KAPITEL 29

Feder

Ich fuhr auf Claires alten Parkplatz.

Alle guckten, als würde ihnen ein Geist erscheinen, aber als sie mich erkannten, kehrte wieder Normalität ein. Ich blieb ein paar Minuten sitzen, ohne auszusteigen, ohne an der Riesenstereoanlage, die noch im Auto war, herumzuspielen, obwohl die Knöpfe verlockend waren. Ich spürte den Unterschied zwischen jetzt und früher, als ich in diesem Auto gesessen hatte. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich nicht mehr die Beifahrerin war, Claire hatte mich früher oft fahren lassen.

Jetzt war ich einsam.

Ich tippte den Vanille-Lufterfrischer mit dem Finger an, sah ihn schaukeln und dachte an die vielen Male, die Claire und ich aus Spaß an der Freude durch die Gegend gefahren waren. Immer wir drei: Claire, ich und das Auto. Abends im Winter hatten wir bei voll aufgedrehter Heizung die Fenster runtergekurbelt, und wer mitbekommen hatte, wie wir aus voller Kehle singend vorbeifuhren, musste uns für völlig durchgeknallt gehalten haben. Ich hatte wider besseres Wissen gehofft, dass etwas davon geblieben wäre, im Leder der Sitze eingesickert, und dass im Wagen die Erinnerungen an Claire so stark wären, dass die alten Zeiten wieder zum Leben erweckt und weitergehen würden. Damit ich sie nicht vermissen müsste. Aber so war es nicht. Sie war weg.

Ich machte die Augen zu, und sofort wurde mir schlecht vom Vanilleduft im Auto. Das erinnerte mich an noch was, das mir bevorstand. Ich sah mich in einem anderen Auto sitzen, von einem ganz anderen Geruch erfüllt. Sein Auto. Sein Geruch. Noch ein Verlust. Unerträglich. Ich stieg aus, schloss ab und ging auf die Schule zu, ohne mich noch mal nach dem Wagen umzudrehen, der jetzt mir gehörte.

Tausende von Worten schwirrten durch die Eingangshalle, Tausende Stimmen, aber ich nahm nur ohrenbetäubende Stille wahr. Meine Füße trugen mich automatisch von einem Klassenzimmer ins nächste, wo ich Interesse heuchelte und tat, was von mir erwartet wurde. Gegen Ende der letzten Stunde war Garreth immer noch nicht aufgetaucht.

Tolle Überraschung.

Ich dachte an den Tag, als ich ihn nirgendwo hatte finden können. Wie verunsichert und panisch ich gewesen war. Wie mein Herz wie wild geschlagen hatte in Erwartung, ihn zu treffen, und als das nicht geschah, war das Herzklopfen erst recht mit mir durchgegangen.

Jetzt wartete ich einzig und allein auf das letzte Klingeln, um einen schnellen Abgang zum Auto zu machen, als dessen Besitzerin ich mich noch nicht fühlte.

Mein Auto.

Das klang zu blöd.

Als es klingelte, stand ich auf und ging wie benebelt raus in die Halle, mein Körper war nicht in der Verfassung für einen schnellen Abgang. Ich ging um die Ecke und auf die Spinde am Ende der Halle zu, wo ich geistesabwesend am Zahlenschloss drehte, bis es mit einem Klick aufsprang.

Meine Sportsachen lagen seit einer Woche in eine Tüte gestopft ganz unten. Als ich danach griff, merkte ich, dass ich nicht länger allein war. Jemand in einer verwaschenen Jeans stand hinter mir, und ich zog meinen Kopf aus dem Spind. Mein Herz klopfte. Typisch Garreth, mich den ganzen Tag hängen zu lassen und dann aufzutauchen in dem Wissen, dass ich einknicken und ihm vergeben würde.

»Ist das die Überraschung …?«

Die Überraschung war perfekt, als ich hochsah und in Ryans braune Augen blickte. Ich zuckte zusammen und wäre fast rückwärts in den Spind gefallen. Was immer er mir zu sagen hatte, es konnte nichts Gutes sein. Nicht nach unserer letzten Begegnung.

»Hi, Teagan.«

Ein paar Sekunden lang war ich sprachlos. War er etwa nett?

»Du bist nicht plötzlich stumm, oder?« Auf seinem Gesicht erschien ein breites Grinsen, das die Grübchen hervorhob. Eigentlich sah er ganz süß aus.

Iiih! Was ist denn mit mir los?

»Tut mir leid. Wird das eine Unterhaltung?« Ich drehte mich zum Spind um und zog meinen Rucksack raus.

»Na ja, schon, wenn du mir eine Chance gibst.« Er lehnte sich an den Spind daneben und wartete geduldig, bis ich wieder zum Vorschein kam.

Ich knallte die Spindtür zu. »Gut. Was willst du?«

Er ließ seinen Blick mit dem unaufhörlichen Kommen und Gehen in der Halle mitwandern, dann holte er ihn zurück und sah zu Boden, wo sein einer Turnschuh sich an dem anderen rieb. Ich wurde ungeduldig.

