26

Es war noch ziemlich früh – mehrere Stunden vor dem Sonnenaufgang, schätzte Sperber –, als Mirtai das königliche Schlafgemach wie immer, ohne anzuklopfen, betrat. »Ich glaube, Ihr solltet lieber aufstehen«, sagte die Riesin.

Sperber setzte sich auf. »Was ist los?«

»Eine ganze Flotte nähert sich der Stadt«, erwiderte Mirtai. »Oder die Delphae haben gelernt, auf dem Wasser zu wandeln. Am östlichen Horizont brennen genug Laternen, um eine Kleinstadt zu beleuchten. Zieht Euch an, Sperber. Ich wecke inzwischen die anderen.« Sie drehte sich abrupt um und verließ das Gemach.

»Ich wünschte, sie würde lernen anzuklopfen!« brummte Sperber und schlug die Decke zurück.

»Du bist derjenige, der immer nachsehen sollte, ob die Türen verschlossen sind«, erinnerte ihn Ehlana. »Glaubst du, es gibt Probleme?«

»Keine Ahnung. Hat Sarabian was davon erwähnt, daß er eine Flotte erwartet?«

»Nicht mir gegenüber.« Auch Ehlana stand auf.

Sperber griff nach seinem Umhang. »Es ist nicht nötig, daß du dich auch ins Freie begibst, Liebling. Es ist kalt oben auf dem Wehrgang.«

»Ich möchte selbst sehen, was los ist.«

Sie verließen das Schlafgemach. Prinzessin Danae hatte sich ebenfalls eingefunden. Mit einer Hand rieb sie sich die Augen, mit der anderen zog sie Rollo hinter sich her. Stumm trippelte sie zu Sperber, der sie geistesabwesend auf den Arm hob.

Sie gingen über den Korridor und stiegen die Treppe zum Turm hinauf.

Kalten und Sarabian standen an der Ostseite des Turms und blickten durch die Zinnen zu den unzähligen Lichtern am Horizont.

»Habt ihr eine Ahnung, wer das sein könnte?« fragte Sperber, als er sich mit seiner Familie zu den beiden gesellte.

»Nicht die geringste«, antwortete Kalten.

»Könnten es die tamulischen Seestreitkräfte sein?« fragte Ehlana den Kaiser.

»Das wäre natürlich möglich«, erwiderte Sarabian. »Doch in diesem Fall würden sie keinem Befehl folgen, mit dem ich sie gerufen hätte.«

Sperber trat unbemerkt ein paar Schritte zurück. »Wessen Schiffe sind das?« fragte er seine kleine Tochter leise.

»Das sag' ich dir nicht, Schätzchen«, ahmte sie Caalador nach.

»Hör auf damit! Ich möchte wissen, wer das da draußen ist.«

»Das wirst du schon herausfinden. In…« Sie blinzelte zu den Lichtern am Horizont. »… in etwa zwei Stunden, schätze ich.«

»Ich will wissen, wer das ist!« beharrte er.

»Ja, das seh' ich. Aber wollen heißt nicht auch bekommen, Vater. Und ich sag's dir nicht!«

»O Gott!« stöhnte er.

»Ja?« fragte sie mit Unschuldsmiene. »Ist noch was?«

Der Morgen kam mit einem rostfarbenen Sonnenaufgang. Kein Lüftchen wehte, und der Rauch aus den Schornsteinen der schimmernden Stadt hing unbewegt in der Luft, so daß die Lichter im Osten dahinter verschwammen. Sperber und die anderen Ritter weckten die atanische Garnison; dann schlüpften sie in ihre Rüstung und ritten zum Hafen.

Es schien sich um cammorische Schiffe zu handeln, jedoch mit zusätzlichen Ruderbänken an den Längsseiten.

»Da war jemand in großer Eile, hierher zu gelangen«, bemerkte Ulath. »Ein cammorisches Schiff schafft mit gutem Rückenwind neunzig Meilen am Tag. Mit zusätzlichen Rudern kann man es auf hundertfünfzig bringen.«

»Wie viele Schiffe sind es?« Kalten kniff die Augen leicht zusammen und spähte zu der näher kommenden Flotte.

»Knapp hundert«, antwortete der hünenhafte Thalesier.

»Auf hundert Schiffen kann man eine Menge Krieger befördern«, meinte Sarabian.

»Genug, um mich nervös zu machen, Majestät«, gestand Vanion.

Doch als die ersten Galeeren im Hafen einliefen, hißten sie die rot-goldenen Standarten der Kirche von Chyrellos, und als das Flaggschiff nahe genug war, erblickte Sperber zwei Bekannte an der Bugreling. Der eine hatte breite Schultern und einen muskulösen Oberkörper; ein erfreutes Grinsen lag auf seinem runden Gesicht. Der andere war klein und sehr füllig. Auch er grinste.

»Was hat euch so lange aufgehalten?« brüllte Ulath über das Wasser.

»Standesdünkel!« rief Tynian zurück. »Ritter werden als Edelleute erachtet, und als solche protestierten sie dagegen, zum Frondienst als Ruderer eingespannt zu werden.«

»Ihr habt die Ruder mit Rittern bemannt?« rief Vanion ungläubig.

