KAPITEL 6

Feder

Die Absicht, mich noch einmal durch den Nachmittag mit Garreth zu träumen, war nur noch ferne Erinnerung. Im Zimmer war es stockdunkel. Ich hing mit dem Oberkörper über dem Schreibtisch, war schweißgebadet und völlig benommen. Es musste Stunden her sein, dass ich nach oben gekommen war.

Ich schlurfte zum Bett, ließ mich auf die Decke fallen und versuchte, mich zu erinnern. In der Nacht nach Garreths Auftauchen hatten sich meine merkwürdigen Träume nicht wiederholt. Ich hatte gehofft, das würde auch so bleiben, war aber jetzt eines Besseren belehrt worden. Zwar hatte ich keine Erinnerung mehr an den Traum, spürte aber noch nackte Panik auf meiner Haut. Und Augen, die mich beobachteten, nach denen ich immer gesucht hatte, von denen ich wusste, dass es sie irgendwo gab … aber sie blieben verschwommen und vage.

Der Traum war wie die anderen gewesen: Etwas lauerte mir auf, saß mir im Nacken … nur diesmal war ich nicht die Einzige, die beobachtet wurde. Garreth war mit in meinem Traum und beschützte mich vor der unsichtbaren Macht von … ach … wenn ich mich nur erinnern könnte!

Ich setzte mich auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich war todmüde. Der Traum schien mehr eine Erinnerung als nur ein Traum zu sein, auch wenn das unmöglich war. Seine Schatten vernebelten weiterhin jeden klaren Gedanken.

Meine Bettdecke fühlte sich eiskalt an, aber mir war warm, als ob mich jemand die ganze Nacht lang im Arm gehalten hätte. Eine vertraute Wärme, die mich schon früher als Kind nach Albträumen getröstet hatte. Damals griff ich ständig nach den Händen meiner Mutter, um zu sehen, ob sie tagsüber so warm waren wie nachts immer. Denn wer außer ihr sollte in mein Zimmer kommen und mich trösten? Meine Mutter amüsierte sich über meine beharrliche Überzeugung, weil ihre Hände immer kalt waren. Sie hatte eine andere Theorie: Wenn sie nicht da sein konnte, würde mein Schutzengel bei mir bleiben.

Das leuchtete mir vorübergehend ein und half beim Schlafen, als ich noch klein und ängstlich war. Aber irgendwann war ich zu alt für solche Geschichten, auch wenn die Träume immer wiederkamen.

Doch erst in letzter Zeit hatte ich erneut richtig Angst bekommen. Natürlich kam ich mir deswegen blöd vor. Auf der Suche nach neuen Ideen hatte ich begonnen, Bücher über paranormale Ereignisse und alte Mythen zu lesen. Mir waren die Theorien ausgegangen.

Jetzt, verschwitzt und in Panik, griff ich auf mein altes mentales Trostpflaster zurück. Ich stellte mir vor, dass ein wunderschöner Engel mit ausgebreiteten Flügeln in mein Zimmer geschwebt käme und die dunklen Schatten aus den Ecken vertreiben würde. Früher hatte ich mir trotz aller Mühe nie das Gesicht des Engels vorstellen können. Bis heute. Ich gab ihm das Gesicht, das mich die ganze Nacht lang trösten würde.

Garreths Gesicht.

Ich stellte mir warme Hände vor, wärmer als meine eigenen oder die meiner Mutter. Wärmer als die Hände aller anderen … außer einem.

Als ich mich gerade auf die Hände in meiner Traum-Erinnerung konzentrierte, schwappte aus meinem Unterbewusstsein urplötzlich eine Flut von schrecklichen Bildern hoch, die wie eine Diashow, die sich nicht anhalten ließ, vor mir abliefen. Momentaufnahmen. Unfälle, tief in meiner Erinnerung vergraben. Ersticken. Warme Hände. Auf dem Eis ausrutschen und so hart mit dem Kopf aufschlagen, dass ich fast ohnmächtig wurde. Eine Stimme wie Samt, tröstend, beruhigend, die mich im Hier und Jetzt hielt. Eine Stimme … nicht irgendeine Stimme. Eine Stimme, die ich immer und überall wiedererkennen würde.

Und Augen … in perfektem Himmelblau … wie Wasser … klar und faszinierend. In dem Moment machte es »Klick«. Der Schalter der Erinnerung wurde umgelegt. Dann hörte ich hinter mir in der Ecke ein Flattern und drehte mich um. Nichts. Das Geräusch war mir vertraut – und dieses Mal hatte ich, anders als sonst, keine Angst.

Ich kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Plötzlich sah ich ihn. Ich dachte, ich träume. Als sei es das Normalste der Welt, kam er auf mich zu und blieb vor meinem Bett stehen. Ich sah zu ihm hoch. Umgeben von einem weichen, hellen Lichtschein stand er da, in all seiner Herrlichkeit. Das Licht schien aus seinem Inneren zu strahlen, es kam aus seiner Brust, floss die Arme entlang und aus seinen schönen, langen Fingern heraus, die meine gehalten hatten. Und das sollten sie bitte wieder tun.

»Waren wir nicht verabredet?« Er lächelte und wartete darauf, dass ich mich von meinem Schock erholte.

»Ich träume, oder?« Ich kniff meine verschlafenen Augen zu.

Wie war er hier reingekommen? Und das Licht … es gab keine einzige logische Erklärung dafür, dass Garreth Adams hier in meinem Zimmer stand, lächelte und leuchtete. Ich träumte wohl immer noch. Das hier war zu schön, um wahr zu sein. Der Räucherstäbchengeruch war stärker geworden, als ob ich eins angezündet hatte. Aber der Geruch kam von seiner Haut. Ich streckte zögernd eine Hand aus, um den Arm zu berühren, der da vor mir leuchtete.

»Hast du es schon herausgefunden?«, fragte er sanft. Seine Stimme verschmolz mit den Wänden.

»Du warst da, in meinem Traum, aber nicht nur im Traum. Du warst wirklich da.« Mehr fiel mir nicht ein. Ich hatte immer noch alle Mühe, das Ganze zu verdauen, selbst wenn es bloß ein Traum war.

»Die ganzen anderen Male, früher … du hast mich ganz schön auf Trab gehalten.« Er nahm kurz mein Gesicht in die Hände wie vorher im Auto, und ein weiches, wunderbares Schwindelgefühl überkam mich.

»Aber es geht noch weiter.« Garreth ging langsam zum Fenster. »Er ist wie ein hungriges Tier, das mit seiner Beute spielt, bevor er sie verschlingt. Er spielt mit uns – und wartet auf den richtigen Moment.«

»Wer?« Ich stand auf und ging ebenfalls zum Fenster. Draußen konnte ich gerade noch einen dunklen Schatten in der Ferne erkennen, der sich in rasender Geschwindigkeit davonbewegte. Kaum dass ich ihn entdeckt hatte, war er auch schon verschwunden.

»Es dämmert.« Garreth wechselte das Thema.

Tatsächlich ging über den Bäumen die Sonne auf. Dämmerung. Was war das für eine Nacht gewesen?

Garreth hob mich sanft hoch und legte mich aufs Bett.

»Wir sehen uns in ein paar Stunden. Dann erkläre ich dir alles, versprochen.« Er beugte sich über mich und küsste meine Augenlider, die sofort zufielen. Sein Geruch ließ mich wieder in Schlaf sinken.

Und dann war er weg, und ich war in einem anderen Traum, ungleich süßer als der davor.