9.

Ich holte Star von zu Hause ab. Ihre Mutter öffnete mir die Tür. Frau Lichtl war anscheinend gerade erst von der Arbeit gekommen, denn sie trug noch eine Schutzbrille, die sie sich in die blondierten Haare geschoben hatte.

»Hallo«, strahlte sie mich an. »Und du bist …?«

»Eine Freundin von Star«, sagte ich höflich. »Ist sie da?«

»Ja, natürlich. Star!«, trällerte sie in die Wohnung hinein. Ich fand ihre Fröhlichkeit zum Kotzen, unterdrückte aber den Impuls, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln. Dafür war mein Mundwerk schneller als mein Verstand.

»Phil liegt todkrank im Genesungshaus«, sagte ich. »Stört Sie das denn gar nicht?«

Einen Moment, so kurz, dass ich es mir vielleicht auch nur einbildete, wirkte Frau Lichtl erschrocken. Aber sie fasste sich schnell wieder. »Oh, das wird schon«, meinte sie munter, »nicht wahr, meine Liebe?«

Star, die mit grimmigem Gesicht aus ihrem Zimmer stapfte, schürzte verächtlich die Lippen. »Lass uns gehen.«

Sie würdigte ihre Mutter keines Blickes. Obwohl mich der unerschütterliche Optimismus der armen Frau Lichtl eben noch selbst aufgeregt hatte, sah ich mich jetzt genötigt, sie zu verteidigen.

»Deine Mam kann nichts dafür«, sagte ich. »Wenn wir unsere Welle bekommen hätten, wäre uns das auch so ziemlich egal.«

»Halt die Klappe!«, fuhr Star mich an.

Hatte ich vielleicht ein kleines bisschen Dankbarkeit erwartet, dafür, dass ich ihr half? Nun, das konnte ich mir wohl abschminken.

Wir fuhren mit dem Lift hinunter ins Erdgeschoss und stiegen in die vierte Linie der Straßenbahn. Keiner von uns sprach. Finster starrte Star durch die Scheiben. Ich sah mich selbst darin gespiegelt – ein Mädchen mit unbeweglicher Miene. Das war gut. Ich wollte nicht, dass man mir ansah, was ich fühlte, und doch kam es mir vor, als würde Star gerade deswegen so abweisend sein. Weil ich ein Gesicht hatte wie jemand, dem alles egal war.

Meine Gesichtszüge entglitten allerdings meiner Kontrolle, als wir ausstiegen und Lucky uns an der Haltestelle entgegentrat. Es war immer noch der neue Lucky mit diesen neuen Augen, die mich ganz durcheinanderbrachten. Früher waren sie einfach nur braun gewesen, jetzt schienen sie zu glänzen und zu funkeln und waren auf einmal tief, als hätte sich ein flaches buntes Plättchen unversehens in ein faszinierendes dreidimensionales Bild verwandelt.

»Na, hast du Schiss?«, fragte er mich, und sein neues, gefährliches Lächeln brachte meine Haut überall zum Prickeln. Hinter ihm tauchten Moon und Jupiter auf. Seine Wangen glühten vor Aufregung.

»Warum habt ihr denn eure ganze Klasse mitgebracht?«, wollte Star wissen.

»Ich bin der beste Schauspieler«, erklärte Jupiter stolz. »Oh Mann, das wird ein Auftritt!«

Star blinzelte verwirrt.

Moons Augen glänzten voller Vorfreude. »Ich habe meine künstliche Träne mitgebracht. Und einen Beutel Theaterblut. War ganz leicht, das aus der Aula mitgehen zu lassen.«

»Hör mir gut zu, Star«, sagte Lucky. »Wir müssen sehr schnell sein, deshalb alles Wichtige jetzt schon. Wir gehen alle zusammen ins Genesungshaus, und Jupiter wird so tun, als ob er einen Unfall hatte. Moon wird laut schreien und heulen, damit alle Helfer losstürmen, um das Problem zu lösen. In der Zwischenzeit, wenn alle abgelenkt sind, rennen wir zum Fahrstuhl und fahren hoch zu Phil.«

Das war mein Anteil an unserem Plan.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß doch nicht mal, in welchem Zimmer er liegt. Die haben uns nur gesagt, dass er hier ist. Und dass wir uns nicht mit seinem Anblick belasten sollten. Mama und Papa fanden das okay so. – Als wenn sie irgendetwas belasten würde«, fügte sie bitter hinzu.

