KAPITEL 8

Feder

Vielleicht war es eine optische Täuschung, oder vielleicht manifestierte sich hier etwas, das ich in meinem Unterbewusstsein unterdrückt und verdrängt hatte. Ich hätte tausend verschiedene Erklärungen finden können, aber hier stand die Wirklichkeit leibhaftig vor mir.

Da stand Garreth, eingerahmt von einem Paar herrlicher schneeweißer Flügel. Sie führten in einem Bogen von seinen Schultern aus nach oben und bestanden aus weichen, weißen Federn. Fast meinte ich, sie wie Samt in meinen Fingern zu spüren. Die Flügel führten an seinen starken Armen vorbei nach unten zu den Glassplittern auf dem Boden. Er war unbeschreiblich schön, aber gleichzeitig von einer Aura der Unverwundbarkeit umgeben, von der Kraft der Unsterblichkeit, die mich in Ehrfurcht versetzte.

»Du bist ein …« Das Wort blieb mir im Hals stecken.

»Ja.«

Ich stand mit offenem Mund da. Das hier war zwar völlig unglaublich, aber ich glaubte es. Ich sah zu ihm auf, auf einmal ergab alles einen Sinn. Wie oft wäre es schon aus mit mir gewesen, wenn ich nicht unter dem permanenten Schutz meines Engels gestanden hätte?

Mein Engel.

Jede Zelle in meinem Körper, jeder Milliliter Blut in meinen Adern verarbeitete in diesem einen Moment dieses neue Wissen. Die Zeit stand still in der winzigen Kapelle, in der wir umgeben waren von den Bäumen, den Steinen, der Stille und vor allem: von der Wahrheit.

»Glaubst du jetzt, dass ich real bin? Dass ich für dich genau so real bin wie jedes andere Lebewesen in diesem Wald?«

Ich nickte. Langsam falteten sich die schimmernden Flügel zusammen und verschwanden wieder im Verborgenen.

Der so wirklich wirkende Traum mit ihm kam mir wieder in den Sinn. Ich griff nach seiner rechten Hand, er ließ es geschehen. Zwischen uns war eine Grenze gefallen.

Ich drehte seine Handinnenfläche nach oben. Ich wusste, was ich da finden würde. Mein Traum hatte sein Himmelszeichen klar gezeigt. Lebenslinie, Schicksalslinie, Herzlinie, Venusberg, all das, was man in einer Hand, einer menschlichen Hand, erwarten würde, gab es nicht in seiner. Dort formten die Linien einen vollständigen Kreis mit acht Spitzen. Ein Oktagramm.

»Und das hier?« Ich sah wieder auf seine Hand. »Was bedeutet das?«

»Das ist das Symbol der Wiedergeburt. Durch den Achterstern kann ich dir durch die Unendlichkeit folgen. In dem Moment, als du erschaffen wurdest, bekam ich die Aufgabe, dich zu beschützen und zu leiten. Ich hätte nie geglaubt, ich würde mal …« Er sah mir tief und liebevoll in die Augen, als wenn er etwas lang Verlorenes oder Vermisstes wiedergefunden hätte. Mit diesem Blick hatte er mich bei unserer ersten Begegnung auf dem Schulhof und seither immer wieder angesehen.

Er blickte kurz zur Seite, als ob die Worte, die er suchte, vielleicht dort auf den Steinen an der Wand eingemeißelt sein könnten.

Instinktiv machte ich einen Schritt auf ihn zu.

»Teagan, das ist alles Neuland für mich«, sagte er vorsichtig. »Engel werden normalerweise als Boten Gottes angesehen. Wir symbolisieren Hoffnung. In uns nimmt die reinste Form der Liebe Gestalt an, aber dass wir jemanden lieben, wie ein Mensch einen anderen liebt … das hat es noch nicht gegeben. Und genau das fühle ich für dich.«

Diese Enthüllung schlug bei mir mit der Kraft von mehreren Meteoriten ein. Ich traute meinen Ohren kaum. Langsam sickerte ein, was er gesagt hatte, nichts auf der Welt hätte mich davon abgehalten, seinen Worten zu glauben. Ein Engel, mein Engel, Garreth … liebte mich. Die Worte trieben in meinem Hirn hin und her, schwebten von hier nach dort. Mit dem bisschen an Fingernägeln, das ich noch hatte, kratzte ich über die Innenflächen meiner eigenen Hände. Ich wollte sichergehen, dass ich noch was spürte, weil diese Situation ganz klar völlig unwirklich war.

