KAPITEL 18

Feder

Bevor ich es nicht mehr aushielt, war immerhin schon der halbe Schultag rum. Es war unerträglich, irgendeinen Raum zu betreten und entweder auf meine Schuhspitzen oder stur geradeaus zu gucken, um den Fragezeichen auszuweichen, die allen auf die Stirn tätowiert zu sein schienen. Ich hatte fast einen Anfall bekommen, als mich der Vertrauenslehrer zum dritten Mal aus dem Unterricht holte, weil er mich ›unter Beobachtung‹ halten wollte. Nur ein Gutes hatte sich aus all dem ergeben: Garreth hatte sich zu meiner emotionalen Stütze erklärt.

»Das ist albern.« Ich drückte meine Bücher wie ein Schutzschild vor meine Brust.

»Sie stehen alle unter Schock, Teagan. Ein Teil ihrer kleinen Welt hat sich völlig verändert, und sie suchen nach Antworten.«

»Und sie glauben, ich hätte eine?«

»Sie wissen nicht, was sie denken sollen.«

»Nun, ich bin genau wie sie. Ich weiß auch nicht, was ich denken soll.«

Schweigend gingen wir langsam an den orangen Schließfächern vorbei auf eine Bank unter einem großen Fenster am anderen Ende der Eingangshalle zu. Ich hatte eine Freistunde vor mir und wusste nicht richtig, was ich damit anfangen sollte. Um nicht die vorbeilaufenden Schüler angucken zu müssen, hielt ich den Blick auf das Fenster gerichtet. Plötzlich packte mich Wut, und zwar so unvermittelt, dass es mir fast den Atem nahm. Dann verstand ich, warum.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Garreths perfekt geformtes Gesicht verzog sich vor Sorge. Seine ruhigen blauen Augen folgten meinem Blick, dann begriff auch er.

Er berührte sanft meinen Arm, um mich zurückzuhalten.

»Das ist vielleicht keine so gute Idee, Teagan.«

»Oh doch, das ist eine sehr gute Idee.«

Meine Füße entwickelten ein Eigenleben, führten den Rest meines Körpers schnurstracks zu einem offenen Spind und pflanzten sich dicht vor einem sichtlich irritierten Ryan in den Boden. Die Angst, die ich neulich in der Nacht vor ihm gehabt hatte, war augenscheinlich verflogen.

»Teagan.«

Sein Blick war eisig, Kid Rock dröhnte aus seinen Kopfhörern. Mir fielen die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. Er wollte mich loswerden. Ein Knurren kam aus meiner Kehle, das mich selber erschreckte. »Wie konntest du nur?«

Ryan starrte mich ausdruckslos an und wandte sich wieder seinem Spind zu. Arroganz konnte ich ertragen, aber mich zu ignorieren war definitiv die falsche Reaktion.

»Ich hatte damit nichts zu tun«, sagte er kaltherzig. Eine falsche Schlange, die sich unter dem Mäntelchen der Trauer verbergen wollte.

»Lügner.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das weißt du ganz genau. Ich hab gesehen, wie du dich verändert hast, wie du dich verhalten hast. Ich muss nur noch wissen, was Brynn damit zu tun hatte, dann kann ich mir den Rest schon selbst zusammenreimen.«

»Keine Ahnung, wovon du redest, Teagan. Es tut mir genauso weh wie dir. Ich habe Claire geliebt.«

»Du bist so ein Arschloch!«, spie ich ihn an. Ein kleiner Halbkreis aus Schülern hatte sich hinter uns versammelt, aber das hielt mich nicht davon ab, auf ihn loszugehen. »Warum warst du gestern nicht beim Trauergottesdienst?«

Ryan schüttelte den Kopf. »Ich kann mit Beerdigungen nicht umgehen.«

»Ihre Beerdigung ist morgen«, schoss ich zurück.

Meine nächste Handlung war eine Verzweiflungstat. Ich griff nach Ryans Hand und bog die Finger auseinander, um nach irgendeinem Anzeichen dafür zu suchen, dass er von Hadrian manipuliert wurde. Natürlich war kein Achterstern zu sehen, kein Zeichen eines schwarzen Engels. Ryan war wie ich. Ein Mensch. Obwohl das nach seinem Verhalten auf dem Rave fraglich schien.

»Was zum Teufel soll das, Teagan?« Ryan riss seine Hand los. »Du bist ein Freak.«

Er starrte mich an, seine Augen verdunkelten sich vor Wut über das, was ich gerade getan hatte, dass ich ihn beschuldigte. Dann fiel ein Schatten auf sein Gesicht, als Garreth sich hinter mich stellte. In einem kontrollierten, einstudierten Tonfall, so, wie er auch in jener schicksalhaften Nacht geklungen hatte, begann Ryan, seine Version der Ereignisse zu erzählen.

»Brynn wollte auf dem Rave mit mir tanzen, und Claire wurde sauer. Es war verrückt. Wir haben einfach nur Spaß gehabt. Die Musik war laut, der Raum bebte. Als ich mich umdrehte, war Claire schon weg.«

»Wo ist sie hingegangen?« Ich hörte das Geschnatter der Schüler hinter mir, die mitkriegen wollten, worüber wir redeten.