»Das ist kein Problem, das hat Merkur schon für mich rausgefunden. Er hat sich in die Gästeliste gehackt.«

Darauf war Lucky gekommen – Merkur war ein Genie, wenn es um Computer ging.

Unsere ursprünglichen Ideen waren viel abenteuerlicher gewesen. Mit dem Seil hinten an der Genesungshausfassade hochklettern und durch den Lüftungsschacht hinein. Irgendetwas wie aus dem Fernsehen. Uns beiden war danach, etwas zu tun, das in einen Film gepasst hätte, aber schließlich hatten wir uns auf diese harmlosere Variante geeinigt. Moon und Jupiter wussten natürlich nicht, wie ernst die Sache für Star war. Meine beste Freundin war nur von der Idee begeistert, in der Öffentlichkeit eine Theaternummer durchzuziehen, und Jupiter wäre ihr überall hin gefolgt.

»Alle bereit?«

Luckys Blick bewirkte, dass meine Knie wackelig wurden. Es war, als wäre ich in eine neue Art von Wolke eingetaucht, durch die pausenlos Blitze zuckten, in der meine Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren. Die Luft schien zu vibrieren.

»Dann los.«

Vor dem Genesungshaus inszenierten wir den kleinen Unfall. Jupiter stolperte auf der Treppe vor dem Eingang und wälzte sich im Theaterblut, dann schleppten wir ihn durch die Drehtür, die viel zu schnell eingestellt war für benebelte Neustadtbewohner, und stolperten durch die mit künstlichen Pflanzen aufgehübschte Eingangshalle. Moons Schluchzen sorgte für reichlich Aufmerksamkeit.

»Jupiter!«, heulte sie. »Oh Jupiter, verlass mich nicht! Oh, das viele Blut! Ich kann doch gar kein Blut sehen!«

Sofort stürzten aus allen Türen weißgekleidete Helfer herbei, und sogar die freundliche Dame am Empfang beugte sich über den Tresen, um nichts zu verpassen. Zu dritt rannten wir durchs Foyer zu den Aufzügen. Moon hatte uns den Weg beschrieben; sie kannte sich im Genesungshaus aus, weil sie wegen ihrer Nasenkorrektur hier gewesen war.

»Zimmer 418«, sagte Lucky, und der Lift schoss in die Höhe.

»Wollten eure Freunde nicht wissen, was wir hier machen?«, fragte Star.

»Moon liebt Streiche«, erklärte ich. »Also kein Grund zur Sorge.«

»Aber kam es ihnen nicht komisch vor?«

»Ja, ein bisschen schon«, meinte Lucky. »Doch das Gute ist, es ist allen egal. Hauptsache, sie haben Spaß dabei.«

Mit einem leisen Sirren öffnete sich die Lifttür im vierten Stockwerk. In diesem Flur war es merkwürdig still. Während man sich unten im Foyer noch hätte einbilden können, in einem Hotel zu sein, war die Atmosphäre hier durch den glänzenden Bodenbelag und die in einem kalten Weiß gestrichenen Wände fremd, fast unheimlich, und es roch komisch.

Eine Genesungshelferin in weißer Tracht kam uns gut gelaunt summend entgegen. Sie warf uns einen irritierten Blick zu, also lächelten wir sie übertrieben fröhlich an und gingen einfach weiter.

»He!«

Wir drehten uns um. Die Helferin war stehengeblieben. »Was macht ihr eigentlich hier?«

»Wir besuchen einen Schulfreund, im Auftrag unseres Lehrers«, sagte ich rasch, bevor einer der anderen Phils Namen verraten konnte. »Wegen der Hausaufgaben.«

»Unfälle liegen im zweiten Stockwerk.«

»Sind wir da nicht?«, fragte ich und setzte mein dämlichstes Grinsen auf. »Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt im Lift nicht alle durcheinanderreden!«

»Ja, tut mir leid«, murmelte Lucky.

»Tja, dann gehen wir mal«, sagte ich, »danke schön noch.«

Ich zog Star am Ärmel in Richtung Fahrstuhl, doch sobald die Genesungshelferin verschwunden war, kehrten wir wieder um.

