KAPITEL 13

Feder

Ich stolperte ständig, obwohl ich mir Mühe gab, den Wurzeln und Löchern im dunklen Waldboden auszuweichen. Mein letztes Abenteuer in so einer Umgebung war völlig anders verlaufen, sehnsüchtig dachte ich an den verzauberten Ort, an den Garreth mich gebracht hatte.

Das laute Surren von Reifen auf dem Asphalt der Straße hinter uns wurde immer leiser. Dass die Musik auf dem Parkplatz so deutlich zu hören gewesen war, hatte mich irregeführt. Ich hatte angenommen, der Rave wäre ganz in der Nähe, doch das stellte sich als falsch heraus. Wir marschierten viel länger, als mir lieb war, und entfernten uns immer weiter von jeglicher Zivilisation, was mich zunehmend nervös machte.

Die Nachhut behielt mich ständig im Auge, sonst hätte ich wahrscheinlich einen Fluchtversuch unternommen. Brynn folgte mir so dicht auf den Fersen, als hätte sie einen siebten Sinn für meine Fluchtfantasien. Ich stellte mir verschiedene Szenarien vor, malte mir aus, dass es plötzlich stockfinster werden würde, damit ich unbemerkt verschwinden könnte. Oder dass mit etwas Glück Brynn mit Schwung einen Ast ins Gesicht kriegen würde, sodass ich wegrennen könnte.

Meine Hand brannte geradezu darauf, so einen Ast zu finden, aber ich hatte kein Glück. Ich spürte, wie Brynns eisiger Blick mir ein bleibendes Loch in den Rücken fräste. Glaubte Claire echt, ich würde mich hier amüsieren? Als ich gerade so richtig die Nase voll davon hatte, durch die Dunkelheit zu stolpern und mir an Dornbüschen alles aufzureißen, kam ein verlassenes Lagerhaus in Sicht.

Das wuchtige Gebäude wirkte durch die blitzenden Lichtstrahlen und wummernde Musik, die aus den dunklen Öffnungen quollen, regelrecht bedrohlich, fast wie eine Betonfestung. Am Eingang wartete bereits eine lange Schlange, zu meiner Erleichterung kannte ich niemanden. Brynn und ihre Truppe waren an der Carver Highschool so ziemlich die Einzigen, die überhaupt bei solchen Veranstaltungen aufkreuzten.

Brynn quittierte ihren Dienst als mein Babysitter und schob sich geschmeidig an die Spitze der Schlange vor. Sie flirtete mit dem Türsteher an der Eingangstreppe, aus der geöffneten Tür flackerte das Licht des Stroboskops und zuckte über ihre Haut.

Geistesgegenwärtig nutzte ich ihre kurze Abwesenheit. »Claire! Komm, lass uns abhauen!«

Claire sah mich so abwesend an, dass ich sie am liebsten geschüttelt und zum Auto zurückgezerrt hätte. Ich rieb mir die Arme, um warm zu bleiben. Ob sich da gerade eine Erkältung ankündigte?

»Claire, bitte. Ich will nach Hause.«

Aber als sie endlich den Mund aufmachte, um zu antworten, ertönte stattdessen Brynns Samtstimme. »Sie will aber noch nicht gehen. Stimmt’s, Claire?« Sie trat zu uns und schob besitzergreifend ihren Arm durch den von Claire.

Ich streckte die Hand aus und legte sie auf Claires Arm. Bei der Berührung zuckte ich zurück: ihre Haut war wie Eis. Vielleicht kriegte nicht ich eine Erkältung. Vielleicht war Claire krank.

»Claire, lass uns zum Auto zurückgehen und Kaffee holen wie immer. Mein Kopf hält das nicht durch.« Ich deutete auf das vibrierende Gebäude.

»Oooh. Hast du Kopfweh, Teagan?«, unterbrach Brynn. »Oder machst du dir Sorgen um deinen engelhaften Ruf?«

Ich verabscheute ihren spöttischen Tonfall und ignorierte ihre Worte. Das weckte das Interesse von Sage, Emily und Lauren, die aufhörten, die Leute in der Schlange anzugaffen, und sich stattdessen unserem Disput auf dem Rasen zuwandten.

In dem Moment kam Ryan auf uns zu, und ich begriff, dass er der Anführer der kleinen Gruppe war, nicht Brynn. Darauf war ich nicht vorbereitet, ich bekam es mit der Angst, weil ich nicht mehr einschätzen konnte, was hier tief im Wald noch alles passieren würde. Als aus Sekunden endlose, quälende Minuten wurden, kam mir der Gedanke, dass wir gar nicht wegen des blöden Raves hier waren, sondern aus einem ganz anderen Grund.