»Es gehört zu unserem neuen körperlichen Ertüchtigungsprogramm, Hochmeister Vanion«, erklärte Patriarch Emban, nun nicht mehr so laut, da das Schiff bereits viel näher war. »Erzprälat Dolmant hatte festgestellt, daß die Soldaten Gottes verweichlichten. Sie sind jetzt in einer viel besseren körperlichen Verfassung als vor unserer Abreise von Sarrinium.«

Das Schiff legte nun vorsichtig am Kai an, und die Seeleute warfen den Rittern die schweren Taue zum Festmachen zu.

Tynian sprang hinüber. Emban bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick und watschelte mittschiffs, um zu warten, bis der Laufsteg ausgefahren wurde.

»Wie geht's deiner Schulter?« fragte Ulath den breitgesichtigen Deiraner.

»Viel besser«, antwortete Tynian. »Sie schmerzt eigentlich nur noch bei feuchtem Wetter.« Er grüßte Vanion schneidig und meldete: »Komier, Darellon und Abriel führen die Ordensritter von Chyrellos gen Osten. Patriarch Bergsten ist bei ihnen. Patriarch Emban und ich kamen – wie nicht zu übersehen ist – mit den Schiffen voraus. Wir dachten uns, noch ein paar zusätzliche Ritter könnten hier in Matherion recht nützlich sein.«

»Und ob, Ritter Tynian! Wie viele habt Ihr dabei?«

»Fünftausend, Eminenz.«

»Das ist doch unmöglich, Tynian! So viele Männer und Pferde lassen sich auch beim besten Willen nicht auf hundert Schiffen verfrachten!«

»Das wurde auch uns beinahe schlagartig klar, Eminenz«, erwiderte Tynian. »Die Ritter waren schrecklich enttäuscht, als sie erfuhren, daß sie ihre Pferde nicht mitnehmen durften.«

»Aber Tynian!« wandte Kalten ein. »Sie brauchen Pferde! Ein Ritter ohne Pferd ist kein Ritter!«

»Es sind bereits Pferde hier, Kalten. Warum noch mehr herbringen?«

»Tamulische Pferde sind nicht abgerichtet.«

»Dann werden wir sie abrichten müssen, nicht wahr? Ich hatte einhundert Schiffe. Damit hätte ich fünfzehnhundert Ritter mit Pferden transportieren können oder fünftausend ohne Pferde. Betrachtet die zusätzlichen fünfunddreißighundert als Mitbringsel.«

»Wie habt ihr sie dazu gebracht, daß sie gerudert sind?« fragte Ulath.

»Mit Peitschen.« Tynian zuckte die Schultern. »Es gibt da einen gewissen Kapitän Sorgi. Er ist Binnenschiffer, und das mit dem Rudern war seine Idee.«

»Der gute alte Sorgi.« Sperber lachte.

»Du kennst ihn?«

»Sogar ziemlich gut.«

»Dann könnt ihr euch bald wieder über die guten alten Zeiten unterhalten. Sein Schiff ist da draußen inmitten der Flotte. Wir wollten ja eigentlich mit ihm fahren, aber Patriarch Emban hatte kein Vertrauen zu Sorgis Kahn. Er sieht so zusammengeflickt aus, als könnte er jeden Moment auseinanderfallen.«

»Es ist ziemlich alt. Ich glaube, Sorgi hat eine heimliche Wette mit sich selbst abgeschlossen, wer zuerst den Geist aufgibt – sein Kahn oder er.«

»Geistig ist Sorgi jedenfalls noch voll auf der Höhe. Als wir ihn fragten, wie sich eine höhere Geschwindigkeit aus den Schiffen herausholen ließe, schlug er den Einbau der Ruderbänke vor. Das wird sehr selten gemacht, weil dann die Ruderer bezahlt und verköstigt werden müssen und außerdem noch Platz für ihre Unterbringung erforderlich ist, der normalerweise für die Fracht benötigt wird. Ich hab' jedoch beschlossen, keine Fracht mitzunehmen, und Ordensritter brauche ich nicht zu bezahlen. Das hat wirklich recht gut geklappt.«

Einige Stunden später setzten sich wieder alle in Ehlanas Salon zusammen, um zu hören, was Emban und Tynian an Neuigkeiten aus Eosien zu berichten hatten.

»Ortzel bekam fast einen Schlaganfall, als Dolmant sämtliche Ritter aus Rendor zurückzog.« Emban hatte es sich – mit einem vollen Silberkrug in der fleischigen Hand – in einem weichen Sessel bequem gemacht. »Ortzels Herzensanliegen ist immer noch, die Rendorer an den Busen unserer Heiligen Mutter Kirche zurückzuholen. Dolmant war anfangs einer Meinung mit ihm, doch eines Morgens erwachte er offenbar mit einer vollkommen anderen Ansicht. Niemand kann sich seinen plötzlichen Sinneswandel erklären.«

»Er hat eine Botschaft erhalten, Emban.« Sephrenia lächelte. »Der Bote kann sehr beeindruckend sein, wenn er will.«

»Ach?«

»Es kam zu einer schlimmen Zwangslage, Eminenz«, erklärte Vanion. »Zalasta hatte seine Komplizen in Eosien beauftragt, die dortigen Anhänger der Kindgöttin Aphrael zu töten. Das brachte auch ihr Leben in Gefahr. Wir sprachen deshalb mit Setras, einem anderen der Jüngeren Götter. Er erklärte sich bereit, Aphrael einige seiner eigenen Anbeter zu leihen und veranlaßte seine Mitgötter, das gleiche zu tun. Dann begab er sich nach Chyrellos, um Dolmant zu bitten, Aphraels überlebenden Anhängern Zuflucht zu gewähren und Dolmant zu überreden, die Ordensritter hierherzuschicken. Offenbar hatte er mit seinen Überredungskünsten mehr Erfolg als Ihr und Tynian.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß sich ein styrischer Gott in die Basilika begeben hat?« rief Emban bestürzt aus.

