KAPITEL 17

Feder

Der Montagmorgen begann wie alle anderen, der Wecker kreischte in mein Ohr, meine Hand donnerte auf den Schlummerknopf. Wenn Montagmorgen allgemein doch bloß ins Reich der Träume aus der Nacht zuvor verbannt und vergessen werden könnte. Aber nein, nicht doch, nicht Montag. Wenn Montag Schüler an der Carver Highschool wäre, er würde nie fehlen.

Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen, bloß um mich im nächsten Moment wieder in die Kissen fallen zu lassen, weil mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf schoss. Schule. Ich hatte den heute anstehenden Chemietest total vergessen und auch nichts dafür getan, und wir würden heute das Thema für einen Englischaufsatz bekommen.

Stöhnend schwang ich die Beine aus dem Bett. Warum hatte ich mir nicht so heftig den Kopf gestoßen, dass ich bis zum Abschluss krankgeschrieben wäre? Einzig der Gedanke an Garreth half mir auf die Füße und versetzte mich in die Lage, dem neuen Tag entgegenzutreten.

Ich duschte, zog mich an und trug mein eigenes, neu erworbenes Make-up auf. Mom hatte einen Freudentanz aufgeführt, als sie mitbekommen hatte, dass mein Experiment keine Eintagsfliege war.

In meinem Zimmer stand ich vor der Gardine und traute mich nicht, sie wie sonst aufzuziehen. Meinen Ohren nach war die Straße leer, kein weißes Auto wartete auf mich. Am Ende gewann die Macht der Gewohnheit die Oberhand, und ich zog verschämt die Gardine auseinander. Wie erwartet, kein weißes Auto weit und breit.

»In fünf Minuten gibt’s Frühstück!«, rief meine Mutter von unten aus der Küche.

In der Zeit, die mir blieb, bevor ich zum Bus musste, sah ich mir die auf meinem Computer gespeicherte Datei noch mal an. Ein glühendes Oktagramm erschien auf dem Bildschirm. Ich saß unbeweglich da und betrachtete die doppelten Quadrate. Laut Garreth war das Hadrians Zeichen, aber ich war sicher, es woanders schon mal gesehen zu haben. Ein heftiges Déjà-vu-Gefühl überkam mich und irritierte mich zutiefst. Hatte ich das in Mathe schon mal zu sehen bekommen? Frustriert machte ich die Datei zu und den Computer aus. Dann warf ich mir den Rucksack über die Schulter.

Das Jucken in meiner Hand war unerträglich geworden. Ich sah nach.

Igitt.

Über die Innenfläche meiner Hand zog sich eine dicke, geschwollene Linie. Mit meinen kurzen Nägeln kratzte ich daran herum, passte aber auf, die hässliche Schwellung nicht aufzupulen. Ganz offensichtlich war ich neulich nachts im Wald mit irgendwelchen giftigen Pflanzen in Kontakt gekommen. Was hatten wir in unserem Medikamentenschrank? Da war doch sicher irgendeine Salbe, die diese weitere Erinnerung an die letzte Begegnung mit Claire heilen würde. Auf dem Weg ins Badezimmer blieb ich wie angewurzelt stehen.

Ein vertrautes Brummen war durch das Fenster zu hören.

Claire.

Der Schmerz in meinem Herzen schrie ihren Namen, aber ich schüttelte energisch den Kopf. Da konnte unmöglich ein weißes Auto stehen und auf mich warten. Trotzdem klang das Motorengeräusch bekannt. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Ich drehte mich um und rannte durch mein Zimmer zum Fenster. Mein Wunschdenken war ja nie sehr hilfreich, ich hatte wildes Herzklopfen, aber ich musste einfach nachgucken. Meine Pupillen weiteten sich in Erwartung der Farbe Weiß. Weiß war mein größter Wunsch. Nicht vorbereitet war ich dagegen darauf, wie hübsch Metallicgrau im Licht der Morgensonne aussehen konnte. Ich rannte aus meinem Zimmer zur Treppe und hatte die Salbe völlig vergessen.

Auf Zehenspitzen schlich ich dir Treppe runter und stand ungläubig in der Küchentür. Es war ja eins, draußen sein Auto zu sehen, aber meinen persönlichen Schutzengel dann höchstselbst in der Küche sitzend und mit meiner Mutter schwatzend zu erblicken, während sie sich Kaffee nachschenkte, war etwas ganz anderes.

»Hallo, Schatz. Du musst mir deinen Freund nicht mehr vorstellen, wie du siehst. Garreth hat sich gedacht, du würdest lieber mit ihm zur Schule fahren, wo du den Bus doch so sehr hasst.«

Meine Augen sahen die einzige Lichtquelle von Bedeutung im Zimmer an, die es sich auf dem Stuhl bequem gemacht hatte, auf dem ich sonst saß. Er lächelte dieses Lächeln, das nur für mich bestimmt war.

