20.
Im nächsten Moment wimmelte es um uns herum von Menschen. Sie schienen blind in alle Richtungen zu laufen. Sämtliche Lichter, die eben noch durchs Blattwerk schimmerten, erloschen.
Der Junge hielt meine Hand so fest, dass mir nichts anderes übrig blieb, als neben ihm über den unebenen Waldboden zu stolpern. Wir brachen durchs Gebüsch, links und rechts von uns hörte ich andere Leute, unter deren Schritten Zweige knickten und Blätter raschelten.
»Was ist eigentlich …«, wollte ich fragen, aber er unterbrach mich sofort.
»Still. Kein Wort.«
Wir rannten nicht zu einem Treffpunkt, wie ich zunächst erwartete. Nach und nach zerstreuten sich alle, und ich hörte nur noch meinen eigenen keuchenden Atem und sein leises Schnaufen. Unsere Schritte waren die einzigen; wir waren allein. Mir fiel auf, dass ich auch den Hubschrauber nicht mehr über uns hörte.
Gabriel blieb stehen, neigte lauschend den Kopf, und zog mich unter ein Gebüsch. Er war so dicht neben mir, dass ich seinen feinen Schweißgeruch wahrnehmen konnte – wie ich nach der zweitägigen Wanderung durch Sumpf und Wald roch, wollte ich gar nicht wissen –, und sein Herz hämmerte gegen meinen Rücken.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, wisperte er in mein Ohr. »Wenn wir Glück haben, sehen sie uns nicht. Wenn ich los sage, rennst du und wartest nicht auf mich.«
Ich nickte, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Ich bezweifelte eigentlich, dass ich vor irgendetwas davonlaufen konnte. Meine Beine zitterten so stark, dass ich mich hinknien musste, um nicht umzufallen.
Wir warteten.
Ein Donnerschlag ließ mich hochschrecken. Glühendes Licht überzog den Nachthimmel, Flammen leckten über die Wolken. Es knallte noch ein paar Mal, dann wurde es so still wie nie zuvor. Ich wagte nicht danach zu fragen, was das gewesen war, doch es musste etwas Schlimmes sein, denn Gabriel zuckte zusammen und stöhnte leise, als hätte der Lichtblitz irgendetwas in ihm getroffen und verbrannt. Doch so wie Orion alle Schmerzen unterdrückte und die Schreie hinunterschluckte, schwieg auch er und harrte aus. Es war nicht mehr ganz so dunkel wie vorher, ein flackernder Schein erhellte den Himmel, und die Luft roch bitter nach Rauch. Bestimmt brannte es dort hinten, wo wir kurz zuvor noch gewesen waren, in dem getarnten Lager unter den Bäumen. Ob der Junge wohl Angst hatte, dass nicht alle entkommen waren? Dann dachte ich an Orion und den Arzt und das Skalpell, das ich in seiner Hand hatte aufblitzen sehen, bevor Helm mich aus dem Zelt schleppte, und die Furcht schnürte mir die Kehle zu.
Wir warteten, und während die Kälte mir durch die Haut drang, war ich kurz weg – die Erschöpfung und der Schreck warfen mich in ein dunkles Loch. Doch sobald mich jemand am Arm berührte und mich leicht schüttelte, war ich wieder wach. Wie ich merkte, war ich gegen Gabriels Schulter gesunken. Schuldbewusst richtete ich mich auf, da legte er mir den Finger an die Lippen, um mir zu bedeuten, still zu sein. Im nächsten Moment sah ich auch schon, warum.
Ich musste länger geschlafen haben, als es mir vorgekommen war, denn die Nacht war einem diffusen grauen Licht gewichen. Deshalb erkannte ich die dunkle Gestalt deutlich, die wenige Meter von uns entfernt über den moosigen Waldboden schlich. Der Größe nach ein schwerer, erwachsener Mann, doch er bewegte sich nahezu lautlos vorwärts. Zuerst dachte ich, dass er einen Stock oder Knüppel in der Hand hielt, dann wurde mir schlagartig klar, dass es eine Waffe war. Am liebsten hätte ich Gabriel zurück in unser Versteck gezerrt, als er sich langsam aufrichtete. Frühlingswetter, was tat er da? Langsam, fast zärtlich zog er ein Messer aus seinem Gürtel. Es war das erste Mal, dass ich ihn richtig sehen konnte. Er konnte nicht viel älter sein als ich, ein Junge mit dunkelblondem Haar, schlank, aber geschmeidig und durchtrainiert wie unsere Sportler in Neustadt. Über der graubraunen Jacke trug er ein rundes Metallstück mit Buchstaben darauf. NF.
