KAPITEL 3

Feder

Frisch und munter wachte ich am nächsten Morgen auf. Völlig ungestört von dunklen Flügeln hatte ich von Garreth geträumt. Ich war voller Energie und wild entschlossen, mich für die Schule aufzuhübschen.

Garreth Adams.

Er war völlig anders als die Jungs in der Schule. Vor allem hatte er eine Reife, an der es neunundneunzig Prozent der anderen Jungs mangelte. Er war höflich, aufmerksam, überlegte, was er sagte, und war trotz aller Selbstsicherheit zurückhaltend, was mir sehr gefiel. Ich dachte an seine tiefblauen Augen und das markante Kinn und die Geste, mit der er sich das Haar aus den Augen strich. Sofort bekam ich warme Ohren.

Mit den Gedanken bei Garreth schlüpfte ich in das Badezimmer meiner Mutter und kramte im Schrank nach Schaumfestiger, Gel und Glanzspray, ohne die geringste Ahnung zu haben, was man damit machte. Aber ich war entschlossen, mich in ein etwas weniger gewöhnliches Ich zu verwandeln, und legte blindlings los. Allerdings sah mich aus dem Spiegel ein ziemlich durchschnittliches Gesicht an, dazu strohblonde Haare mit ein paar selbst gemachten hellen Strähnchen, eine einigermaßen klare Haut, abgesehen von den sich von Jahr zu Jahr vermehrenden Sommersprossen, und hellgrüne, fast wasserhelle Augen, umrahmt von schmalen, sehr hellen Augenbrauen und Wimpern. Ich bekam häufig zu hören, dass ich hübsch sei, aber der Spiegel sagte leider meistens was anderes.

Ich seufzte und war ganz und gar nicht überzeugt, dass die Kosmetikansammlung eine Verbesserung bringen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Die Schubladen offenbarten mir ihre Geheimnisse in Form von Lippenstiften und Lidschattendöschen, die ich alle mit Begeisterung aufmachte. Ich fühlte mich wie ein Kind im Spielwarenladen.

Mit ungewohntem Elan sprang ich die Treppe runter und erntete einen schockierten Blick von meiner Mutter. Gestern Abend hatte ich noch völlig geistesabwesend dagesessen und war mit den Gedanken woanders gewesen.

»Hübsch siehst du aus, Schatz.« Ihr Blick war misstrauisch, das Kompliment aber echt. »Was steht denn heute an?«

»Ach, Mom. Ich bin eben gut drauf. Ich hab mir was von deinem Make-up geliehen, wenn du nichts dagegen hast. Hab ich schon gesagt, dass wir heute früher Schluss haben?«

»Ich muss bis fünf arbeiten, Tea. Heute ist Freitag.« Meine Mitteilungsbereitschaft hatte sie umgehauen.

Normalerweise verläuft das Frühstück bei uns a) schweigend, b) ab und an von einem verschlafenen Grunzen unterbrochen oder c) schweigend. Ich beugte mich tief über meine Müslischüssel, um ihrem deutlich spürbaren bohrenden Blick auszuweichen. Angesichts meines Versuchs, wie eine normale Siebzehnjährige auszusehen, stand ihr der Mund offen. Ich hoffte nur, dass ihr siebter Sinn ihr nicht zuflüsterte, dass das etwas mit dem anderen Geschlecht zu tun haben könnte, aber das war leider unwahrscheinlich. Draußen hupte es. Rettung durch Claire!

»Bis später, Mom!«

Ich wusch meine Schüssel ab, stellte sie weg, nahm meinen Rucksack und war in Windeseile aus der Tür. Vor meinem inneren Auge sah ich meine Mutter entgeistert die Tür anstarren – wenn sie mal nur keine ärztliche Hilfe benötigen würde!

Ich hüpfte in Claires kleines weißes Cabrio. Aus dem CD-Player röhrte Pink, das Auto war in eine Vanilleduftwolke von einem neuen Duftbäumchen am Rückspiegel gehüllt. Claire überprüfte ihre Porzellanhaut und wandte sich dann mir zu. Sie sah genauso entgeistert aus wie meine Mutter.

