KAPITEL 24

Feder

Der Tod war anders als erwartet.

Ich wartete auf Schmerzen, spürte aber keine. Ich blinzelte, erst mit dem linken Auge, dann rechts, und dachte: Jetzt aber. Langsam machte ich beide Augen auf und sah an mir herunter. Erwartungsvoll verzog ich das Gesicht, aber immer noch nichts.

Mein T-Shirt war blütenweiß. Keine Spur von Blut.

Keine Wunde.

Der einzig stichhaltige Beweis dafür, dass der Übergang funktioniert hatte, war die Tatsache, dass ich atmete. In der Luft lagen bittersüß die Erinnerung an das Unausweichliche und meine unbeschreibliche Traurigkeit.

Um mich herum spürte ich Verlangen nach dem Unerreichbaren, Sehnsucht nach dem, was zurückgelassen worden war, und nach dem, was noch in der Zukunft lag, etwas Unbekanntes, das mir bevorstand.

Garreth.

Eigentlich hatte ich erwartet, die Augen zu öffnen und eine surreale Welt zu sehen, wenn man sich so was überhaupt vorstellen kann. Vielleicht irgendein fremdes, jenseitiges Land, ein mystisches Reich, aber hier sah es aus wie auf der Erde – auch wenn Garreth mir ja erklärt hatte, dass der Himmel nicht bloß ein Ort ist. Der Himmel beginnt in einem Zustand der Entspannung, trotzdem hatte ich unterbewusst wohl was anderes erwartet.

Müsste nicht eigentlich Garreth erscheinen, sobald ich die Augen aufmachte? Was war mit Hadrian? Beobachtete er mich wieder heimlich aus der Nähe?

Doch ich war allein in diesem Fegefeuer, das mir gleichzeitig vertraut und fremd vorkam. Das war die Straße, in der ich wohnte, aber ohne Häuser und Menschen.

Ich kniff fest die Augen zusammen.

Wenn Garreth mein Himmel war, und wenn ich so nah dran war, ihn zu finden …

Bitte, lass es wahr werden.

Wenn Garreth sein Herz mit meinem verbinden und meine Angst vertreiben konnte, dann …

Gott, wird das funktionieren?

Ich musste es versuchen. Er brauchte jetzt mich, und wenn mir tatsächlich so was wie Hilfsengelskräfte oder was auch immer gegeben waren, dann konnte ich es vielleicht schaffen, mein Herz mit seinem zu verbinden. Dann könnte ich ihn am Leben halten. Es musste funktionieren.

Jeder Tag, den Garreth auf der Erde verbrachte, bedeutete eine Gefahr für ihn. Sein Licht wurde schwächer, und meins – veränderte sich, wie elektrischer Strom, der von einer Quelle zur anderen fließt. Garreth waren die Folgen klar. Er wusste, dass er ein Erdling werden würde, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sich mir zu offenbaren. Oder mich vor Hadrian zu warnen. Er ging das Risiko bereitwillig ein – weil er mich liebte.

Ich musste weiter.

Ich musste ihn finden.

Er hatte alles für mich riskiert. Das schuldete ich ihm auch.

Zuerst nur ganz schwach spürte ich ein zweites Herz in einem etwas anderen Rhythmus als meines schlagen, schnell war ich sicher, mir das nicht einzubilden. Ich konzentrierte mich auf das stärker werdende Geräusch. Als das Pochen in meinen Ohren immer lauter wurde, stiegen mir Tränen in die Augen, und dann fühlte ich es auch in meinem Brustkorb, wie ein durcheinandergekommener Herzschlag.

Unfassbar, es schien zu klappen. Ich keuchte vor Aufregung, zwang mich aber zur Ruhe.

Einatmen. Ausatmen. Langsam.

Er war da! Ich schloss die Augen und atmete noch tiefer. Ich dachte daran, wie er gesagt hatte, dass er mich finden würde, aber das hier war was anderes. Das hier war ich ganz alleine.

Ein wunderbarer Geruch wehte mir in die Nase, schon wieder kamen mir die Tränen. Ich wollte den Duft festhalten und für immer in mir bewahren. Es war sein Geruch. Der warme, würzige, wohlige Geruch, der aus seiner Haut strömte, wenn ich ihm nah war. Der berauschende Weihrauchduft, der nur ihm gehörte, der von dem warmen Licht ausging, das in ihm leuchtete.

Ohne Vorwarnung mischte sich auf einmal ein anderer Geruch dazwischen, der sich auf meinem Gesicht wie ein kalter Windstoß anfühlte und an feuchte Kiefern erinnerte. Damit wusste ich, wo er war. Meine Nase füllte sich mit dem Geruch von geschmolzenem Wachs, auf meiner Haut spürte ich die Hitze von tausenden Kerzen, unter meinen Füßen kalten Steinboden. Dann wurde mir schwindelig, als wenn hoch oben über mir irgendwas die Luft durch Spiralen, Drehungen, Loopings in Wellen über mein Gesicht blasen würde. Er atmete nicht länger synchron mit mir. Irgendwas ging vor, von oben stieß irgendwas hinab. Ich kannte den Weg zum Wald, war aber nicht sicher, ob ich ihn noch rechtzeitig erreichen würde.

Zu meinen Füßen lag der Dolch. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn. Die Klinge war sauber. Panik ergriff mich. Was, wenn sie mich zu Hause fänden? Wenn sie mich beerdigen würden? Ich seufzte tief auf.

Getan ist getan.

Vorsichtig wickelte ich die Klinge in den Stoff unten an meinem T-Shirt ein und steckte den Dolch in die Vordertasche meiner Jeans. Mit einiger Überwindung rannte ich los. Zu Hause, in meiner Zeit, überzog ein Sturm die Welt mit Dunkelheit, aber hier an diesem unwahrscheinlichen Ort war der Himmel blau und erinnerte mich an meinen Schutzengel, den ich unbedingt finden musste.

Ich war erfüllt von der Wichtigkeit meiner Aufgabe. Je mehr ich das spürte, desto größer wurde mein Verlangen nach ihm, und desto weiter entfernte er sich.