Ryan stellte die Lampe vor sich auf den Boden, sodass das Licht seine Gestalt riesenhaft vergrößerte. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. In dem unheimlichen Licht der Lampe sahen seine Augen noch dunkler aus als Brynns, Pupille und Iris gingen ineinander über. Mir stockte der Atem. Seine Augen wirkten verloren … leer … seelenlos, aber auch teuflisch intelligent. Die anderen standen um ihn herum und warteten auf ein Zeichen. Sie musterten mich schweigend. Claire hatte mal gesagt, dass Ryans Intellekt auf sie abfärben würde. Bis jetzt hatte ich dem keinen Glauben geschenkt. Sein Blick drang in mein tiefstes Inneres. Er las in meiner Seele wie in einem offenen Buch, während den anderen allmählich langweilig wurde. Offensichtlich waren sie nicht in der Lage, andere Menschen so zu durchschauen wie er. Ich bekam fast einen Herzschlag, als Ryan endlich den Mund aufmachte.

»Teagan, geh doch einfach nach Hause.«

»Wenn sie den Weg findet.« Sage schnaubte verächtlich.

»Claire will ihre Zeit offenbar lieber mit ihren richtigen Freunden verbringen«, fügte Emily hinzu.

Ryans Worte trafen mich mehr als die der anderen beiden. Ich wurde weggeschickt. Ohne Claire. Aber ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Ich zitterte am ganzen Körper.

Langsam sah ich einer nach der anderen ins Gesicht, suchte nach einem Ausweg – nach irgendeiner Lösung. Am Ende blieb mein Blick an Lauren hängen. Sie war noch nicht lange in der Gruppe, vielleicht war sie deshalb das schwächste Glied? Honigblonde Locken umrahmten ihr Gesicht, und ihre blauen Augen erwiderten meinen Blick. Ja! Es gab eine Verbindung. Schweigend flehte ich sie um Hilfe an und hoffte, Brynn und Ryan würden nichts mitbekommen.

»Sollte Claire das nicht selber entscheiden?«, fragte ich leise, an Lauren gewandt.

Kaum waren die Worte ausgesprochen, verlosch das verständnisvolle Flackern in Laurens Augen auch schon wieder. Die Verbindung war abgerissen. Vor Angst wurde mir schummrig, vielleicht lag das auch an dem Wummern der Musik, jedenfalls konnte ich kaum noch geradeaus gucken.

Langsam und bedächtig sah ich mir ein Gesicht nach dem anderen an. Alle standen stocksteif da und starrten mich an, während ich vor ihnen zitterte. Mein Atem hing als Wolke vor meinem Gesicht, löste sich dann auf.

Nur. Mein. Atem.

Ich sah alle genau an. Atmeten die überhaupt?

Sage …

Emily …

Abrupt drehte ich mich zu Brynn und Ryan um.

Als mein Blick auf Claire fiel, erstickte ich fast an meinen unterdrückten Tränen. Dieses Mal lag es nicht am Halbdunkel im Auto. Ich konnte alles klar erkennen.

»Claire? Bitte, lass uns zurückfahren«, flüsterte ich. Meine Stimme war heiser vor Verzweiflung.

Claires schönes Gesicht war ganz Ryan zugewandt, und ich sah, wie sich Brynns Finger fester um Claires Arm schlossen, womit die Entscheidung gefallen war. Ohne ein weiteres Wort drehten sie sich um und marschierten mit Claire im Schlepptau auf die Schlange zu. Ich bekam kaum mit, dass Lauren zurückblieb. Sie fing meinen Blick auf und warf mir eine Kusshand zu. Schwach war im Dunkeln ihr Atem zu sehen, dann drehte sie sich um und lief zu den anderen.

In mir tobte ein Gefühlssturm. Ich versuchte, mich wieder in den Griff zu kriegen, da knackte hinter mir ein Zweig. Ich schrie auf. Da stand Garreth und sah unglaublich erleichtert aus. Ich warf mich ihm an den Hals, vergrub das Gesicht in seiner umwerfend warmen Haut und atmete tief seinen Geruch ein. Ich drückte mich ganz fest an ihn, noch nie hatte ich so ein Bedürfnis nach Wärme gehabt.

»Claire. Sie ist mit denen mitgegangen. Ich glaube, sie steckt in Schwierigkeiten«, brach es aus mir heraus.

Angst und Wut brodelten gleichermaßen in mir, ich überlegte, ob es möglich wäre, Claire zu folgen und sie im Auge zu behalten, ohne entdeckt zu werden. Aber im Geiste sah ich immer nur Ryans schwarze Augen. Garreth führte mich mit warmem Griff von der Lichtung weg.