»Es tut mir leid, Teagan. Es tut mir leid, dass ich so ein Idiot war. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

Ich dachte daran, dass ich Angst vor ihm gehabt hatte, dass er mir furchterregend und bedrohlich erschienen war, als die Wand zwischen uns einstürzte und sich schreckliche Fragen zwischen uns auftaten. Jetzt aber stand ein Junge vor mir, der ein anderer war als früher. Er hatte sich verändert. Wie ich.

Vielleicht traf ihn gar keine Schuld. Wahrscheinlich wusste er nicht mal, was wirklich passiert war.

»Mir tut’s leid, dass ich dir vorgeworfen habe …«, erwiderte ich.

»Schon okay. Wie gesagt, ich war ein Idiot.«

Die Leute starrten uns im Vorbeigehen an. Erst kreuze ich mit Claires Auto in der Schule auf, dann bin ich in eine leise Unterhaltung mit ihrem Freund verstrickt. Ich wusste, wie das aussah, aber es war mir egal.

Ryan seufzte tief. »Teagan, ich weiß nicht mal mehr, wer ich bin.« Er lächelte müde. »Ich vermisse sie. Ich kann meine Gefühle schlecht ausdrücken, aber es ist die Hölle.«

Ich lehnte mich an den Spind und erwiderte das Lächeln. »Glaub mir, ich verstehe dich.«

Ryan starrte wieder ins Leere, in seinem Kopf spukten Gespenster. Ich wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte, nicht nur wegen Claire. Schon bald würde es mir wieder den Boden unter den Füßen wegziehen, nämlich wenn Garreth ging. Seit Tagen schon stauten sich diese Gefühle in mir auf und bereiteten mich auf den Moment vor, aber es tat eben weh.

»Hör mal«, hob Ryan an und unterbrach das unbehagliche Schweigen. »Ich erwarte nicht, dass wir Freunde werden, aber wäre es schlimm, wenn ich ab und zu mit dir rede? Das würde mir viel bedeuten. Mir helfen.«

Er wich einem direkten Blick erst aus, aber dann sah ich in seinen Augen etwas schimmern. Wie in meinen in letzter Zeit.

Ich lächelte ihn an, was ihn total überraschte. »Klar, kein Problem.«

Wortlos erwiderte er das Lächeln. Ich sah ihm nach, wie er in der Menge verschwand, verloren und gebrochen, und schwor mir, dass ich nie vergessen würde, wer ich bin.

Nicht nur das, ich würde auch nie wieder etwas als gegeben ansehen.

In dem Moment spürte ich ganz unerwartet ein Kribbeln in meiner Hand und sah am Ende des Korridors Sage, Lauren und Emily, die sich selbstgefällig einen Weg durch die Menge pflügten. In ihrer Mitte stolzierte Brynn, immer noch die Königin der Carver Highschool. Sie kam an meinem Spind vorbei und funkelte mich an, sagte aber kein Wort. Sie ging einfach weiter.

Ich bekam gerade noch mit, wie Emily die Augenbrauen hochzog und Sage fragend ansah, wahrscheinlich weil sie sich wunderte, warum Brynn nicht stehengeblieben und das Teagan-piesacken-Ritual vollzogen hatte. Noch mehr überraschte mich, dass Lauren, die hinter den anderen hertrottete, mich ansah und lächelte.

Ich machte den Spind zu und ging in die andere Richtung.

Der Schultag war vorbei. Ich ließ mir Zeit auf dem Weg zum Parkplatz, wo das kleine weiße Auto wie ein gehorsames Haustier auf mich wartete. Ich hielt den Blick stur auf die Windschutzscheibe gerichtet und versuchte zu erkennen, was dahinter so merkwürdig glitzerte. Als ich näher kam, setzte mein Herz ein paar Schläge lang aus.

Unglaublich.

Da hatte ich den ganzen Tag im Wartezustand verbracht. Gesucht. Er war heute nicht in der Schule erschienen, und mehrmals war ich deswegen abwechselnd dem Heulen und dem Zähneklappern nah gewesen. Ich schloss den Wagen auf, stieg hinein und griff nach dem Rückspiegel. Ich lächelte.

Dort hing der blaue Topasrosenkranz, und an der Kette war ein winziges Stück Papier befestigt. Ich hätte Stunden gebraucht, um es so klein zusammenzufalten. Vorsichtig rollte ich das Blatt, so dünn wie Reispapier, auseinander und hatte Garreth sofort vergeben. Auch aus dem Papier strömte sein wunderbarer Geruch, verbreitete sich im Auto und trieb mir Tränen in die Augen. Nur ein paar Stunden allein, und ich vermisste ihn bereits fürchterlich.

Wie soll ich damit fertigwerden, wenn er mich ganz verlässt?

Ich wischte mir die Augen ab, um auf dem Papier keine Tränenflecke zu hinterlassen und die Nachricht nicht zu verwischen.

 

Ich habe dich auch vermisst.

Deine Überraschung wartet auf dich.

Ich habe mir gedacht, es ist Zeit,

dass dein Freund dich auf ein Date ausführt.

Sei um 18 h bereit.

G.

 

Meine Hände zitterten. Im Handumdrehen hatte ich den Zettel zehnmal gelesen. Ich drehte den Zündschlüssel um, der Motor stimmte in das freudige Summen meines Herzens ein. Zusammen fuhren wir nach Hause, um uns auf das Date vorzubereiten.