Als würde er mein inneres Chaos wahrnehmen, machte Garreth einen Schritt zurück. »Du musst meine Gefühle nicht erwidern. Du musst mich nicht auch lieben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich fühle etwas, ich … weiß nur noch nicht, was. Das kommt alles so plötzlich. Bitte sei jetzt nicht enttäuscht.«

Garreth schloss die Lücke zwischen uns mit einem Schritt und nahm mich in die Arme. Er küsste mich auf die Stirn und sagte: »Du könntest mich niemals enttäuschen, Teagan.«

Sein Geständnis überstieg meine kühnsten Träume, vor allem, weil da nicht irgendein stinknormaler Junge seine Gefühle für mich offenbarte. Garreth war alles andere als stinknormal. Während er mich umarmt hielt, ließ ich seine Worte sacken. Er war einfach ein Wunder. Und dann überwältigte mich das ganze süße Gefühl erst richtig. Ich gehörte zu ihm, und umgekehrt gehörte er auch zu mir. Das ließ sich mit nichts vergleichen – ein unverbrüchliches Band, vor langer Zeit im Himmel geschaffen, geschlossen und geknüpft für alle Ewigkeit.

»Dich zu beschützen ist, wie einen anderen Engel zu behüten. Dein Herz ist so rein.« Sanft schob er mir die Haare aus den Augen.

Ich lächelte ihn an. Seine Augen fingen das sanftgoldene Licht ein. Er wirkte ein wenig nervös nach all den Offenbarungen, als ob er Angst hätte, dass ich ein für ihn so unbekanntes Gefühl vielleicht nicht erwidern würde. Ein nervöser Engel. Das war echt komisch. Vor mir stand eine reine Seele aus Liebe und Licht und fragte sich, ob ich sie lieben könnte. Im Stillen wusste ich sowieso schon, dass er die Erfüllung all meiner Wünsche war. Er war perfekt, aber ich hatte Angst, dass am Ende doch alles ein Traum war, dass mein Instinkt, mich blindlings fallen zu lassen, mich irregeleitet hatte. Dass alles ein Fehler war.

»Warum bist du gerade jetzt in meinem Leben aufgetaucht? Vor nur drei Tagen hatte ich noch keine Ahnung …« Ich schüttelte staunend den Kopf, nahm seine Hand und zeichnete mit dem Finger den Stern auf seiner Haut nach.

»Ich konnte nicht anders, als mich in deine Welt ziehen zu lassen. Ich konnte nicht länger außen vor bleiben«, flüsterte er an meiner Wange.

Garreth führte mich zu einer kleinen Bank neben dem Altar.

»Aber erklär mir deine Welt. Meine kennst du, du bist hier … du beobachtest mich jeden Tag.« Ich lehnte mich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ich wollte unbedingt mehr über sein unsichtbares Reich wissen, das so unauffällig mitten in meiner Welt lag. Das war faszinierend. »Der hier zum Beispiel. Ich will alles darüber wissen.« Ich nahm wieder seine Hand, drehte sie um und zog die Linien des Sterns mit dem Finger nach.

»Grob gesagt steht jede Spitze des Sterns für ein Leben. Du hast jetzt in deiner Existenz die Spitze des Richterspruchs erreicht, also den Punkt, an dem sich der Kreis deiner Bestimmung schließt und der das Oktagramm vollendet.«

»Richterspruch?«, fragte ich.

»Genau. Du erfährst deine Bestimmung. Der Kreis schließt sich, und dein Stern ist vollendet.«

Ich sah meine eigene, ganz gewöhnliche und lächerlich menschliche Hand an, mit angeknabberten Fingernägeln und eingerissenen Nagelbetten, und versuchte die Gefühle zu verbergen, die in mir brodelten.

