KAPITEL 22

Feder

Ich kniete und hielt das Foto schützend in den Händen. Wie konnte es sein, dass mein Vater dasselbe Zeichen getragen hatte wie Hadrian? Ich sah mir das Bild noch genauer an. Die Hand meines Vaters wirkte gerötet und geschwollen. Ganz sicher war ich nicht, aber bei genauem Hinsehen schienen sich die Wellenlinien unter den frischeren Linien abzuzeichnen. Hatte er sich das selbst zugefügt? Hatte er sich eine Kopie von Hadrians Zeichen in die Hand geritzt? War das eine Huldigung an seinen Schutzengel, oder hatte Hadrian meinem Vater das Zeichen eingebrannt – um ihn zu quälen?

Irgendwann musste den beiden klar geworden sein, dass ich eines Tages alles erfahren, wenn auch nicht sofort begreifen würde. Obwohl ich heute der Wahrheit ein ganzes Stück nähergekommen war, ergab doch alles noch lange keinen Sinn.

Ich legte die Fotos schnell in die Schachtel zurück und verstaute diese unterm Bett, dann kroch ich unter die Decke. Schlaf war jetzt wichtig, um für morgen bereit zu sein, aber meine Gedanken rasten. Unfassbare Angst packte mich mit eisigen Krallen. Meine Beine wogen auf einmal eine Tonne, der Oberkörper dagegen wurde ganz schlaff. Ich wollte meine Augenlider fest zusammenpressen, um nicht sehen zu müssen, was da im Schatten lauerte, aber sie gehorchten mir nicht.

Wieder das raschelnde Geräusch. Es kam aus einer Ecke, wurde immer stärker, als ob sich ein großer Vogel in die Luft erheben würde, aber der Lärm war dafür viel zu laut, und ich dachte wieder an den furchtbaren Traum von Claire und der Krähe. Mein Körper wollte einen Schrei ausstoßen, heraus kam bloß ein jämmerliches Quieken. Ich versuchte daran zu denken, was Garreth über Stärke und Bestimmung gesagt hatte, war aber leider bloß noch ein Häufchen Elend. Dann war es so weit. Wie eine Kobra schoss er aus der Tiefe des Schattens hervor, mit ausgebreiteten Flügeln, der aschgraue Schleier zerteilte das Dämmerlicht in meinem Zimmer …

»Ich bin wach, ich bin wach, ich bin wach«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt zu träumen, dass die Wirklichkeit ein Schock war.

»Garreth«, ich legte alles in diesen Gedanken, »bitte hör mich.«

Das Wesen erhob sich drohend und schwebte über mir, dann nahm es Gestalt an. Kalte, geisterhafte Stille legte sich über den Raum.

Er war überwältigend.

Ich musste es zugeben. Garreth war nach wie vor mein perfekter Traummann in Menschengestalt, aber als Hadrian aus dem Schatten wie ins Rampenlicht trat, konnte ich die Augen einfach nicht von ihm lassen. Unfassbar.

Die schwarze Kleidung betonte jede Einzelheit seines perfekten Körpers. Er stand vollkommen reglos, seine schwarzen Augen bohrten sich in meine. Sogar aus der Entfernung konnte ich sehen, dass Pupille und Iris seiner Augen zu einem pechschwarzen Kreis verschmolzen. Sein Blick, tiefgründig und kalt, ließ mich erzittern, aber ich konnte die Augen nicht abwenden. Sein geheimnisvolles dunkles Wesen übte eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus, die sich nicht in Worte fassen ließ. So überwältigt war ich von ihm, dass ich alles getan hätte, was er wollte, aber er starrte mich nur an.

Seine Bewegungen waren sanft und flüssig, als würden sie Musik verkörpern. Aber ich war gewarnt. Eine dunkle Kraft lag unter diesem strengen, eleganten Äußeren verborgen. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er in der Lage war, mich mit einer einzigen schnellen Bewegung entzweizuteilen. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich den Atem anhielt. Beim nächsten tiefen Atemzug spürte ich eine schwache Wärme, eine Wolke hatte sich zwischen mich und den schwarzen Engel geschoben.

»Lass sie in Ruhe«, sagte Garreth warnend.

Sobald er vor mir Gestalt angenommen hatte, klammerte ich mich an seinen Rücken wie an ein Schutzschild. Hadrian stieß ein dröhnendes Geräusch aus, das mich in Schrecken versetzte, bis mir klar wurde, dass das verächtliches Lachen sein sollte.