Neuer Freund? Mach bloß keine Dummheit, wollte ich ihm zurufen, aber es war unmöglich, ihn aufzuhalten, ohne Lärm zu machen. War er verrückt? So verrückt wie alles hier? Wenn wir ganz still hielten, würde der Mann mit der Waffe vorbeigehen, denn er schien überhaupt nicht in unsere Richtung zu sehen. Jetzt hielt er inne und wandte sich um, bemerkte aber offenbar nichts und ging weiter – nur um im nächsten Moment erneut herumzufahren und in ein Gebüsch zu schießen, das ein paar Meter von uns entfernt war. Der Knall war ohrenbetäubend, und mir entschlüpfte ein kleiner Schrei. Laut gackernd und flatternd stürzte ein großer Vogel hervor, Federn stoben durch die Luft. Gabriel sprang aus dem Strauch, fast schneller, als ich zusehen konnte, und brachte den Mann im Anspringen zu Fall, obwohl dieser viel größer und kräftiger war. Aus anderen Büschen stürzten zu meiner Überraschung weitere Waldbewohner hervor und kamen ihm zur Hilfe – keinen von ihnen hätte ich in unserer Nähe vermutet. Unter dem Ansturm von zwei, drei, vier Angreifern ging der Mann mit der Waffe zu Boden, wobei er blindlings drauflos feuerte. Ich konnte nicht sehen, ob Gabriel sein Messer zum Einsatz brachte, doch der Kampf dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde wieder alles ruhig. Gabriels Freunde verständigten sich durch Zeichen, und alle schlichen wieder in ihre Verstecke zurück. Nein, nicht alle. Der Bewaffnete blieb reglos auf dem Bauch liegen, und auch eine weitere Gestalt stand nicht wieder auf. Hingestreckt ruhte sie zwischen den hohen Gräsern. Gabriel trug das Gewehr in der Hand, als er zu mir zurückkehrte und sich mit blassem Gesicht wieder unter die Zweige kauerte.
»Was jetzt?«, flüsterte ich. »Ist es nicht vorbei?«
Es kam mir komisch vor, dass niemand sich um die Toten kümmerte, fast so, als wäre ich wieder in Neustadt, wo es niemanden berührte, wenn jemand starb.
»Wir wissen nicht, ob noch weitere Jäger in der Nähe sind«, flüsterte er zurück. »Falls ja, werden die Schüsse sie herlocken. Wir müssen bereit sein.« Er schaute mich prüfend an, als würde er mich zum ersten Mal richtig wahrnehmen, legte das Gewehr über das Knie und wartete.
Die Sonne ging auf und malte goldene Streifen zwischen die Bäume. Das schwarze Loch in meinem Magen verursachte mir leichte Übelkeit, und zu meiner Trauer wegen Star und Lucky gesellte sich die Sorge um Orion. Am liebsten wäre ich ins Lager zurückgelaufen, um ihn zu suchen, aber ich wusste, dass ich den Weg ohne Hilfe nicht finden würde.
Irgendwo im Wald knallten weitere Schüsse. Der Junge neben mir knirschte leise mit den Zähnen, seine Finger krallten sich um die Waffe. Ich spähte nach dunklen Gestalten aus, so gut ich konnte, lauschte angestrengt auf Schritte, doch alles blieb ruhig, nur die Vögel begannen ohrenbetäubend zu zwitschern, und ein merkwürdiges Schnarren ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Doch da Gabriel sich nicht davon beirren ließ, war es wohl harmlos.
Das Wapp-wapp-wapp des Hubschraubers dagegen erkannte selbst ich, auch wenn ich vergeblich darauf wartete, dass er über den Baumwipfeln erschien. Stattdessen entfernte er sich in die andere Richtung.
Jetzt erst trauten sich alle wieder aus ihren Verstecken. Eine junge Frau sank neben der zweiten Leiche auf die Knie und hielt sich die Hand vor den Mund. Wie eine Schlange ringelte sich ein langer dunkler Zopf über den Rücken der Toten, besetzt mit braunen Federn. Der erlegte Vogel hing in den Zweigen eines Strauches, aber die Federn lagen überall. Sogar an meinem Schuh klebte eine.
»Deine Schwester kannte das Risiko, Lumina, so wie wir alle«, sagte ein Mann, ein hagerer Kerl von vielleicht dreißig Jahren. Er streckte die Hand aus, um ihre schulterlangen waldbraunen Haare zu berühren, und ließ sie wieder sinken.