»Jedenfalls hat er davon geredet.« Sperber rückte seine Tochter, die auf seinem Schoß saß, etwas näher an seine Brust.

»Noch nie war eine styrische Gottheit in der Basilika!«

»Da täuscht er sich«, flüsterte Prinzessin Danae ihrem Vater ins Ohr. »Ich war schon dutzende Male dort!«

»Ich weiß«, flüsterte Sperber zurück. »Aber Setras hat einen offiziellen Besuch abgestattet.« Er überlegte. »Allerdings hat er sich erst vor kurzem nach Chyrellos begeben«, murmelte er Danae ins Ohr. »Selbst mit Ruderern könnte Tynians Flotte Matherion nicht so schnell erreicht haben. Hast du dich wieder mal an der Zeit zu schaffen gemacht?«

Sie blickte ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Würde ich so was tun?«

»O ja, das würdest du wahrscheinlich.«

»Wenn du die Antwort schon kennst, warum stellst du dann überhaupt die Frage? Vergeude meine Zeit nicht, Sperber. Du weißt, ich bin sehr beschäftigt.«

»Die Lage in Lamorkand spitzt sich zu«, berichtete Tynian. »Graf Gerrichs Streitkräfte haben Vraden und Agnak im Norden eingenommen, und König Friedahl hat sich Hilfe suchend an die anderen Monarchen gewandt.«

»Wir werden uns in Kürze darum kümmern, Ritter Tynian«, versicherte Stragen. »Ich habe mich mit Platime in Verbindung gesetzt. Er bereitet alles für einen baldigen tödlichen Unfall vor, der Gerrich und die Barone treffen wird, die ihn unterstützen.«

Die Tür schwang auf und Berit trat mit Xanetia ein.

»Was habt Ihr herausgefunden, Anarae?« erkundigte Sephrenia sich angespannt.

»Unsere morgendliche Beobachtung hat sich gelohnt, kleine Mutter«, sagte Berit. »Zalastas Freund Ynak ist in der cynesganischen Botschaft aufgetaucht. Die Anarae konnte sein Gedächtnis sondieren. Ich glaube, wir kennen die gegnerischen Pläne ziemlich genau.«

»Die Anarae? Ist das die Dame mit der seltenen Gabe?« fragte Emban.

Vanion entschuldigte sich. »Oh, wo waren meine Manieren? – Anarae Xanetia, das sind Patriarch Emban von der Kirche von Chyrellos, und Ritter Tynian von Deira. Meine Herren, das ist Xanetia, Anarae des Volkes von Delphaeus.«

Tynian und Emban war die Neugier anzumerken, als sie sich vor Xanetia verneigten.

»Was führen unsere Freunde in der Botschaft im Schilde, Anarae?« fragte Sarabian.

»Es war nicht angenehm, in einem so verderbten Geist zu lesen, aber Ynaks Gedächtnis verriet sehr viel, Majestät. Wie wir bereits vermutet haben, war den geächteten Styrikern in Verel schon lange klar, daß die größte Bedrohung für ihr Komplott aus Eosien kommen würde. Sie wollten, daß Anakha nach Tamuli käme, aber nicht, daß er hunderttausend Ordensritter mitbrächte. Die Unruhen in Westtamuli sollen den Durchmarsch der Ritter verhindern. Alles andere ist unwesentlich. Die Angriffe der Trolle in Atan dienen nur dem einen Zweck, die Aufmerksamkeit vom tatsächlichen Geschehen abzulenken. Der Hauptangriff unserer Feinde wird aus dem Süden kommen. Schon jetzt überqueren cynesganische Truppen die ungeschützte Grenze, um sich Scarpas Streitkräften im Dschungel von Arjuna anzuschließen; außerdem stoßen Elenier aus Westtamuli mit Schiffen nach Südarjuna vor, um Scarpas wachsende Horden zu verstärken. Die Ablenkungsmanöver im Westen und in Atan dienen nur dazu, die kaiserlichen Streitmächte auseinanderzutreiben und so ihre Kampfkraft zu schwächen. Auf diese Weise wird Scarpa der Weg für den direkten Durchmarsch nach Matherion geebnet; er kann die Stadt erobern und belagern. Als Ynak und die anderen erfuhren, daß wir Zalasta entlarvt haben, waren sie äußerst bestürzt. Sie hatten damit gerechnet, daß er uns weiterhin mit Irreführung und falschen Ratschlägen Schaden zufügen würde.«

»Was beabsichtigten unsere Feinde mit der Belagerung Matherions wirklich, erhabene Xanetia?« fragte Emban nachdenklich. »Es ist eine recht hübsche Stadt, aber …« Er spreizte die Finger.

