KAPITEL 9

Feder

Bei diesem Namen lief mir ohne erkennbaren Grund ein Schauer über den Rücken. Auf meinen Armen prickelte es, ich bekam eine Gänsehaut.

Hadrian.

Warum reagierte ich so heftig auf einen Namen, den ich noch nie im Leben gehört hatte? Garreth sah mich mit einem Blick an, der mich verstörte und verängstigte.

Meine Hand suchte sich ihren Weg zurück in die Sicherheit und Wärme der seinigen. Mit Furcht im Herzen fragte ich: »Wer ist Hadrian?«

Garreth biss die Zähne zusammen. Ich beobachtete ihn verzagt.

»Ein schwarzer Engel.« Seine sonst weiche Stimme klang viel rauer, und er senkte den Kopf.

In dem Moment packte mich riesige Angst. Gleichzeitig überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, was mich noch mehr in Panik versetzte. Das Gefühl aus den Träumen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Das Gefühl, das ich an der Busspur gehabt hatte.

Soweit ich wusste, gab es nur einen schwarzen Engel, und bei diesem Gedanken standen mir die Haare zu Berge.

»Ist das …?«

»Nein. Aber glaub mir, er ist genauso todbringend, vielleicht sogar noch ein bisschen schlauer. Hadrian war ursprünglich ein Schutzengel, wie die anderen Engel. Je größer die Nähe zu seinem Menschen wurde, ähnlich wie bei uns, desto mehr interessierte ihn, was Angst, Ärger und Hass in eurer Welt anrichten. Das hat ihn fasziniert. Er war … wie soll ich das sagen? ›Verzückt‹ beschreibt es vielleicht am besten – von der menschlichen Psyche.«

Ich setzte mich auf den gebogenen Stamm eines umgefallenen Baumes und hörte gebannt zu.

»Als der Reiz des Neuen verflog, wollte er mehr. In ihm hatte sich ein dunkler Kern gebildet. Hadrian wurde mit den besten Absichten geschaffen, aber die Gier nach Macht hat ihn überwältigt. Anhand seiner menschlichen Studienobjekte entdeckte er, dass es viel einfacher ist, sich dem Chaos hinzugeben, als es zu bekämpfen. Diese Erkenntnisse wollte er dann an einer ganz anderen Gesellschaft austesten. An einer verborgenen Gesellschaft, die unangreifbar schien, und die er nur zu gut kannte.«

»Andere Engel?«, riet ich und versuchte nachzuvollziehen, wie jemand, der so rein und gut war, so verdorben werden konnte.

»Ja. Wenn es ihm gelingt, die anderen Schutzengel zu unterwerfen und unter seine Kontrolle zu bringen, dann hat er gesiegt. Dann herrscht er über die mächtigste Armee, die es gibt, über eine Armee verwundbarer, ungeschützter Menschen, über die er frei verfügen kann.«

»Aber kann Gott ihn nicht aufhalten?« Wie war denn das möglich? Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge war, dann dürfte so was doch nicht passieren.

»Es ist vorhergesagt, dass es im Himmel noch einen zweiten Krieg geben wird. Der erste war der Krieg der Erzengel, nach dem Luzifer verbannt wurde. Luzifer kann die Menschen auf der Erde beeinflussen und ihren Willen nach seinen Wünschen formen. Verstehst du, ein Engel ist so eine Art Direktverbindung zum eigenen Unterbewusstsein. Wir sind Meister darin, es anzuzapfen. Der Himmel liegt hier.«

Garreth legte seinen Finger in die Mitte meiner Stirn. Augenblicklich fühlte ich wieder eine kühle Brise, wie gestern im Park. »Pass gut auf, wenn du das nächste Mal eine leise Stimme in deinem Kopf hörst, die dir sagt, wo es langgeht. Vielleicht spricht da jemand anders.«

Und dabei schenkte er mir ein breites Lächeln, das zwar etwas schmerzerfüllt wirkte, aber trotzdem die Sonne ausschaltete.

»Hadrians Ziel ist es, Kontrolle über die Engel zu erlangen. Damit kann er letztendlich das Verhalten der Menschen auf der Erde verändern. Das ist eine Art Dominoeffekt, er setzt fort, was Luzifer in Gang gebracht hat. Hadrian hat einen enormen Vorteil. Er verfügt über das Wissen eines Schutzengels.«

»Dann ist der Himmel also kein Ort? Und ich dachte, da wäre alles glitzernd und weiß.« Ich sah hinauf zu den Baumspitzen, die die Sicht auf den blauen Himmel völlig blockierten.

»Der Himmel liegt in einem selbst. Dort findet deine Seele Zuflucht. Aber Hadrian hat die Macht, die Psyche zu beeinflussen. Er missbraucht seine Macht als Schutzengel.«

»Aber wehrt sich Luzifer denn nicht dagegen?«

»Das sollte man meinen. Aber genau das ist ja der Kick für Hadrian, seine ewige Gier nach mehr. Klar wird Luzifer sich irgendwann gegen Hadrian stellen, ganz ohne Frage. Aber bis dahin macht Hadrian vor nichts und niemandem halt, um sein Ziel zu erreichen.«

»Nämlich Kontrolle über die Schutzengel zu erlangen?«, fragte ich, nachdem ich endlich kapiert hatte.