»Kennen wir uns?«, fragte sie in ernstem Ton. »Ich nehme nur Leute mit, die ich auch kenne. Bitte verlassen Sie umgehend den Wagen.«

Ich musste kichern.

»Oder aber«, setzte sie fort, »wer bist du, und was hast du mit meiner Freundin gemacht?« Claire nahm meine Hand und untersuchte mit übertriebener Hingabe die Innenfläche.

»Aha! Madame Woo sagt, Make-up ist gute Idee, um neuen Schulschwarm an Land zu ziehen. Auch gute Verkleidung für Bus. Niemand wird dich erkennen.« Ihre Augenbrauen hüpften auf und ab.

»Du hast echt ’ne Macke!«

»Du siehst toll aus!« Sie war wirklich begeistert von meinen Neugestaltungsversuchen. »Ich hab nie verstanden, warum du dich nicht schminkst. Hmm. Was so ein Junge alles ausmacht.«

Ich setzte eine Unschuldslammmiene auf, aber der Ausdruck auf Claires Gesicht zeigte deutlich, dass ich ihr kein X für ein U vormachen konnte.

»Ist es so offensichtlich?« Meine Stimme klang plötzlich leise und schüchtern.

»Nur für mich.« Claire lächelte wissend, startete das Auto und fuhr die Church Street hinunter. »Heute siehst du aus wie die neue Schönheitskönigin der Schule, und Garreth Adams wird den Mund nicht mehr zukriegen.«

Ich lächelte und guckte mir im Vorbeifahren aus dem Fenster die Häuser an. Auf Claire war Verlass, sie schaffte es immer, mein Selbstvertrauen zu heben.

»Ach, nur so nebenbei.« Ein teuflisches Lächeln umspielte ihren Mund. »Meinst du, deine Mutter leiht mir den Lippenstift auch mal?«

Die Sonne schien angenehm warm durch das Schiebedach. Ich erlaubte mir eine kurze Rückkehr in den Traum von Garreth, bevor wir an der Schule ankamen. Das war der erste schöne Traum, den ich seit Ewigkeiten gehabt hatte, also schloss ich die Augen und genoss den Moment. Seine Augen, so blau wie das Meer, strahlten unter dem blonden Haar. Er lächelte mich an, mein Herz klopfte, dann verblasste er. Mein Traum war eben nichts als ein Traum.

Doch dann öffnete sich der Nebel, und da war er wieder, streckte die Hand aus und winkte mich zu sich. Ich machte einen Schritt, einen Moment lang war ich von den wunderschönen herumwirbelnden Farben wie geblendet. Als ich meine Hand in seine legen wollte, schien die Luft zu erzittern … sich elektrisch aufzuladen … elektrostatisch zu werden. Staunend sah ich, dass die Linien auf seiner Handfläche sich vor meinen Augen veränderten, zu einer einzigen Linie zusammenliefen und einen wunderschönen achtzackigen Stern formten, alles mit eleganten, schweifenden Bewegungen. Endlos. Lückenlos. Ewig. Garreth sagte sanft meinen Namen. Ich trat in den Nebel hinein und wusste in dem Augenblick, dass ich im Himmel war. Nur sehr widerwillig verscheuchte ich den Traum aus meinem Kopf und versuchte, mich auf den vor mir liegenden Tag zu konzentrieren.

Claire sang das nächste Lied mit. »Tut mir leid wegen gestern. Bist du gut nach Hause gekommen?«

»Darüber müssen wir reden. Ich bin zwar nach Hause gekommen, aber die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs kommt einer Demütigung gleich. Du hast den Job als mein Chauffeur.«

»Noch schlimmer als Brynn und ihre Clique?«

»Hmm. Kommt gleich danach.«

Kurz vor der Schule klappte ich den kleinen Spiegel in der Sonnenblende vor mir runter. Schwarze Schatten schimmerten unter meinen Augen. Ich überlegte im Stillen, es mit Abdeckcreme zu probieren.