»Lass sie gehen, Teagan. Sie hat sich entschieden«, sagte Garreth leise.

Aber das konnte ich nicht. Ich war nahe dran, die Stufen hochzurennen, meine Freundin zu schnappen und sie nach Hause zu bringen. Gleichzeitig wollte ich nur noch weg, so unheimlich war alles. Gedanken und Wut bildeten einen Teufelskreis und drehten sich in meinem Kopf wie junge Hunde um sich selbst. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als ich sah, wie die Gruppe mit der Masse aus Musik und Menschen verschmolz.

Garreth nahm meine Hand und zog mich mit unter das schützende Dach der Bäume. Ich drehte mich noch einmal nach meiner Freundin um, die ich hier zurücklassen musste, aber sie war verschwunden. Alle schienen gewusst zu haben, dass Claire heute Abend unsere Freundschaft verraten würde, denn in Wahrheit war ich diejenige, die verlassen wurde.

Warum fühlte ich mich dann so schuldig?

»Ich bringe dich nach Hause, du bist müde.«

»Ich bin nicht müde.« Das klang sogar in meinen Ohren lahm.

»Lügnerin. Komm her.«

Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung hob er mich hoch und hielt mich so fest und eng in seinen Armen wie nie zuvor. Ich fühlte mich warm und geborgen und wurde sofort müde. Eine Sekunde lang machte ich die Augen zu. Ich hörte noch ein Rascheln und merkte, dass sein Hemd sich blähte, als ich mich an ihn kuschelte.

»Es wird windig«, flüsterte ich, dann war ich weg.

Ein paar Minuten später standen wir vor seinem Auto, auf dem Parkplatz, wo auch Claires Wagen stand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wir wären von oben herabgeschwebt, als seine Füße mit leichtem Knirschen auf dem Asphalt aufkamen. Er schaffte es, ohne mich abzusetzen die Autotür zu öffnen, mich auf den Sitz zu bugsieren und anzuschnallen, bevor ich überhaupt die Augen richtig aufbekam. Dann zeigte er auf einen großen Becher mit Kaffee, aus der kleinen Trinköffnung im Deckel quoll Dampf.

»Den brauchst du wahrscheinlich.«

»Woher wusstest du, dass ich …?«

»Trink einfach.«

Hmm. Caramel Macchiato.

Die bittere Flüssigkeit verbrannte mir fast die Kehle, aber das hielt mich nicht davon ab, in großen Schlucken zu trinken. Die Wärme tat zu gut. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren, und meine Nerven flatterten im Wind.

Im Jeep war es mollig warm, als ob Garreth das Heizgebläse angelassen hätte, als er im Wald nach mir suchte. Langsam lockerten sich meine Muskeln, und mir wurde warm. Garreth lächelte, als er sah, wie ich mit zitternden Händen den Kaffee runterkippte und der wunderbaren Stille lauschte.

Dann fiel mir auf, wie schnell wir es zum Auto zurückgeschafft hatten. Der Fußmarsch mit den anderen hatte viel, viel länger gedauert. Ganz sicher.

»Wie sind wir so schnell hierhergekommen?«

»Du hast geschlafen.«

»Du hast mich den ganzen Weg getragen?«

Der Gedanke an mich als nasser Sack in seinen Armen ließ mich erschauern. Es gab nicht viel, was Garreth nicht konnte. Seine Engelsfähigkeiten erstaunten mich immer wieder, auch wenn er sagte, dass er sie bald nicht mehr haben würde. Daran wollte ich aber nicht denken, also überlegte ich stattdessen, wie schwierig der Weg zu dem Rave im Vollbesitz all meiner Kräfte für mich gewesen war. Ich fühlte mich schuldig, weil ich das kostbare warme Licht, das er mir gegeben hatte, verbraucht hatte, auch wenn es mir heute Abend überhaupt nichts genutzt hatte. Die Vorstellung, dass ich durch den Wald gestolpert war wie ein Volltrottel, war zu erniedrigend, also verdrängte ich das Bild schnell wieder.

»Wie um alles in der Welt hast du es geschafft, mit mir auf den Armen durch den stockfinsteren Wald zu laufen? Ich bin nicht gerade leicht.«

»Wer redet von laufen?«

Ein ungläubiger Ausdruck machte sich auf meinem Gesicht breit und brachte ihn zum Lachen, weil ich mal wieder völlig baff war.

Ich schaffte es, ein paar Worte herauszubringen. »Würdest du … würdest du mir das mal zeigen?«

Garreth legte den Kopf schief und sah mich eindringlich an.