»Schnell«, keuchte Lucky, als sich erneut jemand mit laut hallenden Schritten ankündigte. »Hier herein.«

Es war ein Raum mit Medikamenten und anderem Zeug, das sich bis an die Decke stapelte. Hinter der halb offenen Tür warteten wir, bis die Schritte vorüber waren, dann schlüpften wir wieder hinaus auf den Gang.

»Eigentlich ganz schön ungerecht«, flüsterte ich, »dass man nicht mal seine eigenen Verwandten besuchen darf.«

Star presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Wir huschten über das bläuliche Linoleum, bis wir schließlich vor Zimmer 418 standen. Keiner traute sich so recht, die Tür zu öffnen. Ich streckte schließlich die Hand aus, doch Star schob mich beiseite und drückte die Klinke herunter.

Zwei Betten standen in dem nüchternen, weiß gestrichenen Raum. In einem lag ein an unzählige Geräte und Monitore angeschlossener kleiner Körper. Ohne auf irgendetwas anderes zu achten, trat Star auf dieses Bett zu.

Ich dagegen wurde von dem Anblick des zweiten Patienten gefangen genommen. Er war wach und betrachtete uns überrascht. Der Junge war ungefähr in Phils Alter, neun oder zehn, und hatte auffällig weißblondes Haar. Unter der weißen Bettdecke, mit seinem bleichen Gesicht sah er aus wie ein kleines Gespenst.

»Was macht ihr hier?«, flüsterte er, und allein dieser kurze Satz strengte ihn so an, dass er nach Luft rang.

»Wir besuchen Phil«, sagte ich und setzte mich zu ihm auf die Bettkante. In diesem Moment kam mir der schreckliche Gedanke, er könnte vielleicht an einer ansteckenden Krankheit leiden, und ich wollte schnell wieder abrücken, doch da umschlossen die kleinen, kalten Finger mein Handgelenk.

»Bleib ruhig sitzen«, wisperte er. »Du hast schöne Haare.«

»Braun wie Erdnussbutter.« Ich versuchte, nicht zu Star hinüberzublinzeln, die sich leise stöhnend über ihren Bruder beugte.

Lucky stand bewegungslos am Fußende des Bettes und machte ein Gesicht wie ein Schüler, der gleich den Stoff des ganzen letzten Halbjahres hersagen muss.

»Ich mag Erdnussbutter.« Auch dieser kurze Satz kostete ihn einen Hustenanfall.

»Weißt du, wie es Phil geht?«, fragte ich den Jungen. »Was haben die Ärzte über ihn gesagt?«

»Ich bekomme sein Herz«, flüsterte er. »Sie bereiten schon alles vor.«

»Was?«

Der Ausruf kam über meine Lippen, bevor ich ihn zurückhalten konnte. Meine Freunde sahen zu mir herüber. Ich wollte ihnen signalisieren, dass alles in Ordnung war, aber ich vermochte es nicht. Mein Mund wollte mir kaum gehorchen, als ich nachhakte.

»Du bekommst … Aber er lebt doch noch! Er liegt im Koma, er könnte sich doch wieder erholen, oder nicht?«

»Ich krieg das Herz«, wiederholte der fremde Junge, der immer noch seine Hand um meinen Arm krallte. »Und weil ich so tapfer bin, darf ich mit nach draußen, wenn alles vorbei ist.«

»Nach draußen?«

»In die Wildnis«, flüsterte er. »Ich darf mitfliegen und bei der Jagd dabei sein.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Aber obwohl er so klein und schwach war und ständig hustete, glomm in seinen blauen Augen etwas auf wie ein Feuer. Vorfreude. Schrecken. Angst. Von allem etwas.

»War er ein netter Junge?«, wollte er wissen. Seine Hand lag klein und kalt in meiner. Mich fröstelte.

»Ja«, sagte ich. »Das ist er.«

Er nickte und schloss die Augen.

Ich senkte meine Stimme. »Tut er dir nicht leid?«, fragte ich. Niemandem tat irgendjemand leid, aber ich wollte es genauer wissen. Ein ungeheurer Verdacht stieg in mir auf.

