht absichtlich entkommen lassen!«, rief ich. »Sie haben Star erschossen!«

Paulus zuckte mit den Achseln. »Warum auch nicht? Sie brauchten sie nicht, und nachdem, was ihr uns erzählt habt, hatten sie noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Auf der Warteliste für die Organe standen noch eine Reihe weiterer Reg-Patienten. Es genügte, dich entkommen zu lassen, Junge. Was auch immer du auf dem Verladebahnhof gesehen hast, in dem Moment hast du dein Schicksal besiegelt. Sie wollten dich tot sehen – gleich dort oder hier bei uns. Vermutlich ist ihnen in der Zwischenzeit klar geworden, wie wertvoll jemand wie du sein könnte, um die Jäger ins Lager zu führen. Ein Soldat, der auch wirklich bei uns ankommt, der sich weder von den Junkies noch von sonst etwas aufhalten lässt. Deshalb haben sie dir eine Agentin nachgeschickt, die den Sender einsetzen sollte. Man kann auch seine Feinde benutzen, und zum Töten und Sterben ist immer noch genug Zeit. Die Regs schlagen gern mehrere Fliegen mit einer Klappe.«

»Happiness Zuckermann«, stöhnte ich auf. »Und dann hat sie uns auch noch ans Tor gebracht. Dabei war sie so nett. Sie hat gar keine Fragen gestellt.«

»Natürlich«, sagte Jakob lakonisch. »Sie wusste ja schon alles.«

»Ich hab doch gesagt, es war zu leicht«, flüsterte Orion. Er ballte die Fäuste vor Wut.

»Es sind Kinder«, sagte Ricarda sanft. »Wenn sie ihren Gegner unterschätzt haben, ist das nicht ihre Schuld.«

»Dass sie Pia mit durchgelassen haben, war nicht wirklich nötig«, meinte Helm. »Aber vermutlich haben sie sich gedacht, dass wir Orion mit wesentlich mehr Vertrauen empfangen würden, wenn er jemanden zur Seite hätte, der seine Geschichte, dass er bloß ein harmloser, ahnungsloser Schüler ist, bestätigt.«

»Aber wie wusste die Regierung … die Regs … denn überhaupt, dass wir fliehen wollten?«, fragte ich.

»Ist euch nie der Gedanke gekommen, eure Toms könnten abgehört werden? Und euren Aufenthaltsort konnten sie damit ebenfalls nach Belieben feststellen.«

Orion und ich sahen uns entsetzt an. Wir waren in einer glücklichen, friedlichen Umgebung groß geworden. Da dachte man nicht darüber nach, ob man abgehört oder überwacht wurde. Jetzt war mir endlich klar, warum Helm meinen Tom zerstört hatte, warum sie Orions Gerät weggebracht hatten, um eine falsche Spur zu legen. Und warum das, wie wir alle gemerkt hatten, nicht funktioniert hatte.

»Gut.« Paulus nickte. »Ich habe genug gehört. Die Sitzung ist hiermit beendet.«

»Wie geht es Alfred?«, fragte Ricarda.

Gabriel zuckte die Achseln. »Er kommt durch – hoffentlich. Seinem Jammern nach zu urteilen stirbt er spätestens heute Mittag. Ärzte sind die allerschlimmsten Patienten, glaubt mir. Sie können einfach keinen Schmerz aushalten.«

Orion verzog die Lippen zu einem winzigen Lächeln.

»Das ist nicht witzig, Gabriel«, sagte Paulus steif und verließ das Zelt.

Ricarda folgte ihm sofort nach draußen. »Was ist denn jetzt mit dem Jungen? In welche Familie kommt er?«, verlangte sie zu wissen.

Paulus, der die Tarnung des Versammlungszeltes überprüfte, wirkte leicht genervt. Ihre penetrante Art kostete ihn sichtlich viel Geduld. »Du brauchst nicht noch mehr Kinder, du brauchst einen Mann. Ihn zum Beispiel.« Er streute ein paar zusätzliche Blätter auf die Plane und wies auf Rightgood, der gerade hinter Orion aus der Zeltöffnung kroch und nun entsetzt zusammenzuckte.

»Ich habe eine Familie, in Neustadt!«, protestierte er.

»Mann, das haben alle Neuen. Es zählt nicht mehr. Betrachte dich als geschieden.«

»Es gibt keine Scheidungen mehr in der neuen Welt«, flüsterte Rightgood.

»Nun, hier schon. Aber weißt du was? Noch viel öfter gibt es hier Witwen und Witwer und Waisen. Doch auf sich allein gestellt kann in der Wildnis niemand überleben.«

Es war das erste Mal, dass einer von ihnen das Wort »Wildnis« benutzte. Helm hatte immer »Wald« gesagt oder »Gelände« oder »Lager«. Doch Paulus wusste, was das hier wirklich war. Ich begegnete seinem Blick, und obwohl ich ihn schon nach dieser einen Begegnung nicht gerade sympathisch fand, musste ich doch würdigen, warum er der Anführer war. Er wusste Bescheid. Er würde die Gefahren dieser Welt nicht kleinreden.

Rightgood wollte erneut protestieren, aber Orion legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Anders als der schmächtige Institutsmitarbeiter hatte er sofort begriffen, dass man Paulus besser nicht zu oft widersprach.