»Sie hofften darauf, die imperiale Regierung zwingen zu können, Anakha auszuliefern, indem sie bewiesen, daß Matherion sich in ernster Gefahr befand, Eminenz. Daß sie bereits verschiedene hohe Beamte hatten kaufen können, gab ihnen die Hoffnung, der Premierminister ließe sich zur Übergabe bewegen, damit Matherion verschont bliebe.«

Sarabian nickte. »Das wäre durchaus möglich gewesen. Pondia Subat hat nicht gerade viel Rückgrat, und Zalasta und seine vier Freunde sind äußerst geschickte Planer.«

»Jetzt hat Zalasta nur noch drei Freunde, Majestät.« Berit grinste. »Die Anarae erzählte mir, daß ein gewisser Ptaga vor einigen Tagen ordentlich auf die Nase gefallen ist.«

»Der mit den Vampirtrugbildern?« fragte Kalten. »Was ist ihm zugestoßen?«

»Darf ich es ihnen berichten, Anarae?« fragte Berit höflich.

»Ich habe nichts dagegen, Herr Ritter.«

»Nun, Ptaga war in Westtamuli, im Gebirge zwischen Sarna und Samar. Er fuchtelte mit den Armen und erschuf Trugbilder von Leuchtenden, um sie auf die dortige Bevölkerung zu jagen. Ein echter Delphae, der gerade die Gegend auskundschaftete, bemerkte es und schloß sich ihnen unauffällig an.« Berit grinste ein wenig boshaft.

»Und?« fragte Kalten ungeduldig. »Was ist passiert?«

»Ptaga begutachtete seine Trugbilder. Als er den echten Leuchtenden vor sich hatte, konnte nicht einmal Ptaga den Unterschied erkennen. Der delphaeische Kundschafter streckte die Hand nach ihm aus und berührte ihn. Ptaga wird nie wieder Trugbilder erschaffen. Als der Kundschafter die Gegend verließ, war Ptagas Körper fast vollständig zerfallen.«

»Ynok von Lydros ist außerordentlich bestürzt über das Ableben seines Kumpans«, fügte Xanetia hinzu, »denn ohne Ptagas Trugbilder müssen unsere Feinde nun echte Streitkräfte aufstellen.«

»Und das alles müssen wir in Betracht ziehen«, bemerkte Oscagne. »Die Ankunft von Ritter Tynian und Patriarch Emban mit fünftausend Rittern, das Ende dieser Trugbilder, welche die Bevölkerung terrorisierten, und unsere Kenntnis des geplanten Angriffs aus dem Süden ändern die gesamte strategische Lage.«

»Allerdings«, pflichtete Sarabian bei.

»Ich finde, wir sollten diese neue Entwicklung in unsere Pläne mit einbeziehen, Majestät.«

»Das werden wir auch, Oscagne.« Sarabian blickte nachdenklich zu Sperber. »Könnten wir Euch bitten, Euch nach Atan zu begeben und Betuana hierherzubringen, alter Junge? Wenn wir die Änderung unserer Pläne besprechen, sollte sie dabeisein. Betuana ist größer als ich, und ich will sie keinesfalls beleidigen, indem ich sie aus unserer Besprechung ausschließe.«

Betuana, Königin der Ataner, herrschte mehr oder weniger statt ihres Gemahls. König Androl war ein gewaltiger Krieger und wie kein anderer von sich überzeugt. Er war so gewaltig, daß die üblichen Schwierigkeiten eines Feldherrn – beispielsweise das Problem, gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Gegner kämpfen zu müssen – völlig unverständlich für ihn waren. Männer, die unterbewußt vollkommen von ihrer Unbesiegbarkeit überzeugt sind, geben selten gute Generale ab. Andererseits war Betuana eine hervorragende Heerführerin, vielleicht die beste der Welt, und in der eigenartigen atanischen Gesellschaft, die keine Unterschiede der Geschlechter kannte, hatte sie alle Möglichkeiten, diese Begabung zu vervollkommnen.

Die Überlegenheit seiner Gemahlin störte Androl keineswegs; er war im Gegenteil unendlich stolz auf sie. Sperber vermutete, daß es Betuana insgeheim umgekehrt lieber gewesen wäre, doch sie war realistisch.

Außerdem hatte sie ein so großes Vertrauen zu Sperber, daß es ihn beinahe bestürzte. Sorgfältig hatte er sich viele Erklärungen zurechtgelegt, zum Beispiel über die Notwendigkeit des Kriegsrats oder die Art und Weise, wie ihre Reise vonstatten ging. Doch alle Erklärungen erwiesen sich als völlig unnötig. »Ist gut«, hatte Betuana erwidert, als Sperber ihr gesagt hatte, daß Bhelliom sie binnen eines Augenblicks nach Matherion bringen würde.

Er blinzelte überrascht. »Wollt Ihr denn keine Einzelheiten wissen, Majestät?«

»Warum Zeit mit Erklärungen vergeuden, die ich sowieso nicht verstehen würde, Sperber-Ritter.« Sie zuckte die Schultern. »Euer Wort genügt mir, daß der Edelstein uns nach Matherion bringen kann. Ihr habt keinen Grund, mich zu belügen. Gebt mir ein paar Minuten, damit ich Androl Bescheid sagen und mich umkleiden kann. Meine Arbeitskleidung bringt Sarabian-Kaiser stets ein wenig aus der Fassung.« Sie blickte auf ihre Rüstung.