»Ich meine, würdest du mir zeigen, wie wir so schnell hergekommen sind?«

»Ich würde dir alles zeigen.«

Das ließ mein Herz höher schlagen. Wir fuhren an Claires kleinem weißen Auto auf dem Parkplatz vorbei. Meine Brust zog sich zusammen, im Hals hatte ich einen Kloß.

»Ihr geht’s doch gut, oder?«

»Kommt drauf an.« Garreths Stimme klang weich, aber da lag noch was hinter.

»Verstehe ich nicht.«

»Weißt du noch, wie ich gesagt habe, dass es bereits angefangen hat? Wenn ein Mensch sich unerklärlich oder untypisch verhält und sich verändert, dann bedeutet das normalerweise, dass sein Schutzengel … besiegt wurde.«

Claire war heute Abend völlig anders gewesen – die Haare, die Klamotten, die Musik. Auch die aufgemotzte Stereoanlage und die Gleichgültigkeit ihrem Bruder gegenüber waren völlig untypisch.

»Sie war nicht sie selbst. Es war wie bei Angriff der Körperfresser, nur in echt.« Ich seufzte.

Dass Claire alles gut fand, was Ryan gut fand, war nicht normal, es war regelrecht ungesund. Und dann noch der Temperatursturz. Das und die fehlende Atemwolke waren einfach zu viel. Besser gar nicht darüber nachdenken.

»Als ob sie ihre Persönlichkeit verloren hätte.« Ich starrte aus dem Fenster und ließ mich von den Fahrbewegungen betäuben. »Ich fand Ryan eigentlich ganz nett. Ich hatte keine Ahnung, dass er mit Brynn rumhängt.«

»Genau. Wie gesagt, untypisches Verhalten.« Jetzt seufzte Garreth. Langsam kamen wir in bewohntes Gebiet zurück. Ich sah die Lichter einer Tankstelle vor uns und fühlte die Anspannung nachlassen, obwohl die Kopfschmerzen, die sich beim Rave eingestellt hatten, jetzt ihr volles Unwesen trieben. Dann kam mir ein Gedanke.

»Garreth, wie ist Hadrian?«

Er hielt an und betrachtete mich eindringlich.

»Nun, er strahlt eine gewisse Würde aus, auch wenn das schwer zu glauben ist. Hadrian umgibt eine Art Aura, wenn man in seiner Nähe ist. Man ist von ihm überwältigt … fasziniert.«

Aus unerfindlichen Gründen beunruhigte mich das sehr. Die Bilder des eben überstandenen Abends, die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis verbannen wollte, mischten sich mit der Erinnerung an schwarze Flügel, die gelegentlich durch mein Zimmer flatterten. Da gab es eine Verbindung, aber ich bekam sie nicht zu fassen. Die Teile gehörten irgendwie zusammen, aber es fehlten noch welche … oder vielleicht lagen sie schon da, mussten aber noch eingesetzt werden.

Eine absurde Frage lag mir auf der Zunge. Es ging um Ryan, er hatte irgendeine Verbindung zu Hadrian, die ich nicht verstand. Ich dachte daran, wie Ryan mich von oben bis unten gemustert hatte. Das war ganz klar ein Psychospiel gewesen, aber ich hatte mich eher entmutigt und bedroht als eingeschüchtert gefühlt. Nein. Ich bekam das Puzzle einfach nicht zusammen. Ryan und Hadrian konnten unmöglich ein und dieselbe Person sein. Doch falls …

Nimm den Schlüssel. Steck ihn ins Loch. Dreh um. Sesam öffne dich.

»Garreth, kann es sein, dass Hadrian Ryan manipuliert?«

Mein Herz schlug heftig, und ich sah ihn eindringlich an. Noch die kleinste Reaktion auf meine Frage war jetzt wichtig.

»Ja. Ich glaube, dass Hadrian hinter den Schutzengeln der Menschen her ist, die dir nahestehen, um an dich heranzukommen.«

Mir wurde schlecht.

»Wie? Wie macht er das?«

Garreth wandte sich mir in dem engen Jeep zu und sah mich gespannt an.

»Für Hadrian ist das ein Spiel, das er mit allen Mitteln gewinnen will. Wir Schutzengel sind nicht menschlich. Wir haben starke Gefühle, aber unsere Grundstruktur ist zerbrechlich. Wie kann ich dir das erklären? Wir sind lebendige Seelen, die zwischen verschiedenen Formen hin- und herwechseln. Hadrian kann uns überwältigen, wenn wir am schwächsten sind, nämlich wenn wir gerade mit unseren Schützlingen beschäftigt sind. Wenn wir sie beschützen oder eine Entscheidung beeinflussen – das Schicksal verändern.«

»Ich hätte gedacht, dann wäre ein Schutzengel am stärksten«, unterbrach ich ihn.