»Ah, Garreth, der weiße Ritter eilt der Dame seines Herzens zu Hilfe. Der ganze Himmel sieht dir zu, da kannst du sicher sein. Du bist schließlich der, der alles riskiert für das Menschenmädchen, das er liebt. Wie süß.«

Das Symbol in meiner Hand brannte warnend. Eine Hitzewelle überlief mich, und ich verstand, dass Garreth mir mehr von seinem Licht abgab. Garreths Rücken spannte sich, und die dunkle Schönheit, die ich eben noch so anziehend gefunden hatte, schmolz dahin und enthüllte die groteske Wahrheit dahinter. Mit einer Armbewegung versetzte Hadrian Garreth einen Schlag, der ihn quer durch den Raum gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte.

»Nein!«, schrie ich.

Es war mir egal, wenn jetzt meine Mutter verängstigt und mit großen Augen hereingerannt käme. Das wäre mir nur recht! Hatte ich echt gedacht, dass ich alleine mit alldem fertig werden konnte? War ich irre?

Garreth kam schwankend auf die Beine. Als ich sah, wie dunkelrote Flüssigkeit von seinem Haaransatz über sein bleiches Gesicht rann, spürte ich den bitteren Geschmack von Galle in meinem Mund. Obwohl er geschwächt war, versuchte er, zu mir zu kommen. Es war unglaublich: Garreth beschützte mich immer noch, selbst in dieser schrecklichen Situation. Er war eine Mischung aus Teenager und uraltem Schutzengel, der bis zum Letzten für seinen Schützling kämpfte. Aber seine Kraft war erloschen. Er hatte den letzten Rest davon mir gegeben.

Ein ebenholzfarbener Schatten erhob sich über meinem Kopf und spannte schwarze, fingerähnliche Flügel über die ganze Zimmerdecke und die Wände aus.

»Das ist ein Trick …«, redete ich mir ein.

Ganz bestimmt nutzte Hadrian die Schatten, damit er größer wirkte und ich vor Angst den Verstand verlor. Ich dachte schon, ich hätte ihn durchschaut, da tauchte sein verschlagenes Gesicht eine Haaresbreite vor meinem auf. Seine Lippen verzogen sich verächtlich, sein Hass durchdrang mich bis in die Knochen. Ich hätte schwören können, dass dies die Fratze der Finsternis war, das grauenhafte Grinsen seines Zwillingsbruders Luzifer.

Hadrians Flügel schwangen zurück, als wollte er sie widerwillig zusammenfalten. Aber stattdessen peitschten sie auf einmal nach vorne und sandten eine Schockwelle durchs Zimmer auf Garreth zu. Mein Bett machte einen Purzelbaum in der Luft und zertrümmerte das Bücherregal. Ich wollte mich umdrehen und nach Garreth rufen, stand aber vor Erschütterung wie angenagelt auf dem Fleck.

Als der Sturm sich legte, sah Garreth mich an. Seine blauen Augen blickten ruhig und sanft, in Sekundenschnelle beruhigte sich das Chaos. Nur mit den Augen, ganz ohne Worte sprach er zu mir. Ich vernahm ihn deutlich in meinem Kopf und erfuhr, was ich ihm in all den Jahren, durch all die Wiedergeburten hindurch bedeutet hatte. Mit Worten hätte sich das nicht sagen lassen.

Obwohl ich zusah, wollte ich meinen Augen nicht trauen: Garreth saß ganz gefasst, völlig ruhig da, während um uns herum die Welt, oder zumindest mein winziges Zimmer auf dieser Welt, vernichtet wurde. Dann, wie auf Knopfdruck, heulte der Wirbelsturm wieder los. Die Zimmerecke, in der Garreth saß, verschwand plötzlich in der Dunkelheit. Ich konnte nur zusehen, wie Hadrians Wut sich mit voller Kraft über Garreth entlud. Ein großes Stück meiner Seele wurde dabei in Stücke gerissen.

Schwitzend und zitternd fiel ich auf die Knie. Die Leere in mir war unerträglich. Es war kaum zu glauben, wie sehr Garreth Teil von mir gewesen war, wie viel ich als selbstverständlich betrachtet hatte. Dass ich dachte, es sei, was ich fühlte. Was ich glaubte.

Mein Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Schweigend starrte ich Hadrian an, der jetzt wieder wunderschön war. Ich wollte eine Antwort, verborgen hinter seinen pechschwarzen Augen, seiner bleichen Haut, aber ich konnte auf einmal nicht mehr sprechen.

