8.

Der nächste war Orion. Ich wusste, dass ich ihn todsicher in der Nähe der Sporthalle treffen würde, und begab mich daher unverzüglich dorthin.

»Pi! So warte doch!«

Moon schob sich durch die Menge auf dem Schulhof. Mit wehendem Haar und wippendem Busen stürmte sie hinter mir her. Wie ich mich freute, sie zu sehen! Alles hatte sich verändert, meine Welt stand Kopf, aber Moon war immer noch dieselbe. Sie strahlte mich an, als sie mich erreicht hatte. »Ich hab dich überall gesucht, wo warst du denn? Da hinten haben sie einen Stand mit echter Zuckerwatte aufgebaut, als Vorgeschmack auf die Joy-Spiele!«

»Genau das hatte ich vor«, sagte ich. »Mir ein Spiel ansehen.«

»Ein Spiel?« Moon liebte Sport, solange sie nicht selbst dabei schwitzen musste. »Jetzt? Mitten am Schultag?«

Seit wann lügt der neue Mensch? Eigentlich kannte ich Lügen nur aus dem Geschichtsunterricht. Moons kleine Unwahrheiten waren nie gegen mich gerichtet, deshalb fühlte ich mich unbehaglich, sie so abzuspeisen. Es tat regelrecht weh, sie nicht an meinen Gedanken teilhaben zu lassen.

Siehst du, wohin das führt?, sagte die klare Stimme der Vernunft in mir. Wilde Gefühle sind der Weg in den Abgrund. Du fällst aus dem Glücksstrom heraus, direkt in die sonnenlose Finsternis.

»Na ja, es ist eigentlich kein Spiel, bloß Training.« Damit konnte ich nicht falsch liegen; Sportler trainierten doch so gut wie immer. »Ich wollte zugucken.«

»Aber die Pause ist gleich um. Und du hast schon einen Verweis.«

Das stimmte, und deshalb hatte ich jetzt wirklich keine Zeit zu verlieren.

»Komm«, sagte ich und hastete vorwärts. Moon hatte zum ersten Mal Schwierigkeiten, an meiner Seite zu bleiben.

»Was ist denn mit dir los?«, wunderte sie sich. »Bist du seit neuestem in einen Joyspieler verknallt? He, sag nichts, lass mich raten.« Mit einer anmutigen Geste strich sie sich das Haar aus der Stirn. Zu dieser Grazie konnte einem auch keine Schönheits-OP verhelfen. Obwohl ich, Frühlingswetter noch mal, an anderes zu denken hatte, traf es mich wie ein Blitz: Ich war ein hoffnungsvoller Fall. Keine Operation, keine Medikamente, keine Welle und auch nicht das Versagen des Glücksstroms – nichts konnte aus mir das machen, was Moon war.

Der Schmerz kam völlig unvorbereitet über mich. Dabei hatte ich das schon immer gewusst, nicht erst seit ich damit leben musste, dass meine beste Freundin einen Partner bekommen hatte und ich nicht. Dass andere Mädchen einen Bruder besaßen und ich nicht. Dass sie in den Spiegel schauten und sich angrinsten und die bewundernden Blicke der Jungs auf sich spürten und ich nicht.

Nicht einmal jetzt, obwohl ich zum ersten Mal seit Jahren ohne Schwierigkeiten geradeaus gehen konnte, war ich wie sie.

»Es ist … Zeus«, riet sie. »Stimmt’s? Der ist so süß, wieso bin ich nicht früher draufgekommen? Oh Pi, ich freu mich so für dich!«

Vor uns ragte der Sportkomplex auf – das kleine Stadion, dessen Zuschauerränge nahtlos ins Dach der Turnhalle übergingen. Ich sprang die Stufen hoch und betrat durch die große Eingangstür den Flur, der zu den Umkleideräumen führte. Dort, im Halbdunkel unter den Pokalen und Trophäen, die in den heute unbeleuchteten Vitrinen zu bewundern waren, stand Lucky mit einem Mädchen und tat, was er immer tat.

»Wir haben gleich Gesellschaftskunde«, sagte Moon und tippte ihm auf die Schulter, womit sie die Knutscherei beendete.