»Sarabian hat sich ziemlich verändert, Majestät.«

»Das hat mir Norkan auch gesagt. Ich bin neugierig, selbst einmal zu sehen, inwieweit Eure Gemahlin ihn verändert hat. – Ich bin gleich zurück.« Sie schritt aus dem Gemach.

»Ihr werdet Euch schon daran gewöhnen.« Khalad lächelte. »Betuana ist sehr direkt und verschwendet keine Zeit damit, Fragen über Dinge zu stellen, die unwesentlich für sie sind. Sie ist wirklich sehr unkonventionell.«

Botschafter Norkan war nervös, doch sowohl Kring wie Engessa standen in ihrer Gelassenheit der Königin nicht nach.

»Gott!« rief Kaiser Sarabian, als der flüchtige Nebel schwand und die atanische Gegend durch den vertrauten blauen Teppich, die leicht windbewegten Vorhänge und die schillernden Wände des königlichen Salons in Ehlanas Burg ersetzt wurden. »Gibt es denn keine Möglichkeit, daß Ihr Euer Kommen anmeldet, Sperber?«

»Ich glaube nicht, Majestät.«

»Daß urplötzlich eine ganze Schar Leute aus dem Nichts auftaucht, kann einen schon erschrecken, wißt Ihr.« Er runzelte die Stirn. »Was wäre passiert, wenn ich genau an der Stelle gestanden hätte, an der ihr erschienen seid? Wären wir dann irgendwie verbunden worden? Ich meine, vielleicht zu einer Person zusammengeschmolzen?«

»Das weiß ich wirklich nicht, Majestät.«

»Sag ihm, das ist undenkbar, Anakha.« Vanion sprach mit Bhellioms Stimme. »Einen solchen Fehler würde ich nicht begehen. Abgesehen davon ist es ungewöhnlich, daß zwei Dinge sich zur selben Zeit an demselben Fleck befinden.«

»Ungewöhnlich?« fragte Sarabian bestürzt. »Soll das heißen, daß es passieren kann

»Ich bitte dich, Anakha, ersuche ihn, diese Frage nicht zu verfolgen. Die Antwort wäre nicht gut für seine Nerven.«

»Ihr scheint großartig in Form zu sein, Sarabian-Kaiser«, stellte Betuana fest. »Ihr habt Euch sehr verändert. Könnt Ihr mit diesem schmalen Schwert umgehen?«

»Das ist ein Degen. O ja, Betuana. Ich beherrsche ihn gut.«

»Für meinen Geschmack ist es eine zu leichte Klinge. Doch jeder soll die Waffe wählen, mit der er am besten umzugehen versteht. Sperber-Ritter und Vanion-Hochmeister erzählten mir, daß sich viel verändert hat. Laßt uns über diese Veränderungen nachdenken und dann unsere Pläne entsprechend gestalten.« Sie blickte Ehlana lächelnd an. »Ihr seht gut aus, Schwester-Königin. Matherion bekommt Euch.«

»Und Ihr seid liebreizend wie immer, teure Schwester«, erwiderte Ehlana herzlich. »Euer Gewand ist atemberaubend!«

»Gefällt es Euch wirklich?« Betuana wirkte fast mädchenhaft, als sie sich drehte, damit das tiefblaue atanische Gewand, das eine bronzene Schulter freiließ und über den Hüften mit einer Goldkette gegürtet war, bewundert werden konnte.

»Es ist wundervoll, Betuana. Blau steht Euch sehr gut!«

Betuana strahlte bei diesem Kompliment. »Nun denn, Sarabian«, sagte sie dann, wieder vollkommen sachlich. »Was ist geschehen, und was werden wir tun?«

»Das finde ich nicht lustig, Sarabian-Kaiser!« sagte Betuana verärgert.

»Ich erwähnte das auch nicht, um Euch zu erheitern, Betuana. Mir ist es ähnlich wie Euch ergangen, als man mich darauf aufmerksam machte. Ich habe die Dame gebeten hierherzukommen. Ihr werdet es wohl erst mit eigenen Augen sehen müssen.«

»Haltet Ihr mich für ein Kind, dem Geschichten über Gespenster und Ungeheuer angst machen?«

»Natürlich nicht. Aber ich versichere Euch, Xanetia ist wirklich eine Delphae.«

»Leuchtet sie?«

»Nur, wenn sie es für angemessen hält. Sie unterdrückt das Licht – unseres Seelenfriedens wegen – und sie hat ihre Haut- und Haarfarbe verändert, so daß sie wie eine ganz normale Tamulerin aussieht. Aber glaubt mir, sie ist alles andere als gewöhnlich.«

»Ich fürchte, Ihr habt den Verstand verloren, Sarabian-Kaiser.«

»Ihr werdet schon sehen, Schätzchen.«

Sie blickte ihn verblüfft an.

»Harmlose neue Redewendung.« Er zuckte die Schultern.

Die Tür schwang auf und Xanetia, Danae und Sephrenia kamen herein.

