KAPITEL 4

Feder

In meinem Bauch schlugen Schmetterlinge Purzelbäume. Jetzt tief durchatmen. Zwar klingelte in meinem Kopf eine kleine Alarmglocke, aber ich fühlte mich wohl da, wo ich saß: im Auto eines wildfremden Jungen, den ich gestern erst kennengelernt hatte. Ehrlich gesagt war ich heilfroh, ihn endlich für mich allein zu haben.

Und genau deswegen befand ich mich in der gleichen Situation wie ein Käfer unter dem Mikroskop. Die neugierigen Blicke der gesamten Schülerschaft durchbohrten die trennende Glasscheibe. Ich bräuchte nur den Kopf zu drehen und würde in Dutzende offener Mäuler sehen. Ich wusste, was sie alle dachten, weil ich mich in meiner Paranoia genau das Gleiche fragte.

Eine einzige Frage.

Warum ich?

Alle wollten wissen, wie es die stille, zurückhaltende Teagan McNeel geschafft hatte, sich in Rekordzeit den überirdisch attraktiven Neuen unter den Nagel zu reißen. Claire hätte ihnen jetzt laut irgendeine patzig-sarkastische Bemerkung entgegengeschleudert, aber ich war mehr für die stille Variante. Die Schmetterlinge flogen jedoch Achterbahnloopings vor Freude. Jetzt ihn das bloß nicht merken lassen.

Aber einen kurzen Blick auf das Publikum gönnte ich mir dann doch, während Garreth das Verdeck des Jeeps abnahm und hinten verstaute. Jawohl. Blicke. Sogar ein paar Lehrer hatten uns bemerkt. Ich wandte mich wieder ab und ließ die unfassbare Tatsache sacken, dass ich in dem Auto saß, das seit zwei Tagen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit, erst recht meiner eigenen, stand. Innerlich jubilierte ich.

Garreth öffnete die Fahrertür und schmiss seinen Rucksack auf den Rücksitz. Ein Luftzug wehte durch den offenen Jeep und aus seiner Kleidung einen Geruch herüber, der mir vertraut war. Champa Blue Pearl. Was für ein Zufall. Ich hatte gestern Abend ein Räucherstäbchen mit genau diesem Duft bei mir zu Hause abgebrannt.

Der Wagen war innen blitzblank, was mich nicht überraschte. Das entsprach genau seiner Reife und Geradlinigkeit. Ich band gerade meine Haare mit einem Gummiband zusammen, da fiel mir etwas auf. Am Rückspiegel hing ein zierlicher Rosenkranz. Er sah alt und sehr zerbrechlich aus und bestand aus zarten blauen Topassteinen, die von einem Silberdraht zusammengehalten wurden. Am Ende hingen etwas größere Steine, an denen ein Kreuz aus anscheinend echtem Markasit hing.

»Darf ich?« Instinktiv streckte ich die Hand nach diesem wunderschönen, filigranen Stück aus.

Im Auto eines Teenagers war so was ungewöhnlich.

Garreth lächelte und nickte ermunternd.

»Ist der antik?«

»Er ist … seit langem in meiner Familie.« Er schien zögerlich, freute sich aber offensichtlich über mein Interesse.

»Er ist wunderschön. Also, wo fahren wir hin?« Mir war aufgegangen, dass ich keine Ahnung hatte, wo wir hinfuhren, aber es war mir auch egal. Einfach nur neben ihm zu sitzen überstieg all meine Träume. Die Schmetterlinge hatten sich beruhigt, und jetzt spülte nur riesige Freude alle Unsicherheit von heute Vormittag fort. Garreth startete den Jeep und fuhr langsam los.

»Ich kenne einen wunderschönen Ort«, sagte er mit warmer Stimme.

Ich saß völlig entspannt neben ihm, als würde ich da hingehören. Aber ich musste mich im Zaum halten. Bisher war das noch kein richtiges erstes Date, und es gab noch viel, was ich von ihm wissen wollte. Im Moment genoss ich und war bereit, mich auf das Abenteuer einzulassen.