»Lass mich in Ruhe, Merton«, sagte sie ohne jedes Gefühl in der Stimme. Vermutlich wäre sie recht hübsch gewesen, zu einer anderen Zeit, in besserer Kleidung. Was für eine seltsame Erkenntnis, dass es unter den Wilden schöne Menschen gab – ganz ohne ärztliche Hilfe.
»Davon darf Paulus nichts erfahren«, sagte Gabriel gepresst. »Ihr müsst Stillschweigen schwören.«
Da die anderen nickten, tat ich es ihnen nach.
Die junge Frau wischte sich über die Augen. »Dass du noch an uns zweifelst, Gab. Du hast den ersten Streich geführt, aber dieses Blut klebt an unser aller Händen. Sie«, Lumina zeigte auf mich, »ist der unsichere Faktor.«
»Ihr habt die Jäger direkt ins Lager geführt!«, herrschte der Mann namens Merton mich an. Sein Zorn war wie ein Schwall kaltes Wasser, das er mir ins Gesicht schüttete. Ich schnappte nach Luft und wusste nichts zu sagen.
»Sie kann nichts dafür«, mischte Lumina sich ein. Trotz des Verlusts ihrer Schwester war sie wenigstens nicht auf mich wütend. »Wie heißt du, Mädchen?«
Der Name »Pi« lag mir auf der Zunge, aber ich zögerte damit, ihn auszusprechen. Pi war ich für Lucky, für meine Freunde. Wenn ich »Pi« hörte, war es mir, als hätte ich immer noch Luckys Stimme im Ohr, wie er mich rief, wie er mir zuschrie, ich sollte fliehen. Mein Name war wie ein Stoß in den Rücken, der mich vorwärtstrieb, fort von ihm.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Merton unfreundlich.
Was sollte ich sagen? Peas – auch wenn sie annehmen würden, dass ich »Peace« meinte? Aber das Mädchen, das diesen Namen getragen hatte, war ich nicht mehr. Peas, die durch eine graue Wolke taumelte.
»Wir beißen schon nicht«, sagte Gabriel und lächelte unerwartet, einer seiner Mundwinkel zog sich hoch, und durch den ganzen Aufruhr in mir drang die Erkenntnis zu mir durch, dass er mein Zögern amüsant fand.
»Pia«, antwortete ich schließlich. So nannte meine Mutter mich immer, der Name war okay. Damit war ich ich selbst und doch genug von mir entfernt, von jener Pi, die an Orions Seite rannte und wusste, dass sie in die andere Richtung laufen sollte, zurück zu Lucky.
»Gut, Pia«, sagte Gabriel und drehte den toten Mann auf den Rücken. »Würdest du dir diesen Kerl kurz ansehen? Kennst du sein Gesicht? Vielleicht aus dem Fernsehen?«
Ich schüttelte bestimmt den Kopf. Mir war schleierhaft, woher ich ihn hätte kennen sollen, diesen Typen, der bewaffnet durch den Wald geschlichen war und nun zwischen braun getupften Federn lag. Nicht die erste Leiche, die ich mir ansah. Meine Gefühle wehten davon und ließen mich kalt und leer zurück.
»Also kein hochrangiger Reg«, sagte Gabriel. »Entweder ein Angehöriger oder einer der Urlaubsjäger aus Glücksstadt.«
»Schade«, murmelte Merton. »So oder so werden sie Vergeltung üben.«
Gabriel zuckte die Achseln. »Sollen sie kommen. Wir werden sie erwarten.« Er nickte den anderen zu. »Geht nur, wartet nicht auf uns. Sie wird ein wenig länger zum Treffpunkt brauchen.«
Unvermittelt ging mir auf, dass er mich meinte. »Nehmt bloß keine Rücksicht«, sagte ich, »ich komm schon klar«, aber er lächelte nur.
Leider hatte Gabriel recht, was meine Geschwindigkeit anging.
Lumina und Merton ließen uns schon bald zurück, während ich mit letzter Kraft hinter dem Jungen mit dem Medaillon herstolperte. Ich war wie betäubt, am liebsten wäre ich einfach zusammengebrochen und hätte tot gespielt. Ob Gabriel mich heimlich auslachte, Mitleid hatte oder mich verachtete – nichts davon konnte ich in seinem Gesicht lesen. Ohne ein Zeichen von Ungeduld wartete er auf mich, wenn ich wieder einmal hingefallen war.