»Doch, schon«, flüsterte er, öffnete die Augen wieder und warf einen schnellen, ängstlichen Blick zum anderen Bett hinüber. »Aber ich bin wichtiger, sagt mein Vater, wichtiger als einer von denen.«

Der Griff um mein Gelenk verstärkte sich. Dieses Kind hielt sich für etwas Besseres als Phil, aber ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Ich spürte seine Angst, in dieser kleinen, schweißnassen Hand.

Richtige Angst.

Dieser Junge wusste, was es hieß, sich zu fürchten, selbst wenn er noch so altklug daherredete.

»Du kriegst keine Glücksgabe, oder?«, fragte ich.

Er klammerte sich an mich, während er hustete. Ich wollte ihm sagen, dass er sich von dem Gedanken verabschieden sollte, dass Stars Bruder ihn retten würde. Sie durften Phil das Herz nicht herausoperieren. Wir mussten es verhindern, aber ich wusste nicht, wie. Einen Todkranken aus dem Genesungshaus entführen? Wohin sollten wir ihn denn bringen?

»Wir brauchen so was nicht«, wisperte der Junge. »Wir sind nicht wie die anderen.«

Ich drückte seine Hand. »Hab keine Angst«, sagte ich zu ihm, obwohl ich mir mehr als alles andere wünschte, er würde Phils Herz nicht bekommen. Nein, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich mir wünschen sollte. Ich spürte nur, wie mir das Entsetzen über den Rücken lief, eine Kälte wie die Berührung eisiger Krallen. »Hab keine Angst.« Ich wiederholte es ein paar Mal, weil ich keine anderen Worte fand. »Es wird alles gut.« Doch sobald ich diesen Satz ausgesprochen hatte, bereute ich es heftig, denn damit beschwichtigten sie auch Phils Eltern, damit speisten sie uns alle ab.

Nichts würde gut werden. Für einen von diesen beiden Jungen würde es böse enden, und ich wusste auch, für wen.

Ich löste meine Hand von seiner und schaute in seine schmerzumwölkten Himmelsaugen. Kein Glücksstrom. Er war seinen Gefühlen ausgeliefert, so wie wir drei, und dabei war er so jung und hilflos. Mein Mitleid, meine Wut – was davon war stärker?

In diesem Moment riss jemand die Tür auf, und eine energische Stimme verkündete: »Hier ist er. Na, wie geht es heute unserem Marty?«

Hinter der hünenhaften Genesungshelferin, die in ihrer weißen Uniform wie ein Eisbär aussah, trat ein junger Mann ins Zimmer. Er war groß und blond und von einer Perfektion, wie sie selbst bei den reichsten Kindern an unserer Schule selten war. Zum Glück hatte er keinen Blick für uns, sondern eilte sofort an das zweite Bett, wo ihn der herzkranke Junge mit einem seligen Seufzer begrüßte. »Ruben. Du bist da.«

»Warum hast du kein Einzelzimmer?«, fragte der Fremde mit befehlsgewohnter Stimme.

»Vater wollte, dass ich ihn atmen höre«, sagte Marty und hustete.

Wir anderen wandten uns hastig Phil zu, in der Hoffnung, die Helferin nicht auf uns aufmerksam zu machen. Ich wollte mir sein Gesicht nicht anschauen und starrte auf die Bettdecke, aber meine Augen machten sich selbständig. Phils Hinterkopf war verbunden, und auf einer Seite klebte ein längliches Pflaster von seinem Ohr bis zum Hals, durch das man dunkel einen klaffenden roten Riss erahnen konnte. Von der anderen Seite her wirkte er jedoch nahezu unversehrt. Da waren nur ein paar Abschürfungen auf seiner blassen Wange und seinen Stirn. Er sah aus, als würde er schlafen.

Dieses Kind hatte nie erfahren, was Angst ist.

»Was macht ihr denn hier, ihr süßen Schätzchen?«, fragte die Genesungshelferin. »Der Aufenthalt im Genesungshaus ist für Gesunde nicht gestattet.«

»Bloß Besuch aus der Schule. Und schon auf dem Weg hinaus«, antwortete Lucky rasch, und im nächsten Moment standen wir alle auf dem Gang.