»Sie war über die Hintertreppe aufs Dach geklettert. Ein paar von den anderen sind hinterher, weil sie’s cool fanden – eben weil es verboten ist. Als ich bei ihr ankam, stand sie direkt an der Kante. Direkt an der Kante. Ich bin fast durchgedreht. Ich hab ja schon einiges gesehen, aber Claire, wie sie an der Dachkante eines vierstöckigen Gebäudes steht? Damit hab ich im Leben nicht gerechnet.«

Ryans Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung an die Nacht, er starrte ins Leere. Dann sah er mir direkt in die Augen.

»Ich kann mich an vieles an dem Abend nicht erinnern. Aber ich werde nie vergessen, was ich da gesehen habe. Das kann man nicht vergessen.«

Einen Moment lang schien er ein anderer als im Wald.

»Was hast du gesehen, Ryan?«, drängte ich ihn.

»Claire hat dagestanden, die Arme zur Seite ausgestreckt. Mit dem Rücken zu uns. Ganz still. Ich weiß noch, dass ich einen Schritt auf sie zu gemacht habe. Ich wollte nach ihrem Arm greifen und sie von der Kante wegziehen, aber irgendwer hat mich abgehalten. Und dann war es fast, als würde sie schweben – vor unseren Augen. Als wenn jemand sie hochgehoben hätte und sie uns allen auf dem Präsentierteller zeigen wollte. Es war … als würde sie fliegen. Und dann ist sie über die Kante rüber.«

Meine Stimme versagte. Schweigend starrte ich Ryan an, seine Worte hallten in meinem Kopf nach, obwohl er nichts mehr sagte. Ich hatte ein Bild vor Augen. Ich konnte Claire sehen, als ob ich dabei gewesen wäre … nein, als ob ich Claire wäre. Die Claire aus meinem Traum.

Da spürte ich Garreths warme Hand auf meinem Arm.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Ich kam wieder zu mir und spürte sofort die Aggression in der Luft. Die Wirklichkeit zerstörte den Traum, den ich so gerne zum Leben erwecken wollte.

»He, lass mich in Ruhe!« Ryan knallte plötzlich seine Spindtür zu. In der Eingangshalle wurde es still. »Ist doch auch egal. Wir werden nie rausfinden, warum sie gesprungen ist.«

Meine Haut wurde eiskalt, die Kälte kroch über den Nacken in die Arme. Ich zuckte zusammen, als Ryan seinen Arm in Garreths Schulter rammte und sich an uns vorbeischob. Ohne ein weiteres Wort verschwand er in einem Klassenzimmer. Meine Füße standen wie angewurzelt vor seinem Schließfach. Ich fühlte mich, als würde ich durch die Bodenfliesen direkt in die verschlungenen Kellergänge der Schule sinken.

»Teagan?«

Die Stimme meines Engels brachte mich zur Besinnung. Jemand flüsterte etwas.

»Komm, ich bring dich nach Hause.«

Ich spürte, dass ich mich bewegte, ich wurde von einer unsichtbaren Kraft vorwärtsgeführt, ohne etwas tun zu können. Garreth bugsierte mich durch die Eingangshalle, durch die merkwürdige, stille Wolke, die über uns schwebte, an den verwirrten Gesichtern derer vorbei, die den Showdown eben mitbekommen hatten. An allem vorbei. Hätte ich am Hinterkopf Augen, dann hätte ich gesehen, wie Brynn Hanson mir hasserfüllt hinterherstarrte.

Wir waren gerade vorm Sekretariat, als meine Knie nachgaben und Garreth mich auffangen musste. Er öffnete die Tür, aber ich drückte sie wieder zu, schloss den Geruch von Papier und Tinte aus. Ich wusste, dass er sich Sorgen machte.

»Garreth, meine Mom hat mit Claires Mutter gesprochen. Claire ist gerutscht und gefallen. Von springen war keine Rede. Das würde Claire nicht tun.« Meine Stimme klang drängend und ängstlich.

»Es ist heute nicht gut für dich, hier zu sein. Ich werde fragen, ob sie dich gehen lassen.«

»Nein. Wenn er hier ist, bin ich auch hier. Ich gehe nirgendwo hin.«

»Wir müssen hier raus.«

Er lächelte mir zu, und ich wusste instinktiv, dass er den einen Ort meinte, an dem wir sicher waren. Unseren Ort. Die Kapelle im Wald.

»Es gibt nur ein Problem, wir stecken hier fest.«

In dem Moment wurde meine Hand taub. Ein total merkwürdiges Gefühl. Ich sah sie an, um die Giftspuren zu untersuchen, die ich vergessen hatte zu behandeln. Vielleicht sollte ich in der Freistunde zur Krankenschwester gehen.

Als ob er meine Gedanken lesen würde, nahm Garreth meine Hand und rieb mit dem Daumen über die Innenfläche. »Das muss warten.«

»Was?«

»Die Krankenschwester kann da nichts tun.«

»Du weißt, was mit meiner Hand los ist?«

Ich drehte die Hand um, innen war sie rot und eklig geschwollen. Es machte mir Angst, dass Garreth davon wusste.

»Vertrau mir. Ich erklär’s dir später.«

In dem Augenblick kehrte das Gefühl in meine Hand zurück, die Innenfläche kribbelte wie unter Strom. Ich öffnete und schloss meine Hand, um das Blut zum Zirkulieren zu bringen. Ich ballte die Faust und dachte, dass es zu einer Spontanheilung kommen würde, wenn ich Ryan Jameson damit eins in die Fresse geben könnte.