»Musstest du dich schon öfter um Flüchtlinge kümmern?«, fragte ich. »Weshalb holt ihr überhaupt Leute von Neustadt ab?«
»Wir hatten auf ein, zwei starke Männer gehofft. Frauen sind natürlich besonders willkommen«, er verzog nicht mal die Miene, während er seinen Blick unverschämt über meine Figur wandern ließ, »aber selten, und Mädchen lassen sie eigentlich nie raus. Meistens gibt es nur Ausschuss. Durchgeknallte Junkies, die die Droge nicht mehr vertragen oder in einer Praxis eingebrochen sind und sich ganze Wagenladungen voll reinziehen. Helm ist gut darin, zu entscheiden, wen er mitnehmen kann und wen nicht. Er hat bisher noch nie danebengelegen. Deshalb schickt Paulus ihn los, sobald wir die Nachricht erhalten, dass das Tor sich öffnen wird.«
»Wer ist Paulus?«, fragte ich.
»Unser Anführer. Wir haben ihn gewählt, für vier Jahre.«
»Ich weiß, was eine Demokratie ist«, fauchte ich. »Unsere Minister werden auch gewählt.«
»Ach, wirklich?«
Ich hatte das Bedürfnis, Neustadt zu verteidigen, warum auch immer. Das hier waren die Wilden, die in der Wildnis hausten. Was bildete er sich ein, mir etwas über Politik erklären zu wollen?
»Wo gehen wir eigentlich hin? Gibt es so etwas wie eine Stadt?« Ich hoffte, es würde ein Ort sein, an dem sich irgendetwas in der Mikrowelle drehte. Obwohl, hatten die Wilden überhaupt Strom? Sie würden wenigstens etwas in einer Pfanne über dem Feuer braten, oder? Wenn ich an Helms Vorsicht, was Feuer anging, dachte, sah ich da allerdings schwarz. Ob Gabriel es mitbekam, wenn ich einfach so auf dem Weg verhungerte?
»Eine Stadt? Das ist Paulus’ Traum, aber er braucht noch mehr Holzfäller, die mithelfen, daran zu bauen. In den südlichen Hügeln. Er hat viele Anhänger, die nur zu gerne glauben wollen, was er ihnen verspricht. Sicherheit.« Gabriel spuckte das Wort förmlich aus. »Es gibt keine Sicherheit, solange die Regs auf die Jagd gehen, wann immer es ihnen passt, und unser Lager zerbomben, wann immer wir ihnen einen Anhaltspunkt liefern, wo es ist.«
Sein Zorn erschreckte mich, und ich dachte wieder an das Messer und den toten Jäger. Wo war ich hier bloß gelandet?
»Für den Fall eines Angriffs haben wir einen neuen Treffpunkt, über den jeder Bescheid weiß. Ich hoffe sehr, dass noch genug Zelte übrig sind, damit wir alle unterkommen. Wir werden nah zusammenrücken müssen, das steht fest.« Er musterte mich kurz. »Ist der andere Flüchtling dein Freund? Der mit dem Sender?«
»Ein guter Freund, ja«, sagte ich. »Es war Orions Idee, Neustadt zu verlassen.«
»Also nicht dein Partner?« Gabriel schien über diese Information nachzudenken. »Wenn du nicht von ihm getrennt werden willst, solltest du das am besten für dich behalten.«
»Getrennt?« Mir konnte nichts Schlimmeres passieren, als von Orion getrennt zu werden. Mein Herz begann wild in meinem Brustkorb zu flattern.
»Wir verteilen die Neuzugänge auf die unvollständigen Familien. Je nach Bedarf. Paulus ist ziemlich streng, was das angeht. Aber wenn ihr ein Paar seid, wird er hoffentlich ein Einsehen haben.«
Gabriel war offenbar nicht besonders gut auf diesen Paulus, den gewählten Anführer der Wilden, zu sprechen.
»He«, sagte er etwas sanfter, »mach dir mal keine Gedanken. Erst erreichen wir das neue Lager, dann sehen wir weiter.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als brav hinter ihm herzutrotten. Das Gelände stieg leicht an. Ich musste um jeden Schritt kämpfen, und als wir endlich da waren, bekam ich es irgendwie nicht mit. Erst als jemand mir einen Becher an die Lippen hielt, merkte ich, dass ich zusammengesunken auf dem Boden lag.
Eine Frau hielt mich im Arm. »Wo hast du deinen Verstand gelassen, Gabriel?«, fuhr sie meinen Begleiter an. »Sie hat schon den Marsch aus Neustadt hinter sich.«
Sollten sie streiten. Ich konzentrierte mich lieber auf das köstliche Wasser, das kühl meine Kehle hinabrann, und verschluckte mich beinahe.
»Warte!« Ich streckte die Hände nach dem Becher aus, als sie ihn wieder wegnahm.