»Oh, ist die Pause zu Ende?«, fragte Lucky und tat unschuldig. »Ich hab ganz die Zeit vergessen.« Sein Blick suchte meinen; sacht schüttelte er den Kopf. Also keine von uns.

»Bin gleich wieder da.« Ich nutzte die Gelegenheit und huschte weiter, an den Umkleiden vorbei zur Halle. Von drinnen hörte ich Rufe und das Trappeln unzähliger Füße. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt.

Die Spieler hatten gar nicht gemerkt, dass Pause war. Als würde es auf dieser Welt nichts anderes geben als den Ball, jagten sie ihm nach, verloren in einer der wenigen gesetzlich zugelassenen Leidenschaften des neuen Menschen. Orion war wie immer ganz vorne, und da das Tor, auf das sie zuhielten, nicht weit von meiner Tür entfernt war, stürmten sie direkt auf mich zu.

Ich wagte ein paar Schritte hinaus aufs Spielfeld.

Ein schrilles Pfeifen gellte in meinen Ohren, doch es war zu spät – mit der Kraft und Geschwindigkeit eines Güterzugs lief Orion in mich hinein. Er rannte mich förmlich über den Haufen, stolperte und stürzte mit mir zusammen auf den Boden, wo er mich förmlich unter sich begrub. Grüne und goldene Sterne tanzten vor meinen Augen.

»Hallo Schätzchen«, sagte jemand äußerst liebenswürdig. »Es ist leider nicht erlaubt, auf dem Spielfeld herumzuliegen. Ist einer von euch verletzt?« Ich erkannte das kantige Gesicht Simons, des Trainers, über mir.

»Äh – keine Ahnung«, stammelte ich.

Er zog mich hoch. Alles drehte sich um mich, und mein Hintern schmerzte, aber ich hatte mir nichts gebrochen und konnte ohne Schwierigkeiten vom Spielfeld humpeln. Moon spähte gerade durch die Tür.

»Oh Pi, meine Süße, wolltest du dich gleich hier mit Zeus treffen? Direkt vor dem Tor?«

»Tja, weiß auch nicht«, murmelte ich betreten.

Moon schenkte Simon ihr gewinnendstes Lächeln. »Ja, so ist sie, unsere Pi. Und auf Wiedersehen.«

Ich drehte mich noch schnell zu Orion um; seinetwegen war ich schließlich hier. Der dunkelhaarige Athlet saß immer noch auf dem Boden und tastete seine Beine ab. Mich beachtete er überhaupt nicht – hätte er nicht fluchen oder mich anschreien müssen? Wenn er gewusst hätte, was wilde Gefühle sind, hätte er sich garantiert wutentbrannt auf mich gestürzt. Stattdessen stand er auf und spielte weiter, als wenn nichts passiert wäre.

In der Mensa erzählte Moon allen, was ich angestellt hatte. Liebevoll knuffte sie mich in den Arm. »Pi hat einen guten Geschmack. Zeus ist der coolste Junge aus unserem Jahrgang.«

Charity kicherte haltlos. »Oh Pi, du bist so romantisch! Jetzt wird er dich nie vergessen.«

Lucky drehte sich zu Orion um, der ein paar Tische weiter mit seinen Freunden saß. Während sie herumalberten und lachten, stierte er über seinen Teller gebeugt vor sich hin.

»Er scheint mir etwas angeschlagen«, meinte Lucky besorgt. »Wann ist das nächste Schulspiel? Hoffentlich ist er bis dahin wieder fit.«

Er funkelte mich zornig an, aber erst als Moon und Charity loszogen, um sich Nachschlag zu holen, sagte er mir die Meinung.

»Pi, du solltest Orion ein paar Fragen stellen und ihn nicht umbringen!«

»Es geht ihm gut!«

»Und das war unauffällig, ja?«

»Es ist nicht optimal gelaufen«, gab ich zu. »Tut mir echt leid, dass ich ihn nicht einfach abgeknutscht habe, um ihn zu testen!«

Bevor er mir Kontra geben konnte, tauchte Moon auf, das Tablett voller Schälchen. »Nuss war alle, aber ich hab jedem von euch Pudding mit Vanillegeschmack mitgebracht.«

»Danke schön, Moon. Du bist ein Schatz.«

Lustlos schleckte Lucky an seinem Löffel. Er war dabei merklich unruhig, immer wieder spähte er zu Orion hinüber, der jetzt fertig war und sein Tablett zum Band trug. Wenn wir nicht den Beginn der nächsten Stunde verpassen wollten, mussten wir uns beeilen.