Ruhe breitete sich aus. Ich wusste, dass er dafür verantwortlich war, indem er sein Herz mit meinem in Einklang brachte und mich so beruhigte. Schon deswegen fühlte ich mich ihm näher als jedem anderen. Wessen Herz schlägt sonst im gleichen Rhythmus wie meins? Wer atmet gemeinsam mit mir? Oder besser, für mich?

»Das wäre echt nett, danke. Ist das in Ordnung, Mom? Dass Garreth mich mit zur Schule nimmt?« Das klang flehend. Hoffentlich merkte sie nichts.

»Natürlich. Ich bin froh, dass du gekommen bist, Garreth. Ich hatte Teagan schon gesagt, dass ich mich bei dir dafür bedanken möchte, dass du sie vorgestern Nacht mitgenommen hast. Ich bin froh, dass du für sie da warst. Sie ist etwas Besonderes für mich. Sie ist alles, was ich habe.«

»Gern geschehen. Sie haben recht, sie ist was Besonderes.«

Bei diesen Worten hatte ich gerade einen Schluck Orangensaft genommen, den ich schnell runterschlucken musste, um nicht loszuprusten.

»Wir müssen los. Schön, dass ihr zwei euch kennengelernt habt.« Ich griff meinen Rucksack, einen Toast und Garreths Arm und schleifte ihn aus der Tür.

»Hat mich gefreut, Garreth«, rief Mom uns nach, während ich vor ihm her zum Jeep hastete.

Wir fuhren schweigend, bis ich nicht länger an mich halten konnte.

»Du hättest mich echt warnen können!«

»Tschuldige, es sollte eine Überraschung werden. Aber wenn’s dir lieber ist, kann ich deinen Bus noch einholen. Der 4E, stimmt’s?«

Darüber musste ich lachen und vergaß, woran ich gerade gedacht hatte. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe herein und brachte seine blonden Strähnen zur Geltung. Er sah geradeaus auf die Straße. Ich ließ meinen Blick von seinem perfekten Profil über die glatte Haut in seinem Nacken wandern, wo der Weihrauchgeruch am stärksten war, den Arm hinab zum lose aufgerollten Hemdsärmel am Handgelenk und zu seiner kräftigen und feingliedrigen Hand.

»Was machst du da?«, fragte er lachend.

»Ich will dich im Gedächtnis behalten.« Meine Stimme brach.

Er war hier. Bei mir. Jetzt. Trotzdem wurde ich das schreckliche Gefühl nicht los, das mich am Ende eines jeden Tages überkam. Mit jedem Tag kam der gefürchtete Abschied näher.

»Das brauchst du nicht.«

»Doch. Bald gehst du weg.«

»Ich gehe nicht von dir weg. Du kannst mich dann bloß nicht mehr so sehen wie jetzt.« Ein Anflug von Reue lag auf seinem Gesicht. »Vielleicht war es keine so gute Idee, hierherzukommen.«

Darauf sprang ich sofort an. »Wie meinst du das?«

»Es war egoistisch von mir, bei dir aufzutauchen. Ich habe eine Kardinalsregel gebrochen.«

»Als da wäre?« Verzweiflung machte sich in mir breit.

»Meine Bedürfnisse an erste Stelle zu setzen, vor deinen Schutz. Ich habe dich in Gefahr gebracht, Teagan. Ich wollte so gerne bei dir sein, dass ich alles, was geheim und heilig ist, beiseitegeschoben habe. Dass du jetzt von Hadrian weißt, bringt dich in noch größere Gefahr als vorher.«

»Aber hätte er mich nicht sowieso gefunden? Wegen der Blutsverwandtschaft?«

Er starrte weiter geradeaus, obwohl wir schon auf dem Parkplatz der Schule standen, den Garreth seit seinem Auftauchen in Beschlag genommen hatte.

»Ja, er hätte dich sowieso gefunden. Aber ich fühle mich eben verantwortlich, als hätte ich ihn zu dir geführt … früher als sonst. Und während deine Kraft wächst, wird Hadrian immer aggressiver.«

Ich konnte nur hoffen, dass Hadrian uns nie angreifen würde. Ich konnte und wollte mir Garreth nicht als Teil einer Armee entmachteter Schutzengel vorstellen, die hilflos zusahen, wie ihre Schützlinge manipuliert wurden. Ich pulte an den Resten meiner Fingernägel herum, als er meine Hand nahm.

»Es wäre sicherer gewesen, dich in meiner normalen Form zu führen. Ich kann nicht aufhören, dich zu beschützen, Teagan. So bin ich. Aber meine Gefühle für dich haben das Unausweichliche nur beschleunigt. Du bist jetzt Hadrians ärgster Feind. Du hast die Macht, ihn zu zerstören.«

Ich lehnte mich an ihn. Meine Augen schlossen sich sekundenlang, dann schrillte die Klingel über den Parkplatz.