Wir fuhren jetzt auf die Straße zu. Von der langen Schlange waren nur noch ein paar Autos vor uns übrig. Die Busse waren mit stinkenden Abgaswolken in die entgegengesetzte Richtung abgefahren, der Parkplatz leerte sich schnell.

»Oh nein! Claire!« Ich legte erschrocken die Hand auf den Mund, als ich sie stehen und auf mich warten sah.

Doch dann merkte ich, dass sie nicht wegen mir und meiner Abwesenheit sauer und ungeduldig war, sondern sich mit der Person, die vor ihr stand, stritt. Ryans normalerweise so entspannter Gesichtsausdruck hatte sich in eine versteinerte Miene verwandelt. Seine dunklen Augen starrten meine beste Freundin wütend an, und beide lieferten sich in aller Öffentlichkeit einen lautstarken Streit.

»Soll ich anhalten?«

Schuldgefühle plagten mich. Ich wusste nicht, was schlimmer war: Claire in so einer Situation im Stich zu lassen oder etwas mitbekommen zu haben, über das sie später nicht würde reden wollen.

»Nein. Ryan ist bei ihr. Ich … ruf sie nachher an.« Ich machte mir wirklich Sorgen. Sobald ich wieder zu Hause war, musste ich Claire unbedingt anrufen. Als Freundin – nicht, um mit meinem unverhofften Date anzugeben.

Garreth legte seine Hand auf meine und drückte sie leicht. Dann schob er eine CD ein. Die ruhigen Akkorde von Rushs ›The Pass‹ waren zu hören, ein angestaubter Klassiker, für den ich eine heimliche Schwäche hatte. Ich sah Garreth verwundert an, und in mir wuchsen auf einmal Gefühle, die ich noch nie gehabt hatte.

Wir fuhren die Church Street lang und hielten an einem Einkaufszentrum, das voller Schüler in Wochenendlaune war. So schön es war, mit Garreth hier zu sein, war dies trotzdem ungefähr der letzte Ort auf Erden, wo ich hinwollte. Die Blicke, das Getuschel, die Gerüchteküche, das alles war mir zu viel. Die Gerüchte sollten sich natürlich bewahrheiten, aber bis dahin sollte sich bitte jeder um seinen eigenen Kram kümmern.

Wir parkten vor Starbucks, und Garreth drehte sich zu mir um und blendete mich mit seinem Lächeln. Die Blicke waren auf einmal weit weg.

»Magst du Kaffee?«

»Und wie. Meine einzige Leidenschaft.«

Bis jetzt.

Ich guckte weg. Jetzt ihm bloß nicht zu lange in die Augen sehen und alles verraten.

Wir gingen rein, und das würzige Aroma der Arabicabohnen schoss mir wie Adrenalin in die Nase. Dies war der einzige Laden in der ganzen Stadt, wo es anständigen Kaffee gab, daher wurde es immer voller, und wir mussten uns anstellen. Ein paar Leute, die ich kannte, drehten sich nach uns um.

Leider hielt auch Brynn an einem Tisch weiter hinten Hof und traf sich mit ihren fiesen Groupies. Alle drehten sich auf einen Schlag um, als ob sie uns trotz des Kaffeegeruchs erschnüffelt hätten. Ihre dunklen Augen blickten kühl. Ich wollte mir nichts anmerken lassen, daher sah ich weg und starrte stattdessen auf die Tafel an der Wand, war aber bereits verunsichert und abgelenkt. Die Auswahl an neuen Kaffeevariationen sprengte mein Fassungsvermögen, als Garreth daher einen Milchkaffee bestellte, schloss ich mich schnell an.

»Für mich auch. Einen mittleren.« Ich griff nach meinem Portemonnaie und wollte meinen Kaffee bezahlen, aber er war schneller und gab der müde aussehenden Bedienung hinter dem Tresen einen Zwanziger. Das Mädchen schaffte es immerhin noch, dem großen, blonden Wunder neben mir einen langen Blick zuzuwerfen.

Wir traten zur Seite und warteten neben dem überfüllten Tresen auf unsere Getränke. Wir standen nah beieinander, was mich total verlegen machte. Ich sah die wütenden Blicke von Brynn und den anderen Mädchen und wusste, dass sie es völlig unmöglich fanden, dass Garreth Adams hier ausgerechnet mit mir Kaffee trank.