»He, warte mal.« Lucky sprang auf, gerade als der Joyspieler an unserem Tisch vorbeigehen wollte. »Ich habe gehört, was vorhin passiert ist. Warst du schon beim Arzt?«

»Das ist nicht nötig«, versicherte Orion.

»Nein, wirklich. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denk an das Spiel.« Er fasste nach Orions Arm. »Komm, wollen wir nicht zu Dr. Händel …«

»Mir geht es gut!«, zischte Orion und schüttelte Lucky ab. »Lasst mich in Ruhe!«

»Das war nicht nett«, murmelte ich, und mich überlief ein Schauder. Niemand in Neustadt war jemals unfreundlich.

Ich wechselte einen Blick mit Lucky, der dem Sportler nachdenklich nachsah.

»Er ist gewöhnt, sich an Spielregeln zu halten«, sagte er leise. »Was bedeutet das für uns, wenn er erkennt, was mit ihm los ist?«

Auf dem Weg zur Bushaltestelle konnten wir nicht frei sprechen. Moon ging zwischen uns, hatte sich bei Lucky und mir untergehakt und schloss die Augen. Der Wind spielte in ihrem glänzenden dunklen Haar. In ihren schwarzen Wimpern glitzerten Schmuckkristalle. Ich hatte noch nie das Gefühl gehabt, sie beschützen zu müssen – immer war sie die Starke gewesen, die mich vor meiner Ungeschicklichkeit retten musste. Doch heute wünschte ich mir, ich könnte sie vor der Dunkelheit bewahren, die Lucky und ich in uns trugen. Ich wünschte mir, dass sie keinen von uns verlieren musste.

Und ich wünschte mir, ich könnte so glücklich sein wie sie.

Als ich Orion über den Hof schlurfen sah, die Sporttasche über der Schulter, fiel mir auf, dass er humpelte, und ich verspürte ein ungutes Gefühl des Bedauerns.

»Es ist gar nicht Zeus?«, fragte Moon leise. Sie hatte die Augen wieder geöffnet, ihre roten Lippen kräuselten sich zu einem sanften, wissenden Lächeln. »Es ist Orion?«

»Geht schon mal vor, ich komme gleich nach«, sagte ich schnell.

Moons blickte mich voller Wärme an. »Er ist sehr hübsch«, sagte sie. »Jupiter hat nur herumgealbert, das weißt du, nicht wahr? Manche Athleten sind einfach in jeder Hinsicht vollkommen. Ich wünsche dir Glück.«

»Danke«, sagte ich leise.

Bestimmt war sie neugierig, was sich in meinem Liebesleben tat, doch sie ließ sich von Lucky weiter zur Bushaltestelle ziehen.

Weniger dankbar war ich für die ausdrückliche Aufforderung in seinem Blick, diese Chance sofort zu nutzen. Warum wollte er mich ständig herumkommandieren? Schließlich lag es an mir, ob ich Orion noch genauer überprüfen wollte oder nicht.

Vor Moon konnten wir nicht streiten, daher ergab ich mich in mein Schicksal und eilte Orion nach, der auf den vordersten Bus zusteuerte.

»He, Sportsfreund«, rief ich. »Warte mal.«

»Du schon wieder. Verfolgst du mich?« Er sah stur weiter geradeaus.

Er vergaß sogar zu lächeln.

»Du hinkst«, sagte ich. »Also warst du nicht bei Dr. Händel.«

»Wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Hast du dir wirklich nichts verstaucht oder gebrochen oder so?«

»Nein«, knurrte er.

»Ich kann ja verstehen, dass du nicht gut auf mich zu sprechen bist«, sagte ich. »Aber kannst du trotzdem wenigstens für einen Moment stehenbleiben, damit ich mit dir reden kann?«

Seine grünen Augen wirkten unruhig, aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein.

»Fühlst du dich irgendwie komisch?«, fragte ich direkt.

Wenn er Bescheid wusste, würde ihn diese Frage erschrecken. Wenn nicht, würde er es einfach auf den Sturz beziehen. Gespannt wartete ich auf seine Reaktion.