Prinzessin Danae, mit gekonnt gespielter Unschuldsmiene, ging zu Betuanas Sessel und streckte die Ärmchen aus. Betuana lächelte das kleine Mädchen an und hob es auf ihren Schoß. »Wie ist es dir ergangen, Prinzeßchen?« fragte sie auf elenisch.

»Ach, soweit ganz gut, Betuana«, antwortete die Kleine auf tamulisch. »Sephrenia hat uns alle die Sprache der Menschen gelehrt. Ich war ein bißchen krank, aber jetzt fühle ich mich schon wieder viel besser. Es ist wirklich langweilig, krank zu sein, nicht wahr?«

»Ganz meine Meinung, Danae.«

»Aber du hast mich noch gar nicht geküßt!«

»Oh!« Betuana lächelte. »Tut mir leid. Habe ich ganz vergessen.« Sie holte es sofort nach.

Sarabian richtete sich auf. »Königin Betuana von Atan, ich habe die Ehre, Euch die Anarae Xanetia von Delphaeus vorstellen zu dürfen. – Würde es Euch etwas ausmachen, der Königin zu zeigen, wer Ihr seid, Anarae?«

»Wenn Ihr es wünscht, Majestät«, erwiderte Xanetia.

»Es ist eine außergewöhnliche Erfahrung, Majestät«, erklärte Emban der atanischen Königin und verschränkte die Hände über dem Bauch. »Aber man gewöhnt sich daran.«

Xanetia blickte Betuana ernst an. »Euer Volk und unseres sind von einer Sippe, Betuana-Königin. Doch seit langer Zeit leben wir getrennt. Ich will Euch nichts Böses, also fürchtet mich nicht.«

»Ich fürchte Euch nicht.« Betuana bediente sich unwillkürlich der alten tamulischen Sprechweise.

»Es war notwendig, mein Aussehen hier in Matherion zu verändern, Betuana-Königin. Erschaut nun mein wahres Ich.« Die Farbe schwand rasch aus Xanetias Haar und Haut, und ihr unirdisches Leuchten setzte ein.

Danae streckte den Arm aus und berührte sanft Betuanas Gesicht. Sperber unterdrückte ein Lächeln.

»Ich weiß, was Ihr nun fühlt, Betuana«, sagte Sephrenia mit ruhiger Stimme. »Gewiß könnt Ihr Euch vorstellen, was Xanetia und ich anfangs empfanden. Ihr wißt doch von der Feindschaft zwischen unseren beiden Rassen, nicht wahr?«

Betuana nickte. Offenbar traute sie ihrer Stimme noch nicht.

»Ich werde jetzt etwas wider die Natur tun, Anarae«, warnte Sephrenia, »aber ich glaube, wir müssen Atana Betuana ein wenig beruhigen. Versuchen wir beide, unsere Empfindungen zu beherrschen.«

Scheinbar ohne Zögern oder den geringsten Abscheu umarmte Sephrenia die leuchtende Frau. Doch Sperber, der sie sehr gut kannte, sah den leichten Widerwillen auf ihrem Gesicht. Sephrenia hatte sich gewappnet, als würde sie die Hand ins Feuer halten.

Beinahe schüchtern schlang Xanetia die Arme um Sephrenias Schultern. »Es ist mir eine Freude, Schwester«, murmelte sie.

»Ja, auch mir, meine Schwester«, antwortete Sephrenia.

»Habt Ihr bemerkt, daß die Welt nicht untergegangen ist, Betuana?« fragte Ehlana.

»Aber ich glaube, ich habe sie zittern gespürt«, sagte Sarabian.

»Offenbar sind wir von Leuten umgeben, die sich für besonders schlau halten, Xanetia.« Sephrenia lächelte.

»Eine Untugend der Jungen, meine Schwester. Wenn sie in die Jahre kommen, werden sie vielleicht denken – bevor sie reden.«

Betuana richtete sich in ihrem Sessel auf und stellte Danae auf den Boden. »Dieses Bündnis hat Eure Billigung, Sarabian-Kaiser?« fragte sie förmlich.

»So ist es, Betuana-Königin.«

»Dann hat es auch für mich Gültigkeit.« Sie erhob sich und ging mit ausgestreckten Armen auf die beiden zu, und Sephrenia und Xanetia nahmen ihre Hände. Solcherart miteinander verbunden, standen die Frauen eine lange Minute da.

»Ihr seid mutig, Betuana-Königin«, bemerkte Xanetia.

»Ich bin eine Atana, Anarae.« Betuana zuckte die Schultern. Dann drehte sie sich um und bedachte Engessa mit einem strafenden Blick. »Warum habt Ihr mir nichts davon gesagt?« fragte sie streng.

»Mir wurde befohlen, es nicht zu tun, Betuana-Königin. SarabianKaiser sagte, Ihr müßtet Xanetia-Anarae mit eigenen Augen sehen, ehe Ihr glauben würdet, daß sie ist, was sie sagt. Außerdem wollte er dabeisein, wenn ihr einander begegnet. Das Staunen anderer macht ihm Freude. Er ist ziemlich merkwürdig.«

»Engessa!« tadelte Sarabian.