»Ich glaube, deine Freundinnen da wollen irgendwas.« Garreth nickte mit dem Kopf in ihre Richtung.

Ich folgte seinem Blick, guckte aber schnell wieder weg, als ich sah, wen er meinte. »Äh, das sind nicht meine Freundinnen.«

Garreth bekam mit, wie unwohl ich mich fühlte. Er blickte sich um und sah Brynns Truppe an. Mit einem Schritt stellte er sich zwischen sie und mich. Völlig verzückt spürte ich, wie er mir schützend eine Hand auf den Rücken legte. Endlich wurden unsere Kaffeebecher auf den Tresen gestellt, und wir konnten gehen. Hier drin war es entschieden zu voll und zu ungemütlich.

Ich bekam kaum mit, wie der Jeep über den Asphalt schnurrte.

Zwischen kleinen Schlucken sah ich Garreth immer wieder heimlich von der Seite an und wunderte mich, dass ich mich bei ihm so geborgen fühlte. Ob sein Herz in meiner Gegenwart genauso laut klopfte wie umgekehrt? Oder ging das nur mir so?

Natürlich ging das nur mir so. Das war doch klar.

Wenn ich wie Brynn Hanson aussähe, würde sein Herz vielleicht höher schlagen, aber hier saß bloß ich und nicht sie. Auch wenn ihr sicher eine Schönheitsoperation am Gehirn guttun würde.

Bevor ich mich körperlich und geistig zusammenreißen konnte, hielten wir an einem kleinen Spielplatz.

»Und, wie gefällt dir Carver?«, fragte ich auf dem Weg zu den Schaukeln.

»Immer besser, seit ich dich kennengelernt habe.« Er warf mir ein schiefes kleines Lächeln zu und wartete auf meine Reaktion. Die bestand wie üblich in Rotwerden und Zu-Boden-Blicken.

»Du hast doch sicher noch andere neue Freunde.«

»Nein«, war die schlichte Antwort.

»Niemanden außer mir? Das ist unmöglich.«

»Vielleicht will ich gar keine anderen Freunde. Vielleicht reicht mir diese eine Freundin.«

»Bin ich das? Eine Freundin?« Mein Herz schlug wild, als er mir in die Augen sah. Bekam ich jetzt die Antwort auf die Fragen, die in mir brodelten? Warum war ich so durcheinander? Warum interessierte er sich bloß für mich? Und warum lag diese Frage näher, als zu sagen: Warum sollte er sich nicht für mich interessieren? Wäre ich bloß mit mehr Selbstvertrauen auf die Welt gekommen!

Garreth stieß die Schaukel mit seinen langen Beinen an und schwang sich hoch nach oben. Er hielt sich fest und lehnte sich mit geschlossenen Augen nach hinten.

»Weißt du noch, wie du das als Kind gemacht hast?«, fragte er, die Augen immer noch zu.

»Ja, schon.«

»Hast du dir dabei vorgestellt zu fliegen?«

»Ja, klar. Ich hab das früher oft gemacht.«

»Machst du immer noch. Gib’s zu«, sagte er grinsend und sauste auf seiner Schaukel an mir vorbei.

Ich kicherte. »Na gut.«

Er konnte ruhig wissen, dass ich mich in unbeobachteten Momenten ab und an immer noch auf eine Schaukel setzte, mich nach hinten lehnte und mir vorstellte, hoch oben über dem Park durch die Luft zu fliegen. So war das eben. Und es machte Spaß.

»Na los«, ermunterte mich Garreth.

Er sah so entspannt aus. Der Luftzug wehte seine Haare durcheinander, die blonden Locken flogen in alle Richtungen. Er sah aus wie ein außerordentlich hübsches kleines Kind, sorglos und unbeschwert.

Ich gab mir Schwung und schaukelte bald so hoch wie er. Wir sahen einander an und lachten. Dann griff er nach einer der Ketten an meiner Schaukel, sodass wir aus dem Rhythmus kamen, unsere Knie aneinanderkrachten und wir den Stahlpfosten der Schaukel ausweichen mussten. Darüber lachten wir noch mehr.