Garreth sah nachdenklich in die Ferne. »Um so die Menschen auf der Erde zu manipulieren.«

Garreth konnte einem leidtun. Er beschützte mich, aber wer beschützte ihn? Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Innerlich wurde mir eiskalt. Mein Herz raste bei der Erinnerung an die Albträume und das merkwürdige Flattern in meinem Zimmer, wenn ich schlafen wollte. Ich hatte gehofft, Garreth käme vorbeigeflattert, um nach dem Rechten zu sehen, wenn ich schlief. Wer hätte es sonst sein sollen? Mit Mühe hatte ich die Erinnerungen verdrängt, die jetzt wieder an die Oberfläche schossen, als mein Unterbewusstsein die Puzzleteile zusammensetzte.

Ich wusste sofort, wem die schwarzen Flügel in der Ecke meines Schlafzimmers gehörten. Mein Bewusstsein hatte dagegen angekämpft. Garreth hatte sein Geheimnis schließlich nicht hinter einem Schleier aus Schatten versteckt, sondern sich mir in einem himmlischen Lichtschein offenbart.

Die nächsten Worte brachte ich kaum über die Lippen. »Du hast gesagt, die Dunkelheit hat viele Gesichter.«

Garreth war einen Moment lang still.

»Du bist anders als andere Menschen, Teagan. Du spürst, wenn ich da bin, und das gibt dir eine magnetische Anziehungskraft. Erinnerst du dich an den Augenblick, unmittelbar bevor du am Bordstein gestolpert bist? Was hast du da gesehen?«

»Da war was Schwarzes, Wolkenartiges. Wie eine fette Auspuffwolke, aber sie kam nicht von den Bussen.« Ich stocherte in meiner Erinnerung. »Ich hab so was noch nie gesehen.« Ich schüttelte den Kopf, wollte mich erinnern und die Erinnerung gleichzeitig vermeiden.

»War das …?«

»Ja. Hadrian.«

Ich zitterte am ganzen Körper. »Er will, dass ich ihn zu dir bringe, stimmt’s?«

Das war zu viel. Ich wollte es nicht glauben, aber so war es. Wir waren echt das perfekte Paar. Die Tränen flossen, und ich wischte sie wütend weg. Engel sind an Gefühle gewöhnt, aber für mich war Garreth immer noch ein Junge, und es war ganz ausgeschlossen, vor ihm zu heulen.

Garreth lehnte sich vor und stützte den Kopf in die blassen Hände. Er seufzte. »Hadrian ist hinter dir her. Du bist anders als die anderen Menschen, die er für seine Armee sammelt. Ich steh bloß im Weg.«

»Inwiefern bin ich anders?«

»Warum, meinst du, ist Hadrian bereit, sich jemand so Unheilvollem wie Luzifer entgegenzustellen?«

Ich schwieg. Er schien meiner Frage auszuweichen.

»Hadrian ist Luzifers Zwilling.«

»Dann liegt’s wohl in der Familie«, war mein Versuch, die Stimmung etwas aufzuhellen.

»Nicht ganz. Luzifer wurde aus dem Himmel verbannt, bevor er ein Schutzengel werden konnte. Er hat sich geweigert. Hadrian dagegen war zunächst einmal der gute Bruder. Der weiße Bruder, Luzifer, war seine schwarze Hälfte. Er hat das so gewollt.«

Ich verstand die einzelnen Worte, aber sie ergaben im Zusammenhang wenig Sinn. Jetzt rächte sich, dass ich in all den Jahren im Religionsunterricht nicht besser aufgepasst hatte.

Garreth fuhr fort: »Du weißt ja, dass Luzifer ursprünglich ein Erzengel war, genau wie sein Bruder Hadrian.«

Ich nickte, war aber nicht sicher.

»Das Wesen des Erzengels geht auf seinen menschlichen Schützling über, wie auf einen Blutsverwandten. Du bist unsere Hoffnung, Hadrian aufzuhalten.«

Das hatte ich ganz und gar nicht erwartet. Und auch das war mal wieder kaum zu glauben.

»Aber du bist kein Erzengel, oder?«

»Ich wünschte, ich wäre einer, dann hätte ich Macht über die Dunkelheit. Aber du, ob du’s glaubst oder nicht, bist stärker als ich.«

»Ich? Wie denn?« Ich suchte nach Worten.

Unsere Blicke fanden sich stillschweigend, und ich wusste genau, was jetzt kommen würde. Ich konnte es fühlen.

»Hadrian war der Schutzengel deines Vaters. Also liegt es an dir, ihn zu vernichten.«