Ich beschloss, das Thema zu wechseln und Claire von dem Traum mit den Flügeln von vorletzter Nacht zu erzählen. Claire war meine beste Freundin und daher die richtige Adresse für all meine Sorgen. Aber sosehr ich sie liebte, sie war eben auch ein Scherzkeks, und ich wusste nicht, wie sie reagieren würde. Bevor ich kneifen konnte, fiel ich mit der Tür ins Haus.

»Ähm, vorletzte Nacht hab ich ein paar komische Geräusche gehört.«

»Was für Geräusche?«

»Wie von einem Tier, als wenn ein Vogel in meinem Zimmer herumfliegen würde. Ich träume in letzter Zeit ständig von Flügeln, und … ich hab auch einen Luftzug gespürt.«

Mein Tonfall war ernst, aber ich bereute sofort, ihr von meinen unerfreulichen Erlebnissen erzählt zu haben. Wie konnte ich glauben, dass Witzbold Claire sich das hier entgehen lassen würde?

»Du liest zu viele Vampirgeschichten.«

Da hatte sie recht. Mein Bücherregal war Zeuge. Natürlich musste sie das für falschen Alarm halten.

»Oder aber …«, fuhr sie fort, »Batman wollte rein, um dich zu retten!«

Claire lachte sich schlapp über ihren eigenen Witz und wedelte wild mit den Armen, als wir an einer Ampel hielten. Ich schüttelte den Kopf und starrte aus dem Fenster. Die dräuende Silhouette der Carver Highschool war plötzlich ein willkommener Anblick. Und dann war es so weit. Meine Magen schlug Purzelbäume, als wir auf den Parkplatz einbogen und ich Garreths Jeep dort stehen sah.

Als Claire eingeparkt hatte, war mein Magen ein einziger gigantischer Klumpen. Wie am allerersten Schultag fluteten Aufregung, Ungeduld und Panik meinen ganzen Körper. Ich schaffte es kaum, aus Claires Wagen herauszuklettern.

Ich suchte den Schulhof nach irgendeinem Zeichen von Garreth ab. Mein Blick überflog die Herde meiner Mitschüler, aber er war nirgends zu sehen.

Zitternd ging ich alleine in die erste Stunde.

Der Morgen schleppte sich endlos dahin, und dabei war erst die zweite Stunde vorbei. Meine Erwartungen fielen langsam zu einem Häufchen altbekannter Enttäuschung zusammen. Ich fummelte an meinem Spind herum und beschloss, den Tatsachen gefasst ins Auge zu blicken.

Vielleicht war ich ja nur die Krücke, die er an seinem ersten Tag hier gebraucht hatte?

Nein. Er schien so aufrichtig.

Kann jemand, der so toll ist, wirklich so nett sein?

Warum bin ich so ein Schwachkopf?

Ein katastrophaler Gedanke folgte dem nächsten, ich wurde immer panischer. Ich schaffte den Weg durch die Halle zur dritten Stunde. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wirbelten in meinem Kopf durcheinander. Er war immer noch nicht aufgetaucht.

Die Klingel. Vierte Stunde.

Ich zappelte nur noch. Englisch plätscherte vor sich hin. Ich war damit beschäftigt, mein Schreibheft mit Flügeln vollzumalen. Reines Glück, dass ich nicht erwischt wurde.

Die Klingel.

Ich zwang mich dazu, nicht nach ihm Ausschau zu halten. Claire und Ryan waren in eine Teenagerknutscherei neben ihrem Spind vertieft. Ich verdrehte die Augen und ging weiter.

Beim Mittagessen war ich in finsterste Gedanken versunken und knabberte appetitlos an meinem Brot und ein paar weichen Kartoffelchips herum, die Claire verschlang, als sie merkte, dass ich nichts runterkriegte.

Ich fühlte mich verletzt. Abgewiesen.

Endlich war der Tag um, ich sammelte meine Bücher vom Tisch auf. Auf dem Weg zum Spind überzeugte ich mich ein für allemal, dass meine Fantasie gestern mit mir durchgegangen war und er mir daher verständlicherweise heute aus dem Weg ging.