»Erzähl, wieso haben deine Eltern dich Teagan genannt?«, wollte Garreth wissen, als wir wieder zu Atem kamen.

»Keine Ahnung. Ich glaube, mein Vater war Ire oder jedenfalls irischer Abstammung.«

»Du kennst ihn nicht?«, fragte er leise.

»Nein. Er ist irgendwie verschwunden, als ich klein war, also habe ich ihn nie kennengelernt.«

»Verschwunden?«

»Ja. Alle haben gesagt, dass er uns im Stich gelassen hat, aber meine Mom ist sicher, dass irgendwas passiert ist. Vermutlich wird man manchmal mit Lügen leichter fertig als mit der Wahrheit.«

»Wie schade.«

»Ja, meine Mom vermisst ihn sehr.«

»Ich meine, wie schade, dass er dich nie kennengelernt hat.«

Ich sah Garreth an, wie er da auf der Schaukel saß. Er schaffte es immer wieder, dass mir innerlich ganz warm wurde. Er sagte das Richtige zur richtigen Zeit, deshalb mochte ich ihn so sehr, nicht weil er so göttlich gut aussah. Mit dem Aussehen hatte das nichts zu tun.

Was für ein Typ: neu auf der Schule, alle Türen standen ihm offen, so ziemlich jedes Mädchen wäre zu gern heute an meiner Stelle gewesen. Er könnte der Star der Schule sein, aber das interessierte ihn gar nicht. Tatsächlich schien er heute mit nichts und niemand anderem als mit mir hier sein zu wollen.

»Ich finde den Namen schön.« Garreth lächelte.

Wieder lief ich rot an. »Und wer hat deinen Namen ausgesucht, deine Mutter oder dein Vater?«, fragte ich.

»Weder noch. Ich habe keine Eltern, jedenfalls keine leiblichen.«

Ich japste kurz nach Luft, was mir sofort peinlich war.

»Kein Problem. Alles gut. Ich lebe bei einer wunderbaren Familie.«

Sein wunderbares Lächeln sagte, dass ich es gut sein lassen sollte, aber so einfach war das nicht. Vielleicht lebte er in einer Pflegefamilie oder war adoptiert worden? Ich zügelte meine Neugier und murmelte bloß ein leises, aber ehrliches »Entschuldige«.

»Aber er hat eine ziemlich coole Bedeutung: Licht.«

Wie machte er das? Egal, wie blöd ich mir gerade vorkam, er brauchte nur dieses perfekte Lächeln anzuknipsen, und ich vergaß alles andere.

»Passt zu dir«, sagte ich schmunzelnd.

»Hast du Geschwister?«

»Nein. Es gibt nur mich und meine Mom.«

»Dann steht ihr euch sehr nah.«

»Ja. Wir haben ja nur uns.«

Und meine Mutter ging sicher davon aus, dass ich gerade an meinen Hausaufgaben saß. Das Gewissen zwickte.

»Du musst meinetwegen nicht unsicher sein«, flüsterte er mit sanfter Stimme. Er hatte mein Unbehagen gespürt und unterbrach meine düsteren Gedanken.

»Bin ich nicht, ich …«

Garreth blickte zu Boden. »Du willst mich wegen gestern fragen, stimmt’s?«

»Ich …«, stotterte ich. Er sah mich an.

»Ich seh’s in deinen Augen.« Sein Gesicht war ganz nah an meinem.

»Ich weiß wirklich nicht, was da gestern passiert ist«, flüsterte ich.

»Hast du Angst, es herauszufinden?«

»Sollte ich?«

»Ich möchte dich was fragen. Erinnerst du dich an deine Vergangenheit? Ich meine nicht an gestern oder letzte Woche, aber fragst du dich manchmal, ob du schon mal gelebt hast?« Seine Stimme klang bei diesem geschickten Themawechsel warm und nachdenklich. Langsam hob ich den Kopf und sah ihn wieder an.