»Im Gegenteil. Dann sind wir verwundbar.«

Darüber musste ich nachdenken. Garreth war also jetzt verwundbar, weil er mit mir zusammen war. Ich brachte ihn in Gefahr.

»Und was passiert mit einem Menschen, dessen Schutzengel überwältigt wird?«

Garreth warf mir einen widerstrebenden Blick zu.

»Wenn sein Schutzengel überwältigt wird, verändert sich der Mensch sofort körperlich und geistig. Diese Veränderung ist so drastisch, dass sie nur vergleichbar ist mit dem Moment, in dem eine Seele einen sterbenden Körper verlässt.«

Er beobachtete meine Reaktion und fuhr fort. »Sogar die Körpertemperatur fällt ab, weil die schützende Wärme des Engels nicht mehr da ist. Stattdessen breiten sich Kälte und Bösartigkeit aus.«

»Fühlst du dich deshalb so warm an? Wie neulich, als du mir was von deinem inneren Licht abgegeben hast?«

Er nickte. »Ich bin ganz anders strukturiert als du. Ein Schutzengel scheint nur aus Fleisch und Blut zu sein, auch wenn man ihn anfassen kann, und unsere Körpertemperatur ist höher als die von euch Menschen.«

Garreth sah mich aufmerksam an. Sein Gesichtsausdruck war weich, aber dahinter lag Schmerz verborgen. Er nahm meine Hand in seine.

»Dieser kleine Lebensfunke in dir, der dir sagt, was richtig und was falsch ist, der dich davon abhält, falsche Entscheidungen zu treffen, der dich vor Gefahr schützt. Stell dir vor, dieser Funke wird dir plötzlich entrissen. Dann fühlst du nur noch Leere und Ratlosigkeit, und dieses Gefühl ist so unerträglich, dass es dich in den Wahnsinn treibt.«

Es war unvorstellbar, dass Garreth mir entrissen werden könnte. Was das anrichten würde, war nicht mit Worten zu beschreiben. Garreth war so sehr Teil von mir, es wäre, als würde man mich in der Mitte aufschlitzen.

»Ist der Schutzengel entrissen, wird der Mensch zu einer willenlosen Marionette«, flüsterte er und starrte aus dem Fenster. »Ohne das Lebenslicht des Schutzengels kann Hadrian mit dem Menschen machen, was immer er will.«

Das reichte. Ich wusste jetzt, was ich in Claires Auto und im Wald miterlebt hatte. Es schien zu spät zu sein für die anderen, vielleicht ausgenommen Lauren. Aber am Ende würde es auch sie treffen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sich irgendwie alles rückgängig machen ließe, allerdings hatte ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Hadrian wurde immer mächtiger, und wir konnten ihn nicht aufhalten.

Garreth legte den Gang ein, und der Wagen kam ins Rollen. Wir schwiegen, im Geiste ließ ich wieder und wieder den Abend ablaufen, um zu verstehen, was ich erlebt und was das zu bedeuten hatte. Ich griff nach Garreths warmer Hand und zog sie in meinen Schoß, wie um ihn festzuhalten. Hadrian würde ihn nicht in die Finger kriegen, das würde ich nicht zulassen. Hadrian würde mir meinen Schutzengel nicht entreißen. Unter meinen Fingerspitzen spürte ich die Linien in seiner Hand. Sein Zeichen.

»Hadrians sieht anders aus.«

»Was?«

Garreth sah mich an. »Hadrians Zeichen. Es sieht anders aus. Es besteht aus zwei übereinanderliegenden Quadraten.«

Dank meiner Neugier und Internetrecherche wusste ich, wovon Garreth sprach, als ob mir dieses Wissen bestimmt war. Wenn ich mich richtig erinnerte, symbolisierte der Stern aus zwei Quadraten Trennung und Konflikt und zeigte nicht nur, welche Art von Schutzengel Hadrian war, sondern stand vielmehr für … seine Absichten.

Ich legte meinen Kopf auf Garreths Schulter. Endlich hatte ich begriffen. Wenn Hadrian tatsächlich Ryans Schutzengel unter seine Kontrolle gebracht hatte, dann beobachtete er mich schon länger, als ich geahnt hatte.

Und ich hatte gerade meine beste Freundin schutzlos in den Klauen des unvorstellbar Bösen zurückgelassen.