»Weg hier«, stieß ich hervor. »Schnell.« Ich konnte fühlen, dass die Frau uns nachkam. Gleich würde sie Alarm schlagen. »Da ist der Fahrstuhl! Rasch!«

Irgendjemand hinter uns fragte mit barscher Stimme: »Was machen die denn hier?« Das klang nicht nach jemandem, der im Glücksstrom schwamm.

Doch schon öffnete sich die Lifttür und wir schlüpften hinein. Während sich die Kabine schloss, sah ich durch den Spalt gerade noch den Sprecher, einen älteren Mann, der uns ganz ohne glückliches Grinsen nachstarrte.

Wenn mich jetzt jemand ansprach, würde es aus mir herausbrechen, das wusste ich, ich würde schreien, so laut, wie ich noch nie geschrien hatte. Aber es würde nicht helfen, auch das war mir klar.

Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Es kann nicht sein … Es darf nicht sein …

Aber all das passierte wirklich, und ich konnte nichts dagegen tun.

»Pi?«, fragte Lucky leise. »Alles in Ordnung?«

»Nein«, antwortete ich heftig. »Ganz bestimmt nicht!«

Star wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Danke«, flüsterte sie, »dass ihr mit mir hergekommen seid.«

Unten in der Halle ging es laut und fröhlich zu wie bei einer Party. Eine Gruppe von Helfern applaudierte gerade, während Moon und Jupiter sich an den Händen fassten und verbeugten. Jupiters Gesicht war wieder sauber, nur auf seiner Kleidung prangten noch zahlreiche Flecken. Theaterblut.

»Herzlichen Dank für diese lustige Vorstellung!«, rief einer der Genesungshelfer. »So eine wunderbare Aufführung hatten wir hier noch nie!«

Während Jupiter vor Aufregung fast umkippte, lächelte Moon geheimnisvoll und fasste ihn bei der Hand. »Wir müssen los. Auf Wiedersehen!«

Gleichzeitig erreichten wir alle die Drehtür und liefen eifrig winkend nach draußen.

Hinter uns ragten die vielen Stockwerke des Genesungshauses in den dunkelblauen Himmel, und vor uns surrte die Straßenbahn vorbei. Was sonst wie ein einziger Brei aus Geräuschen und Farben um mich herumgewabert hatte, faszinierte mich jetzt mit seiner Schärfe. Alle meine Sinne waren wach, waren begierig, mehr zu sehen, zu hören, zu fühlen. Das alles war neu für mich. Ich hatte nicht gewusst, in was für einer Stadt wir lebten, was Neustadt wirklich war. Nichts hatte ich gewusst.

»Pi? Pi, hör auf zu träumen! Wir müssen hier weg.«

»Was für ein wunderbares Publikum«, sagte Moon. »Die konnten auch richtig würdigen, wie schön Jupiter gestorben ist. Wir haben erst den Unfall gespielt und dann Romeo und Julia und dann Ein Schüler stürzt vom Gerüst, unsere eigene Improvisation.«

Ich fühlte mich immer noch völlig benommen, doch aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung am Ausgang des Genesungshauses. Ein paar weiß gekleidete Helfer, die sich umsahen und auf uns zeigten. Vielleicht waren es aber auch Wächter; nie zuvor war mir aufgefallen, dass beide Berufsgruppen nahezu identische Uniformen trugen.

»Und was jetzt?«, fragte Moon. »Gehen wir ein paar Cocktails trinken?«

»Ja«, sagte ich. »Gute Idee.«

Nur ein, zwei Straßen weiter befand sich das kleine, aber feine Einkaufsviertel von Bezirk Vier, wo es um diese Zeit von Jugendlichen wimmelte. Wenn es uns gelang, in der Menge unterzutauchen …

Ich warf einen Blick zurück über meine Schulter. Die beiden Wachleute waren ein gutes Stück zurückgefallen. Neben mir japste Jupiter nach Luft.

Da waren schon die Cafés, die Bänke, die künstlichen Bäume. Wir mischten uns in den Strom der jungen Leute – die sportlichen Angeber, die auf ihren Boards herumkurvten, die Verrückten, die auf Spiralfedern sprangen, oder die aufgetakelten Mädchen, die ihnen dabei zusahen.

»Sieh nach vorn«, sagte Lucky. »Immer nur nach vorne.«

Wir schlängelten uns durch die Menge und blieben schließlich vor den bunten Auslagen unseres Lieblingscafés stehen. Mit brennenden Augen versuchte ich in der spiegelnden Schaufensterscheibe unsere Verfolger zu erkennen.