»Wie wenn man ein Déja vu hat?«

»So in der Art. Aber deutlicher.«

»Sicher.«

Ich dachte einen Moment nach. Wie ließen sich Gefühle und Erinnerungen, die manchmal aus dem Nichts auftauchten und so klar waren, als sei alles erst gestern passiert, sonst erklären? So ähnlich ging es mir mit Garreth, da war ein merkwürdiges Gefühl von Vertrautheit, obwohl er eigentlich ein Fremder war. Was ich allerdings zu ändern hoffte.

»Was hat das mit gestern zu tun?«

»Mehr, als du ahnst«, sagte er leise und sah weg. »Glaubst du an so was wie Vorsehung? Dass es vorherbestimmt ist, dass gewisse Leute in unser Leben treten, aus einem Grund unseren Weg kreuzen? Dass alles nach einem Masterplan abläuft?«

Er griff nach der Kette an meiner Schaukel und zog mich näher zu sich heran. Unsere Knie berührten sich, was Schockwellen durch meinen Körper sandte. Er roch unglaublich gut, als ob er von einer uralten Aura umgeben wäre, er strömte Geborgenheit und Trost aus. Ich erkannte den Duft von Vanille, gemischt mit einem erdigen Geruch wie Teakholz, herb und männlich.

»Glaubst du daran?« Seine Augen waren gefühlvoll, als er meinen Blick suchte. Ich kehrte zum Thema zurück.

»Was willst du mir damit sagen?«, flüsterte ich, eher zu mir selbst.

Es war nicht leicht, in seiner Nähe einen kühlen Kopf zu behalten. Der vertraute Geruch stieg mir wieder in die Nase, als er sich zu mir beugte. Mein Räucherstäbchen. In mir regte sich ein Gefühl, dass ich nicht benennen konnte, wie eine ferne Erinnerung irgendwo im Hinterkopf, die man nicht zu fassen bekommt. Er zögerte und atmete tief durch.

»Glaubst du an den Himmel?«, flüsterte Garreth. Dabei war sein Gesicht so nah an meinem, dass ich seinen Atem spüren konnte.

»Ja«, erwiderte ich ganz leise. Ich konnte ihm schlecht sagen, dass ich gerade im Himmel war. Hier und jetzt.

»Und an Engel?«

Wie in einem Flashback stand ich wieder am Bordstein … mein Fuß rutschte ab … Garreth kam mir zu Hilfe … wie merkwürdig, dass niemand sonst etwas mitbekommen hatte, als ob die Zeit stillgestanden hätte oder rückwärtsgelaufen wäre oder so.

Ein paar Kinder störten die Stille und rannten zum Klettergerüst, aber sie erschienen mir wie Geisterwesen. Garreth strich mit dem Daumen über meine Stirn, als könnte er meine Gedanken spüren. Mein Puls wurde schneller, mein Herz klopfte immer lauter … ich musste an Flügel denken.

Ich sah langsam auf und fragte die nur leicht irrationale Frage: »Bist du real?«

»Glaubst du denn, dass ich real bin?« Er grinste breit. Irgendwie ahnte ich, dass das kein Witz war.

»Ich bin nicht sicher, ob ich darauf die Antwort weiß«, flüsterte ich, als wir von den Schaukeln sprangen und zum Auto zurückgingen. Ich hatte das komische Gefühl, alle seine Fragen schon einmal in einem anderen Gespräch gehört zu haben, aber einem, das ich kürzlich mit mir selbst geführt hatte.

Das nächste Gefühl traf mich mit voller Wucht. Ich war überhaupt nicht bereit, jetzt nach Hause zu fahren und mich von ihm zu verabschieden. Der gemeinsam verbrachte Nachmittag war definitiv zu kurz gewesen. Meine Neugier war geweckt; ich wollte aus purem Eigennutz mehr Zeit mit ihm, wollte ihn verstehen und kennenlernen. Mich selbst verstehen. Der Traum sollte noch nicht zu Ende sein.

Trotzdem bemühte ich mich auf der kurzen Fahrt nach Hause um Fassung, um nicht enttäuscht zu wirken wie ein kleines Kind. Garreth drückte leicht meine Hand. Er hatte sie eigentlich den ganzen Nachmittag festgehalten. Wenn er losließe, würden meine Finger ganz sicher einen Schock erleiden.