Meine Hoffnungen waren am Boden, als …

»Hi, Teagan.«

Sofort jubilierte mein Herz zum Klang seiner Stimme. Rationalität wird sowieso überbewertet. Ich drehte mich langsam um und sah in zwei blaue Augen. Meine Ängste zerflossen zu einer großen Pfütze, mittendrin stand ich.

»Hi.«

»Tut mir leid wegen des Mittagessens. Ich hätte nie gedacht, dass ein Termin beim Vertrauenslehrer eine Ewigkeit dauern könnte.«

»Lass mich raten. Studienberatung bei Mr Dean?«

Garreth nickte. Seine Aufrichtigkeit lag auch dann noch in seinen Augen, wenn er sie verdrehte. Mr Dean war berüchtigt für seine Redefreude, die er mit einer besonders nervenden, besonders nasalen und besonders monotonen Stimme auslebte.

»Ist schon gut. Ich wusste, dass du hier bist. Ich hab dein Auto gesehen.«

Um den Mund auf und mich zu einer kompletten Idiotin zu machen, hatte ich bloß ein paar Sekunden benötigt. Bravo. Ich versuchte den liebestollen Glanz in meinen Augen wegzublinzeln. Aber hier stand er und redete mit mir, als gäbe es keine anderen Mädchen auf dieser Schule. Meine Welt war wieder heile.

Er stand lässig gegen den Spind gelehnt und sah aus wie gerade einem Modekatalog entsprungen. Die Ärmel seines hellbraunen Hemdes waren über die Ellbogen hochgekrempelt. Ich gab mir Mühe, seine muskulösen Arme nicht allzu offensichtlich anzustarren. Unter dem Hemd trug er ein schwarzes T-Shirt über leicht abgetragenen Jeans, die unten etwas ausgefranst waren und auf glatten braunen Timberlands auflagen. Er sah aus wie der perfekte Traummann, es stockte einem einfach der Atem. Er strich sich das blonde Haar aus den Augen und lehnte sich weiter zu mir herüber. Ich hätte schwören können, dass er und der Rest der Welt meinen Herzschlag im Metallhohlraum meines Spindes widerhallen hörten.

»Lass mich das wiedergutmachen«, sagte er. »Lass uns heute Nachmittag was zusammen unternehmen.«

Sein Lächeln war Zucker, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Heute war früher Schluss, was bedeutete, dass ich mich entweder langweilen oder Hausaufgaben machen würde. Doch schließlich und endlich war Garreth immer noch ein Fremder. Fast konnte ich Claires Stimme in meinem Ohr hören: »Er ist kein Fremder mehr, wenn du ihn besser kennenlernst, oder?«

Ich kaute auf meiner Unterlippe und sah mich um. Durch das Fenster gegenüber konnte ich die wartenden Busse und die aufgereihten, wehrlosen Schüler sehen, die auf die Abfahrt warteten. Auf dem Parkplatz daneben standen die anderen Schüler, die lächelnden, die lachenden, die am Wochenende was vorhatten. Brynn ließ das Fenster herunter, ihre Freundinnen quetschten sich in den Wagen, alle lachten und konnten das Wochenende nicht erwarten.

Ich guckte Garreth wieder an und sah in seinen Augen, dass ich ihm vertrauen konnte. Es fühlte sich richtig an.

»Gut«, sagte ich. »Aber ich kann nicht allzu lange.«

Ich warf einen kurzen Blick auf den Akkustand meines Handys, packte die Bücher fürs Wochenende in meinen Rucksack und schloss den Spind ab. Als er meine Hand nahm, ernteten wir überraschte Blicke, die ich zu ignorieren versuchte. Seine langen, warmen Finger verschränkten sich mit meinen. Meine Knie gaben leicht nach, als wir in das gleißende Sonnenlicht traten, das auf den Parkplatz schien.

Als er mit mir zu seinem Auto ging, fiel mir Claire ein, die wahrscheinlich schon ungeduldig wurde. Ich dachte kurz an meine Mutter und ihre Regeln, aber die waren schnell vergessen, als Garreth die Beifahrertür für mich aufhielt und ich auf den Sitz glitt.