»Sie sind weg, glaube ich«, meinte Star. »Und wir haben den kleinen Dicken verloren.«

Auf einmal war mir danach, wie irrsinnig zu kichern.

Die Getränke waren bunt, süß und gesund. In der Flüssigkeit wirbelten blaue und grüne Schlieren durcheinander, und Düfte wie aus einem Traum kitzelten mich in der Nase. Mir war übel. Keinen einzigen Schluck von dem Zeug würde ich heute über die Lippen bringen. Angewidert schob ich das Glas beiseite.

Moon rührte versonnen in ihrem Cocktail. Die Verfolgungsjagd hatte sie weder zum Schwitzen gebracht noch ihre Frisur zerstört. Ihr Haar glänzte seidig im weißlichen Licht der Lampen. »Vielleicht sollte ich mal wieder was korrigieren lassen«, meinte sie. »Die sind dort alle so nett im Genesungshaus. Aber ich möchte ungern das nächste Abenteuer verpassen.«

Lucky ignorierte sie und rückte ein bisschen näher an mich heran. »Was hat der Junge gesagt?«

»Dass er Phils Herz bekommen soll«, antwortete ich leise. »Die Ärzte haben ihn bereits aufgegeben, verstehst du? Sie geben Marty das Herz.«

Luckys Gesicht wurde grau. »Aber sie können doch nicht einfach …« In atemloser Wut ballte er die Fäuste.

»Das ist noch nicht alles. Hast du gehört, was er seinem Besucher erzählt hat? Sie haben Marty absichtlich das Bett neben Phil gegeben. Das war die Idee seines Vaters! Wie grausam ist das denn? Was sind das nur für Leute? Und …«

Ich zögerte. Sollte ich es aussprechen oder nicht? Was brachte es? Aber die ohnmächtige Wut in mir, die ich in Luckys Augen gespiegelt sah, trieb mich dazu. »Marty hatte Angst.«

»Das hätte ich auch«, knurrte er, »wenn jemand anders für mich sterben müsste.«

»Verstehst du nicht? Angst. Richtige Angst. Todesangst!«

»Du meinst, er hatte Gefühle? Aber der neue Mensch …« Er verstummte erschrocken.

Der Gedanke war undenkbar … und doch. Alle Leidenschaft musste verbannt sein, für ein ganzes Leben, damit sie die nächste Generation nicht in Mitleidenschaft zog.

Aber die Angst in Martys Augen … Weil ich so aufgeregt gewesen war im Genesungshaus, hatte sich mir jedes Detail eingeprägt. Das Zimmer. Phil. Und dann sein Besucher, dieser hübsche junge Mann. Wie war die herrische Arroganz, mit der er aufgetreten war, mit dem Glücksstrom vereinbar? Erst sein kalter, verächtlicher Blick – und dann das Lächeln, das sein Gesicht verwandelte, als er ans Krankenbett des Jungen trat. Die perfekten Fingernägel an der Hand, die sich um den Bettpfosten krallte und dieses Lächeln Lügen strafte. Noch jemand voller Angst und Gefühl …

»Ist dir was an diesem blonden Typen aufgefallen? Der so getan hat, als wären wir Ungeziefer.« Lucky runzelte die Stirn. »Wenn Moon reich ist, dann ist der megareich, wetten? Die schwimmen in Geld. Ich wette, das ist eine Familie von ganz oben.«

Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass es Leute gab, die noch reicher sein könnten als Moons Familie.

»Du kannst mich für verrückt halten – aber ich schätze, das war Martys Bruder«, fügte Lucky nachdenklich hinzu.

»Unsinn«, widersprach ich. »Er kann keinen Bruder haben, nur eine Schwester. Ein Junge und ein Mädchen, das gilt für alle.«

Ich sah mich vorsichtig um, denn unser Gesprächsthema beinhaltete wirklich alle Tabus, die man sich nur vorstellen konnte. Doch die anderen achteten gar nicht auf uns. Moon flirtete gerade mit einem Jungen ein paar Tische weiter. Star nuckelte an ihrem Cocktail und wirkte völlig abwesend.