Auf meine Anweisung hin bogen wir in die Claymont Street ein. Meine Mutter würde sich bald auf den Heimweg machen, und ich war dran mit Essenkochen. Das Wochenende lag endlos und elend vor mir. Montag war ferne Zukunft.

Der Jeep hielt an, den Motor im Leerlauf.

»Dann, danke für den Kaffee«, sagte ich leise. Ich wollte mich nicht verabschieden.

»Tut mir leid, wenn meine Fragen dich verwirrt haben.«

»War das deine Absicht?«

»Nein. Ich war nur neugierig.« Er senkte den Kopf und sah mich durch den Pony hindurch an, der ihm wirklich reizend vor den Augen hing. »Vermutlich stelle ich mich nicht gerade toll dabei an, jemanden kennenzulernen. Ich will dich nicht verschrecken.«

»Schon gut. Engel und Himmelsdinge verschrecken mich nicht.«

Ich lehnte mich ein winziges bisschen in seine Richtung, gerade so weit, dass ich nicht total gierig wirkte. An seinen Augen war nichts abzulesen. In ihnen lagen Sehnsucht und Weisheit, als ob Garreths Seele viel älter wäre als er selbst, oder besser gesagt, ewig alt. Mit einer Hand strich er eine meiner Locken glatt, die sich auf der Fahrt ins Gesicht geschoben hatte. Das löste etwas in meinem Unterbewusstsein Verborgenes aus.

»Du musst sicher deine Freundin Claire anrufen, oder?« Seine Aufmerksamkeit erstaunte mich, aber noch viel mehr erstaunte mich, wie nah seine Lippen meinen waren.

»Ja«, brachte ich als Antwort gerade noch zustande. Ich starrte seinen Mund an und hoffte, dass er meinen berühren würde. Mein erster Kuss.

»Du hast mir noch gar keine Antwort auf meine Frage gegeben.« Seine Finger umschlossen sanft mein Gesicht.

»Würde es dir was ausmachen, die Frage noch mal zu wiederholen?« Ich trieb, sank, ging unter in einem Meer aus Blau. Ich wollte nie wieder an die Oberfläche zurück.

»Eigentlich war es ja deine Frage. Du wolltest wissen, ob ich nur in deiner Einbildung existiere.«

»Weiß … ich … immer noch nicht.«

Ich versank immer tiefer in einem warmen, tiefen und ewigen blauen Meer. Völlig egal, ob er meiner Einbildung entsprungen war oder nicht, ich würde ihn auf keinen Fall wieder gehen lassen. Claire hatte recht. Höchste Zeit für einen Freund.

»Nehmen wir mal an, rein hypothetisch natürlich, dass du nicht real bist, könntest du mich dann wohl im Traum besuchen, damit ich nicht bis Montag warten muss, um dich wiederzusehen?« Hatte ich das gesagt? Der gemeinsame Nachmittag ging dem Ende zu, aber ich wollte mich partout nicht aus seinem Griff lösen und aus dem Auto steigen.

»Klar. Wenn ich nicht real bin, kann ich alles.« Er lächelte und spielte mit.

»Also abgemacht.«

Garreth stieg aus dem Auto und kam auf meine Seite, um mir wie ein echter Gentleman die Tür zu öffnen. Er lehnte sich dicht an mich, berührte kurz mit seinen Lippen meine und zögerte dann. Ich schwankte leicht und lehnte mich näher an ihn heran, um meine Lippen auf seine zu drücken, aber er zog sich langsam zurück. Zeit für den Abschied.

Die fünf Stufen hoch zur Haustür waren eine echte Herausforderung, zum Glück hielt mich das Geländer. Ich drehte den Schlüssel um und ging hinein. Mir blieb noch ungefähr eine halbe Stunde, um Claire anzurufen, bevor ich kochen musste. Obwohl mir das wichtig war, kam ich nicht von der Tür weg. Ich sah dem grauen Jeep nach, der immer kleiner wurde und sich von mir entfernte.