»Ich muß zu meiner Königin die Wahrheit sagen, so wie ich sie sehe, Sarabian-Kaiser.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber muß es so ganz ohne Umschweife sein?«

»Also gut«, faßte Vanion zusammen. »Wir marschieren nordwärts mit den Rittern, dem Hauptteil der hiesigen atanischen Garnisonen und der kaiserlichen Leibgarde. Wir werden ziemlichen Lärm machen, und Ekatas, Cyrgons Hohepriester, wird Zalasta und Cyrgon melden, daß wir auf dem Weg sind. Dies wird Stragens Meuchlern freie Hand geben, denn aller Aufmerksamkeit wird sich auf uns richten. Dann, nach dem Erntedankfest, wenn die Leichen gefunden werden, dürften unsere Freunde da draußen ein wenig abgelenkt sein. Zu diesem Zeitpunkt begibt Sperber sich mit Bhelliom nach Nordatan und setzt die Trollgötter frei. Von diesem Zeitpunkt an wird der Norden Atans völlig sicher sein. Wir machen mit unseren Streitkräften kehrt, nehmen unterwegs den Großteil der atanischen Truppen mit und marschieren gegen Scarpa im Süden. Sind wir uns soweit einig?«

»Nein, Vanion-Hochmeister!« entgegnete Betuana entschieden. »Das Erntedankfest ist erst in zwei Wochen. Bis dahin können die Trolle bereits in den Straßen Atanas sein. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, daß sie gar nicht so weit kommen!«

»Befestigungen!« sagte Ulath.

»Das könnte gehen«, erwiderte Sarabian. »Aber was ist, wenn die Trolle einen Bogen um jede Festung machen, die wir errichten, und stur geradenwegs nach Atana stürmen?«

»Die Trolle selbst würden vielleicht so handeln, Majestät«, warf Sperber ein, »aber Cyrgon gewiß nicht. Er ist der älteste und deshalb listenreichste Krieger der Welt und wird auf keinen Fall feindliche Stützpunkte hinter seinen Linien zurücklassen. Andernfalls hätte er den Krieg schon so gut wie verloren. Wenn wir Festungen bauen, muß er seinen Vormarsch unterbrechen und sich mit diesem Problem auseinandersetzen.«

»Und wenn wir diese Festungen mitten auf freiem Feld bauen, können die Trolle sich nicht im Wald verstecken«, fügte Bevier hinzu. »Sie müssen sich ihm ohne Deckungsmöglichkeit nähern und sind lebende Zielscheiben für die Bogenschützen der Peloi, meine Katapultbesatzungen und Khalads Armbrustschützen. Selbst wenn sie das Feld mit Rauchschwaden vernebeln, treffen wir mit blinden Schüssen immer noch genug von ihnen.«

»Meine Ataner verstecken sich nicht gern hinter Mauern!« erklärte Betuana eigensinnig.

»Wir alle müssen mitunter Dinge tun, die uns zuwider sind, Betuana«, sagte Ehlana. »Festungen erhalten Euren Kriegern das Leben. Tote Soldaten nutzen gar nichts.«

»Nur als Futter für die Trolle«, fügte Talen hinzu. »Das ist übrigens eine Idee, Sperber! Wenn Ihr Eure Pandioner abrichten könntet, daß sie ihre Feinde essen, bräuchtet Ihr keinen Troß.«

»Würdest du den Mund halten!« sagte Sperber schroff.

Doch Betuana ließ nicht locker. »Es wird sich trotzdem nicht machen lassen. Die Trolle rücken zu schnell vor. Wir haben keine Zeit Festungen zu errichten!«

»Wir könnten sie ein paar Meilen hinter Euren Linien bauen und Eure Truppen nach der Fertigstellung dorthin zurückziehen, Majestät«, versicherte Sperber ihr.

»Habt Ihr so viel Erfahrung mit Trollen, Prinz Sperber?« fragte Betuana beißend. »Wißt Ihr, wie schnell sie rennen können? Sie werden über euch herfallen, noch ehe ihr die Mauern aufstellen könnt!«

»Sie können nirgendwohin rennen, wenn die Zeit stehenbleibt, Majestät. Das haben wir uns auf dem Weg nach Zemoch zunutze gemacht. Der Trollgott des Fressens kann Menschen – oder Trolle – in den Augenblick zwischen einer Sekunde und der nächsten versetzen. Als wir uns in diesem Augenblick befanden, haben wir festgestellt, daß die Welt sich überhaupt nicht mehr bewegte. Also haben wir genug Zeit, die Festungen zu bauen.«

»Wollt Ihr das nicht lieber erst noch mit Bhelliom besprechen, Sperber, ehe Ihr irgendwelche Vorhersagen macht?« meinte Emban. »Vergewissern wir uns, daß es auch wirklich funktioniert, ehe wir unsere Strategien darauf aufbauen. Es könnte ja sein, daß Bhelliom Einwände hat.«

Wie sich herausstellte, hatte Bhelliom gleich mehrere. »Dein Plan ist fehlerhaft, Anakha«, erwiderte er auf Sperbers Frage. Vanions Hand hob Sephrenias Teetasse und ließ sie los.

Die Tasse blieb mitten in der Luft stehen.

»Nimm das Gefäß herunter, Anakha«, wies Vanions Stimme den Ritter an.

Sperber griff nach der Tasse und mußte sogleich feststellen, daß sie unbeweglich war wie ein Berg. So sehr er sich anstrengte, sie aus der Luft zu pflücken – die Tasse blieb, wo sie war.