»Nein, das reicht erst mal. Alles der Reihe nach.«
Die Frau war etwas älter als meine Mutter, aber vielleicht sah sie auch nur so aus durch das Leben hier im Wald. Wir befanden uns vor einem kleinen Zelt, das gerade aufgebaut wurde. Ein paar Männer und Frauen zogen die Wände hoch und befestigten Seile an Metallhaken. Brandlöcher und ein strenger Geruch verrieten mir, dass dieses Zelt buchstäblich aus dem Feuer gerettet worden war. Ein merkwürdiger hoher Ton lag in der Luft, den ich nicht einordnen konnte und der in den Ohren schmerzte.
»Möchtest du reinkommen?«, fragte die Frau.
Ich folgte ihr durch die Eingangsplane in den kleinen, geschützten Raum, der die Wildnis draußen hielt. Das Zelt bot Platz für einige Schlafstellen auf dem Boden und ein paar verschnürte Säcke und Körbe in einer Ecke. Auf einer Matte saß ein dunkelhaariges Kind von vielleicht zehn Jahren, das die Arme um den Oberkörper geschlungen hatte und sich hin und her wiegte, wobei es in einem fort wimmerte. Ich fand das Geräusch unerträglich, aber die Frau ignorierte es einfach.
»Bestimmt hast du Hunger, Pia. Hier. Vergiss nicht, langsam zu essen.« Sie drückte mir etwas in die Hand, das Helms Brot ähnelte, aber um einiges besser schmeckte. »Da kannst du schlafen. Ich bin Ricarda. Und das ist übrigens Benni.« Der Kleine beachtete uns gar nicht, aber sie lächelte zufrieden. »Wir sind entkommen. Wir haben noch unser Zelt und die Sachen für den Winter. Und ein neues Mädchen. Manchmal ist das Glück eben doch auf unserer Seite. Allerdings … es sind nicht alle hier eingetroffen.«
»Was ist mit Orion?«, fragte ich erschrocken. »Auch ein Flüchtling, wie ich. Groß, schwarze Haare. Ist er auch hier?«
Ricarda sah mich an und schüttelte stumm den Kopf.
Nein, dachte ich. Nein, nein! Nicht Orion!
Wenn der Hubschrauber Bomben aufs Lager geworfen hatte … und Orion trug den Sender in der Haut. Wo immer er sich aufhielt, war das Ziel.
Ein Tumult draußen ließ uns beide zusammenfahren, Stimmen riefen laut durcheinander.
»Mein Gott, da ist was passiert!« Ricarda sprang auf und stürzte aus dem Zelt.
Ich stolperte ihr nach. Zwischen den Bäumen drängelten sich die Leute.
»Zurück!«, befahl jemand. »Lasst ihn durch.«
Ich schob mich zwischen ein paar aufgeregten Kindern hindurch – und da war er, mein Freund aus Neustadt, kaum erkennbar unter der Schicht aus Schmutz und Blut, die sein Gesicht bedeckte. In seinen Augen flackerte Unaussprechliches – Wahnsinn, Schmerz, Zorn. Doch auf den Armen trug er wie ein Kind einen kleinen, schmalen Mann, der leise stöhnte. Alfred Macintosh, den Arzt.
»Lass ihn los!« Zwei Frauen versuchten, Orion den Verletzten abzunehmen, doch er beachtete sie gar nicht. Er stand da wie betäubt und schien niemanden wahrzunehmen.
»Orion«, sagte ich. »Orion, hey, du hast es geschafft. Du bist angekommen.«
Er holte seinen Blick zurück, von einem fernen Ort, und richtete ihn auf mich. »Peas«, flüsterte er.
Ich trat noch einen Schritt näher. »Ja«, sagte ich. »Du bist angekommen. Gib ihnen den Doktor. Sie werden sich um ihn kümmern.« Ich berührte seine Hände. Sie fühlten sich an, als wären sie aus Stein. »Orion, bitte.«
Endlich lockerte er seinen Griff, und gerade noch gelang es den Frauen, Alfred aufzufangen. Mit Hilfe einiger Männer trugen sie ihn weg. Und Orion fiel auf die Knie.
Ich wollte seine Hände nehmen, sie festhalten, bis sie wieder warm wurden, doch da spürte ich einen Arm um meine Schultern.
»Komm ins Zelt zurück«, sagte Ricarda. »Mach dir keine Sorgen. Auch um ihn wird sich jemand kümmern.«
Ich hatte keine Kraft, mich ihr zu widersetzen. Sie führte mich zum Zelt, zu meiner Schlafmatte, und deckte mich zu. Die wohltuende Stille fiel mir auf; zum Glück hatte der Junge endlich aufgehört zu heulen. Ich war weggetreten, bevor mein Kopf das Kissen berührte.