Als ob er meine plötzliche Behinderung bemerkt hätte, wandte sich Hadrian wieder mir zu und sprach mich zum ersten Mal direkt an. »Er gehört jetzt mir.«

»Gehört?« Auf einmal war ich stinksauer. Meine Hand brannte wie Feuer, das über den Arm in die Brust hochloderte.

Er ignorierte mich und wandte sich zum Gehen, aber das ließ ich nicht zu. Mit neuer Kraft stemmte ich mich auf die Füße und stürzte mich auf seine Beine.

»Was ist mit meinem Vater passiert? Sag’s mir!« Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich bemühte mich, nicht durchzudrehen. Ich hatte noch was zu erledigen. Etwas fast Unmögliches.

Er funkelte mich an und sagte nichts. Fast hätte man den Ausdruck, der wie ein Meteor über sein Gesicht huschte, für tiefes Mitgefühl halten können, aber er hatte sich sofort wieder im Griff.

»Bist du so leicht zu durchschauen wie die anderen?«

»Wen meinst du damit?«

»Ich frage dich, Teagan: Welche Wahl triffst du? Ich kann dir geben, was dein Vater nicht wollte. Ich kann dir Macht geben.«

Er trat näher an mich heran und streckte zögernd seine Hand nach mir aus. Ich fühlte mich so schwach. Er war faszinierend und mächtig … Ich wusste, es wäre ein Fehler, seine Hand zu nehmen, aber irgendwas in seinen Augen trieb mich dazu.

»Ich kenne dich besser als du dich selbst, Teagan. Ich kenne dich dein ganzes Leben, durch deine ganze Existenz hindurch. Du hast große Fähigkeiten. Der Himmel würde wie ein Traum verblassen im Vergleich zu der Welt, die du und ich erschaffen könnten.«

Hadrians kalte Hand strich mir über die Wange, was eine tief in mir verborgene Erinnerung auslöste. Eine andere Hand hatte mir über die Wange gestrichen, aber das war schon lange her.

»Ich kann dir helfen, weißt du.«

»Mir – helfen?«

»Du weißt nicht, wie mächtig du bist?« Er nahm meine Hand, öffnete sie und strich mit dem Finger verführerisch über die Linien, die ich versucht hatte zu verstecken. »Zusammen können wir eine Macht entfesseln, die alles andere übersteigt. Du musst wissen, dass du außergewöhnlich bist.«

Mir wurde übel, aber Hadrian fuhr fort, erfreut über meine Reaktion.

»Ich suche eine neue Herausforderung. Ich habe deine Art so satt, euren Egoismus und eure Ansprüche. Es ist mir ein Rätsel, warum die Schutzengel so viel Mitgefühl mit euch haben.« Seine Stimme triefte vor Abscheu, und er stieß mit der Spitze seines schweren Stiefels gegen Garreths Bein. »Aber ich gebe zu, dass du mir Freude machst. Ich hätte nie gedacht, dass ich miterleben würde, wie sich ein Mensch während einer Lebensphase seine Existenz verändert.«

Ich sah die große Blutlache um Garreths leblosen Körper herum. Viel zu viel Blut.

»Du kannst jeden anderen haben, weißt du. Mit deiner Macht kannst du dir jeden aussuchen, aber vielleicht gefalle ich dir ja.« Er liebkoste meine heiße Wange mit seinen kalten Fingern. Dann wandte er mir den Rücken zu.

»Du bist kein Engel, du bist ein Monster!«

Er wirbelte herum und sah mich an, sein Gesicht war vorwurfsvoll, als ob ihn meine Worte wirklich getroffen hätten.

»Ich sehe mich als Engel der Barmherzigkeit. Suchen die Menschen nicht immer nach dem Sinn ihres jämmerlichen kleinen Lebens? Und findest du nicht auch, dass ich ihnen diesen Sinn gebe? Ihnen einen neuen Weg zeige?«

Der spielerische Ton in seiner Stimme war verschwunden. Es war klar, dass er keine Lust mehr hatte, mich mit netten Worten zur Beihilfe an seinem Zerstörungsplan zu überreden. Stattdessen würde er mich notfalls mit Gewalt dazu bringen. Er breitete seine schwarzen Flügel aus, und ich fiel auf die Knie, um dort meinen Platz einzunehmen, wo ich hingehörte, an Garreths Seite.