Er verzog verächtlich die Lippen. »Komisch? Du springst mir vor die Füße, versaust uns den Angriff und verhinderst, dass wir vor Ende der Pause den Ausgleich schaffen, und dann fragst du, ob ich mich komisch fühle?«

»Ich wollte dich nur bitten, nicht zum Arzt zu gehen«, sagte ich. »Damit ich keinen Verweis erhalte. Das ist wirklich wichtig für mich, meine Noten sind schon schlecht genug.«

Er musterte mich aus smaragdgrünen Augen, aber ich hatte keine Ahnung, ob er mich durchschaute.

»Na gut«, sagte er, umrundete mich und winkte dem Bus zu, der gerade anfuhr. Doch der Busfahrer hielt und öffnete die Tür wieder. Es musste schön sein, ein wichtiger Sportler zu sein.

Ich selbst hatte nicht so viel Glück. Als ich an meiner eigenen Haltestelle ankam, war der Bus längst fort.

»Hey.« Lucky trat hinter der Wartesäule hervor.

»Wo ist Moon? Weg? Sie ist doch nicht wirklich ohne dich abgefahren?«

Sein schuldbewusstes Lächeln sprach Bände. »Ich hab sie ausgetrickst. Bin wieder raus, gerade als die Türen sich geschlossen haben.« Er machte eine Kopfbewegung zum Schulhof hin. »Und Orion? Wird er zum Arzt gehen? Weiß er Bescheid?«

»Er sollte mehr lächeln«, meinte ich. »Wenn ihm das gelingt, sollte es keine Probleme geben. Hauptsache, er hält die ganze Woche durch.«

»Alle anderen waren normal«, sagte Lucky. »Wenn Star sich auch noch zusammenreißt, könnten wir es schaffen, ohne dass irgendeiner von uns in der Wildnis landet. Unauffälligkeit ist die Devise. Hast du ihr die Besuchsgeschichte ausgeredet?«

Um uns herum sammelte sich eine neue Schülertraube, die mit uns auf den nächsten Bus wartete. Ich beschloss, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, um Lucky in mein Versprechen einzuweihen. Vor so vielen Zeugen konnte er mich schließlich nicht erwürgen.

»Äh, leider nein«, meinte ich, »ich habe ihr schwören müssen, dass wir Phil heute noch besuchen.«

Lucky fielen fast die Augen aus dem Kopf. Fassungslos starrte er mich an. »Bist du verrückt?« Seine Unterlippe bebte, und vielleicht hätte er mich jetzt gerne gepackt, geschüttelt und angebrüllt. Ein wütender Lucky war etwas Neues für mich. Er war so voller Energie, dass er mich an die Sportler erinnerte, an Männer, die über das Spielfeld stürmten und dabei alles umrissen, was ihnen in den Weg geriet. Seltsamerweise hatte ich Lucky nie in einer Reihe mit Orion oder Zeus gesehen. Es war, als hätte sich der wilde Lucky die ganze Zeit bloß hinter dem witzigen, küssenden, charmanten Lucky versteckt.

»Was ist?«, herrschte er mich an, als er merkte, wie ich ihn anstarrte.

»Du bist so anders«, platzte es aus mir heraus.

»Natürlich bin ich jetzt anders!« Er war immer noch wütend auf mich.

»Es gefällt mir«, sagte ich, und plötzlich machte mich dieses Geständnis so verlegen, dass ich ihn nicht mehr ansehen konnte.

Lucky schwieg so lange, dass ich schon glaubte, er wollte mich damit bestrafen.

Zögernd blickte ich ihn wieder an, und er überraschte mich mit einem Lächeln: kein witziges oder charmantes Glückslächeln, sondern ein seltsames, herausforderndes Lächeln, wie eine Verzerrung in seinem Gesicht. »Du hast recht«, meinte er. »Wir können diese Zeit nicht nur damit zubringen, uns zu verstecken und nichts zu tun.«

»Ich will jeden Tag etwas Außergewöhnliches tun«, sagte ich. »Etwas, das ich noch nie getan habe und nie wieder tun werde. Und ich habe schon eine Idee, wie wir ins Genesungshaus reinkommen.«

»Gut«, sagte er, und in seinen Augen glomm etwas auf, gefährlich und intensiv. »Ich auch.«