»Und was kommt danach?«

»Kommt drauf an«, sagte Garreth.

»Heißt das, ich werde bald sterben?«, flüsterte ich.

Garreth hob mit einem Finger mein Kinn an und legte den Kopf schief. »Nein, du wirst nicht sterben. Glaub mir, das Universum hat Großes mit dir vor.«

»Aber wenn das jetzt mein letztes Leben ist … bist du danach noch bei mir? Wenn es vorbei ist?«

»Höchstwahrscheinlich, aber ich hab das auch noch nie gemacht. Ich bin dein Schutzengel.«

Das war alles so schwer verdaulich. Gut, dass Garreth da war.

»Egal wie, du bist mein Engel, und du bist jetzt hier bei mir.«

Aber statt des erwarteten strahlenden Lächelns machte er ein sorgenvolles Gesicht. Hinter dem ruhigen, blauen Spiegel erkannte ich etwas, das tiefer lag.

»Was ist los?«, fragte ich langsam.

»Ich kenne dich schon so lange, dass dein Leben praktisch mein eigenes ist. Ich habe mich bemüht zu akzeptieren, dass du meine Schutzbefohlene bist und nichts anderes …, aber es ging nicht.«

In seinen strahlend blauen Augen lag auf einmal ein Ausdruck, den ich nicht benennen, und in seiner Stimme eine Schärfe, die ich nicht erklären konnte.

»Ich habe um etwas nahezu Unmögliches gebeten.« Er klang nachdenklich. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: »Wenn mir ein Moment gegeben würde, um dich kennenzulernen, und damit du mich kennenlernen kannst, innerhalb von acht Tagen, dann wäre meine Pflicht als dein Schutzengel wirklich erfüllt.«

»Acht Tage?« Das war alles? Ich rechnete schnell nach. Noch fünf Tage übrig. Wie sollte mein Herz danach weiterschlagen? Endlich verstand ich, warum ich mich immer so beschützt fühlte, wenn er da war, warum er mir so vertraut vorkam. Meine Seele erkannte meinen Beschützer, meinen Schutzengel. Und den sollte ich wieder verlieren? Beim ersten Blick in der Schule hatte ich gewusst, dass sich mein Leben von Grund auf ändern würde. Und jetzt war da noch so viel mehr: die Wahrheit darüber, was er war, wer er war – was wir füreinander waren. Das würde ich nicht wieder aufgeben.

Noch nicht.

»Warum nur acht Tage?«, fragte ich. Das reichte bei Weitem nicht.

Garreth sah mich durchdringend an und nahm meine Hände zwischen seine. »So wie jede Spitze des Achtersterns für eine Wiedergeburt steht, zählt jeder Tag, den ich hier mit dir verbringen darf, wie ein Leben. Das Leben im Allgemeinen dreht sich um die Zahl acht, dem universellen Symbol für die Unendlichkeit. Mehr ist mir nicht gegeben«, flüsterte er sanft und ein wenig traurig.

Ich rutschte näher an ihn ran, mein Körper hatte das dringende Bedürfnis, noch die kleinste Lücke zwischen uns zu schließen. Aus der Nähe sah ich den Blick in seinen Augen, die zuckenden Kiefermuskeln, als er über seine nächsten Worte nachdachte.

»Ich bin zu dir gekommen, damit du verstehen lernst, dass es kein Licht ohne Dunkelheit geben kann. Die Welt kann nur mit beidem bestehen. Anders könnte sie nicht überleben. Und egal, wie friedlich und sicher wir die Welt machen, das Licht ist nicht immer gleich stark … es ist nicht narrensicher.«

Ich gab mir Mühe, wieder normal zu atmen, obwohl ich nicht darüber hinwegkam, dass uns nur so wenig Zeit blieb. Und da erging er sich in kryptischen Erklärungen über Licht und Dunkelheit? Ich war völlig durcheinander.

Garreth küsste mich sanft auf die Stirn und führte mich nach draußen.

»Die Dunkelheit hat viele Gesichter. Es ist Zeit, dass du von Hadrian erfährst.«