Hadrians Wut, als er Garreth gegen meine Zimmerwand schleuderte, stand mir klar vor Augen. Wieder und wieder lief die Szene vor mir ab, in 3D, wie eine Schlange, die immer wieder zuschnappt. Ich presste mir die verschwitzten Hände auf die Schläfen, aber das linderte den Schmerz auch nicht. Es war schwer gewesen, Garreth nicht mehr anzusehen; aber es war fast unmöglich, dem für alles Verantwortlichen nicht in die Augen zu sehen. Hadrians Zungenfertigkeit hatte mich geblendet, sodass ich das schwarze Herz nicht mehr sehen konnte, das er verbarg.

Hadrian hockte sich vor mich. »Du bist fasziniert von mir, stimmt’s?«

Ich verweigerte die Antwort und drehte den Kopf weg. Er aber streckte die Hand aus und ließ sanft seine Finger durch meine verstrubbelten Haare gleiten.

»Ja, ich bin kompliziert. Du versuchst, mich zu verstehen, aber dir fehlen im Augenblick noch die Fähigkeiten dazu. Das ist frustrierend, nicht?«

Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und entzog mich seiner Berührung.

Hadrian stand wieder auf. »Unterschätz dich nicht, Teagan. Denk dran, ich mag Herausforderungen. Willst du dir mein Angebot nicht noch mal überlegen? Du kannst all das hier hinter dir lassen und herausfinden, wo du wirklich hingehörst.« Er hielt mir seine glatte, bleiche Hand entgegen. »Ich mache das Angebot nur einmal, also überleg es dir gut.«

Mir selber unerklärlich, stand ich auf und sah Hadrian mit neuen Augen an. Mein wunderschöner Engel lag zusammengebrochen zu meinen Füßen, aber ich fühlte einen Nebel des Nichts durch meinen Körper ziehen und war wie betäubt. Ich bahnte mir einen Weg durch den Trümmerhaufen meines Zimmers, um Garreths leblosen Körper herum und streckte die Hand aus, um Hadrians zu ergreifen, während Garreth blutend auf dem Boden lag. Ich hatte nicht gewusst, dass Engel bluten können, hatte nie darüber nachgedacht, aber er war jetzt auch viel menschlicher, als er je vorgehabt hatte.

Die schwarzen Augen, die in meine blickten, versprachen so viel, dass alles andere unwichtig schien. Es war kein Wunder, dass die anderen eingenommen worden waren. Ob Mensch oder Schutzengel, Hadrian wirkte auf alle unwiderstehlich faszinierend.

In dem Moment nahm ich ein Glitzern wahr. Etwas Kleines und Goldenes lag halb verborgen im Dunkeln. Ich versuchte zu erkennen, was es war, und plötzlich waren die Dinge wieder so, wie sie sind. So einfach war das? Meine Hand griff nicht nach der Hand des Engels mit den schwarzen Flügeln, sondern nach dem Gegenstand, der uns möglicherweise alle retten konnte.

Die Luft bewegte sich, als Hadrians Körper sich anspannte. In seinen Augen schimmerte jetzt keine bittende Einladung mehr, sein Blick wirkte finster und hohl. Lautes Donnern kündigte einen Sturm an, der den Himmel verfinsterte. Plötzlich erzitterten die schwarzen Flügel vor mir und breiteten sich über mir aus. Ich ließ meinen Arm unter die durcheinandergewühlten Bettsachen gleiten. Ich zog den Dolch hervor, den Garreth mit anvertraut hatte, die schlichte Eleganz ließ mich ehrfürchtig innehalten, aber ich passte auf, dass ich Hadrian nicht zu lange den Rücken zuwandte.

Hadrian zitterte vor Wut, seine Flügel waren zu voller Spannweite und Schönheit ausgebreitet und rissen fast die Wände nieder, so viel Platz nahmen sie im Zimmer ein. Sie überschatteten mich wie ein aschfarbenes Gewand und ließen ihn schweben – ein Anblick, der zugleich schrecklich und schön war.

Ich kauerte mich so klein wie möglich zusammen und erwartete seinen Wutausbruch, aber plötzlich überzog ein verschlagenes Lächeln seine Miene. Mühelos hob er Garreth, eine fast vergessene Trophäe, vom Boden auf. Hadrians dunkles Gelächter hallte in meinem Kopf wider und wurde dann zu einem Flüstern im Wind.

Ich war allein mit dem Dolch.