»Vielleicht war es ein Cousin. Oder ein Freund der Familie. Ein Onkel.«

»Träum weiter«, sagte Lucky. »Glaubst du immer noch, dass für uns alle dieselben Regeln gelten?«

Wieder fühlte ich die Traurigkeit über mich kommen, die schon immer mein Begleiter war, solange ich zurückdenken konnte. Für mich hatten seit frühester Kindheit andere Regeln gegolten, schließlich war ich nicht umsonst ein Einzelkind. Wenn das nicht Fakt wäre, dann hätten sie mir Lucky zugeteilt. Mir und niemandem sonst.

»Jetzt habe ich Lust zum Tanzen«, sagte Moon. »Wer kommt mit?«

Mein Herz schlug immer noch so heftig, dass ich von seinem Gewicht fast vornübergezogen wurde. Unsere Zukunft hing an einem seidenen Faden. Um sie zu bewahren, durften wir nicht auffallen, keinen falschen Schritt tun, wir mussten sein wie alle. Trotzdem konnte ich es nicht über mich bringen, Moon jetzt noch auf eine Party zu begleiten.

»Ich bin müde«, sagte Star leise und rang sich ein Lächeln ab. »Ein andermal.«

»Ich muss auch passen«, sagte Lucky.

»Na gut, fahren wir nach Hause«, meinte Moon. »Ohne euch macht es nicht halb so viel Spaß.«

Die Nachtluft war weich an meinem Gesicht, als wir die belebte Hauptstraße erreichten und zu unserer Haltestelle schlenderten. Lucky hatte die Hände in den Taschen vergraben, und ich wünschte mir, die Schaufenster und Schilder hätten nicht ganz so hell geleuchtet. Auch nachts war es schwer, Geheimnisse zu bewahren und Gefühle, und wir sahen bestimmt beide nicht gerade glücklich aus.

Trotz des kalten weißen Lichts der Laternen, trotz der schrecklichen Dinge, die heute geschehen waren, wollte ich dieses Gefühl festhalten. Es einpacken und für immer behalten. Diese Sommernacht und Lucky, der so anders war als sonst, nicht albern und aufdringlich, sondern traurig und verstört – und selbst das war kostbar, denn es war echt. Das waren unsere Gefühle, und sie waren wild und fremd und taten so schrecklich weh, dass es kaum auszuhalten war. Und auch das wollte ich festhalten.

Als wir durch die funkelnden Straßen zurückfuhren, sah ich unsere vier Gestalten in den Scheiben der Bahn gespiegelt, und ich dachte: Wir sind aber nicht wie alle. Zwei wunderschöne Mädchen, die eine groß und dunkelhaarig und vollkommen, die andere klein, zierlich, ein Rotschopf mit lustigen Grübchen. Dazu der schlanke Junge, der den Kopf gegen das Glas gelehnt hatte, die Augen geschlossen, als wollte er vor all dieser Schönheit fliehen. Und ich zwischen ihnen.

Mein Aussehen konnte ich nicht beurteilen; ich war daran gewöhnt und fand es okay. Aber am schönsten kamen mir nicht die beiden perfekten Mädchen vor, sondern der erschöpfte Junge mit den braunen Haaren. Ich stand direkt neben ihm, aber mir kam es vor, als wären die beiden gespiegelten Figuren einander viel näher, als wir echten Menschen es je sein konnten.

Da öffnete er die Augen und erwiderte meinen Blick, dort in der Scheibe. Offen und klar, ein Blick, der nichts zurückhielt. Seine Augen waren dunkel und intensiv, als wären sie lebendig.

Wir sahen einander an.

Vor uns in der Scheibe bewegte der schöne Junge die Hand und tastete nach meiner. Seine Haut war warm, und mit meinen Gefühlen passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Es war, als würden sie explodieren und dann wie Funken nach oben steigen und davonfliegen, sodass ich zurückblieb, ohne Wildheit, ohne Sorgen, ohne die Furcht, erwischt zu werden, im Nacken. Ohne Phil auf seinem Krankenbett und ohne die Angst in den Augen des fremden kleinen Patienten. Alles löste sich auf und schwamm davon, und zurück blieb etwas, das ganz leicht war, leichter als Atmen.

Die beiden Gesichter in der Scheibe der Bahn lächelten einander zu.

Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Glück.