»Dieser Mann kann mir nicht helfen«, sagte Ricarda entschlossen. »Er kann die Zeltstangen nicht tragen oder die Netze weiter oben an den Ästen befestigen. Steck ihn zu einer kräftigen Frau mit älteren Kindern, die ihm alles beibringt, was er wissen muss. Der junge Soldat ist ein zusätzlicher Esser, aber er ist stark, er kann mir den Ehemann ersetzen. Er wird keine Last sein.«

»Nein.« Ob das etwas Persönliches war zwischen Paulus und Ricarda? Was sie gesagt hatte, klang vernünftig, aber er ließ sich nicht beirren. »Deine Kinder brauchen einen Vater, keinen großen Bruder. Und die Kleine da« – meinte er mich damit? – »kann nicht mit ihrem Bruder befreundet sein. Der Junge kommt in eine andere Gruppe. Nimm den Kerl hier, oder du musst auf die nächste große Jagd warten und darauf, wer alleine zurückbleibt.«

Ich hätte gerne gewusst, wie viele Menschen die Jäger erwischten. Mit wie vielen Opfern Paulus rechnete, wie viele Familien zerstört werden würden. Wollte Ricarda wirklich einen Mann, dem die Regs gerade die Frau erschossen hatten?

»Ich überlasse nicht jedem die Entscheidung«, sagte er leiser, nur für sie bestimmt, aber ich stand nah genug neben ihr, um ihn zu verstehen.

»Mir wirst du sie überlassen. Weil ich Jeska und Benni genommen habe.«

Ricarda schien ständig zu kämpfen, sie nahm nichts einfach hin. Widerwillig bewunderte ich sie dafür. Schlimm genug, dass man mir eine neue Mutter verpasst hatte, ich wollte nicht auch noch Rightgood zum Vater, daher stand ich voll und ganz auf ihrer Seite.

Was mein eigener Vater wohl im Moment tat? Hatten die Regs meinen Eltern erklärt, dass ich geflohen war, und warum? Wohl kaum. Bestimmt hatten sie sich eine andere Begründung für unser Verschwinden ausgedacht. Und meine Eltern kümmerte es wahrscheinlich sowieso nicht, was mit mir los war. Ihre Tochter war verschwunden, na und? Vielleicht hatten sie Abschied genommen, in der Halle des Glücks, und mich im Sarg liegen sehen, während die sanfte Musik ihre Trauer besänftigte. Ein Hologramm. Warum auch nicht? Es war so leicht, Menschen verschwinden zu lassen, viel leichter, als ich jemals gedacht hatte.

Ihre dunklen Bilder würde meine Mutter anschließend verstecken, hinter dem Schrank, neben den Gemälden, die sie nach dem Tod meiner Oma gemalt hatte.

»Komm, Pia«, sagte Ricarda, und ich wehrte mich nicht gegen ihren Arm um meine Schultern, als sie mich demonstrativ wegführte. Von Paulus. Aber auch von Orion.

»Ich nehme ihn«, sagte eine laute Stimme.

Wir drehten uns noch mal um, gerade rechtzeitig, um Paulus dabei zu ertappen, wie ihm das Kinn herunterklappte.

Alfred war zwischen den Bäumen aufgetaucht. Blass, mit zahlreichen Pflastern mitten im Gesicht, hielt er sich an einem Baumstamm fest.

»Was sagst du da?«, fragte Paulus. »Das kannst du nicht ernst meinen. Dieser Junge hat dich fast das Leben gekostet.«

»Und es gerettet, während die Bomben schon fielen. Ich nehme ihn.«

Ich wusste nicht, warum, aber Alfreds Angebot gefiel Paulus keineswegs. Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

»Du triffst die Entscheidung«, sagte Alfred leise. »Wie immer.«

Was auch zwischen diesen beiden Männern war, es entschied über Orions weiteres Schicksal. Orion, den ich auf keinen Fall verlieren wollte, der mich in dieser merkwürdigen Welt, in der ich noch lange nicht alles durchschaute, nicht allein lassen durfte.

»Er kann mir zu Hand gehen, wenn wir Patienten transportieren müssen oder dergleichen. In nächster Zeit kannst du diesen Jungen sowieso zu keiner anderen Gruppe schicken. Orion gehört unter ärztliche Aufsicht, bis er sich vollständig erholt hat. Du kannst mir nicht für immer einen Sohn verwehren.«

Sie maßen sich mit Blicken.

Paulus war so wütend, dass er bestimmt gleich explodierte, doch er hielt sich zurück. Sein Gesicht verriet nichts und seine Stimme klang kalt, als er schließlich sagte: »Ich werde darüber nachdenken. Du erfährst es als Erster.«

Ricarda drängte mich, weiterzugehen. Sie wollte offenbar nicht darüber reden, was hier vor sich ging, daher würde ich meine neue Schwester fragen müssen.

Mein Körper wechselte unvermittelt das Thema, indem er sich mit einer nicht zu überhörenden Botschaft meldete. Mein Magen grummelte bedrohlich.

»Ich hoffe, die Fischer hatten Erfolg«, sagte Ricarda. »Aber die Zubereitung dauert eine Weile. Wenn wir Glück haben, hat Jeska in der Zwischenzeit ein Frühstück aufgetrieben.«