»Ihr vermöchtet nicht einmal ein Blatt zu bewegen, Anakha«, erklärte Bhelliom. »Ihr selbst könntet euch zwar ohne Widerstand durch den erstarrten Augenblick fortbewegen, doch um irgend etwas anderes in Bewegung zu versetzen, müßtet ihr an den Grundfesten des gesamten Universums rütteln!«

»Ich verstehe«, murmelte Sperber düster. »Wir könnten also keine Bäume fällen und Festungen bauen?«

»Sind diese Bauten von großer Wichtigkeit für euch? Entsprechen Sie den Geboten irgendeiner seltsamen Sitte?«

»Nein, Blaurose. Wir möchten nur den Trollen Hindernisse in den Weg legen, damit sie unsere Freunde, die Ataner, nicht angreifen können.«

»Würde ein Vorschlag euch kränken?«

Ulath blickte Tynian scharf an. »Du hast heimlich mit diesem Stein geredet, stimmt's?« beschuldigte er ihn.

»Sehr komisch, Ulath«, brummte Tynian leicht eingeschnappt.

»Ich verstehe nicht…« Vanions Stimme klang leicht unterkühlt.

»Das ist eine immer wiederkehrende Diskussion zwischen den beiden, Blaurose«, erklärte Sperber und bedachte die zwei mit einem strafenden Blick. »Sie hat inzwischen einen Punkt erreicht, daß sie kaum noch verständlich ist. – Ich würde gern deinen Vorschlag hören, mein Freund.«

»Ist es vonnöten, die Trolle zu verwunden, Anakha? Wenn ihnen der Zugang zu dem Land deiner Freunde, den Atanern, völlig verwehrt ist, müßt ihr sie dann trotzdem töten?«

»Nein, Blaurose. Wir würden es durchaus vorziehen, ihnen nichts antun zu müssen. Sobald es ihren Göttern gelingt, sie Cyrgons Macht zu entreißen, werden die Trolle sogar unsere Verbündeten sein.«

»Würdet ihr es auch nicht als Kränkung empfinden, wenn ich eine Barriere vor ihnen errichte, die zu überwinden sie nicht fähig sind?«

»Nicht im geringsten. Wir wären dir sogar sehr dankbar dafür.«

»Dann laßt uns nach Atan gehen und ich werde tun, was ich gesagt habe. Ich möchte nicht, daß irgend jemand unnötig getötet wird. Gewiß wird mein Kind mir helfen. Gemeinsam können wir, sie und ich, die Trolle davon abhalten, sich weiter nach Süden zu begeben.«

»Auch du hast eine Tochter, Blaurose?« fragte Sperber erstaunt.

»Ich habe Millionen Töchter, Anakha, und jede ist mir so lieb und teuer wie dir die deine. Nun denn, auf nach Atan, damit das Blutvergießen ende.«

Der Norden Atans war bewaldet; die zerklüfteteren Berge ragten im Süden empor, während das Gebirge des Nordens vor langer Zeit von Gletschern abgetragen worden war. Das Land neigte sich mit weiten Hängen dem Nordmeer entgegen, wo ewiges Packeis die Weltkugel krönte. Sperber schaute sich rasch um. Bhelliom war einer nur in Gedanken geformten Bitte gefolgt und hatte lediglich Krieger in diesen nördlichen Wald versetzt. Sperber würde später gewiß einige unfreundliche Worte über sich ergehen lassen müssen; aber das ließ sich nicht ändern.

»Engessa-Atan!« sagte Vanion in scharfem Befehlston, und Sperber kam ein seltsamer Gedanke: Er fragte sich plötzlich, ob Bhelliom je Truppen befehligt hatte.

»Ja, Vanion-Hochmeister?« fragte der riesige Ataner.

»Gebiete deinen Landsleuten, sich drei Meilen von der Stelle zurückzuziehen, wo sie im Kampf verstrickt sind.«

Engessa starrte Vanion an. Dann wurde ihm bewußt, daß es gar nicht der pandionische Hochmeister war, der gesprochen hatte. »Das wird ein bißchen Zeit brauchen, Blaurose«, erklärte er. »Die Ataner befinden sich über das gesamte Nordkap verstreut im Nahkampf mit den Trollen. Ich werde Kuriere ausschicken müssen.«

»Sprich den Befehl, Engessa-Atan. Alle werden ihn hören, das versichere ich dir!«

»Ich würde gar nicht erst versuchen, mich auf Diskussionen einzulassen, Freund Engessa«, riet Kring. »Das ist der Stein, der die Sonne zum Stehen bringt! Wenn er sagt, daß alle Euch hören werden, werden Euch alle hören, glaubt mir.«

»Nun, dann will ich's versuchen.« Engessa hob das Gesicht.

»Rückzug!« donnerte er. »Zieht euch drei Meilen zurück, dann formiert euch neu!«

Die gewaltige Stimme hallte viele Male wider.

»Ich glaube, Ihr könntet Euch auch ohne Hilfe von einem Kap zum anderen Gehör verschaffen«, meinte Kalten.

»Nicht ganz so weit«, entgegnete Engessa bescheiden.

»Die Einschätzung der Geschwindigkeit deiner Leute dürfte genauer sein als meine, Engessa-Atan«, sagte Bhelliom. »Laß es mich wissen, wenn sie in Sicherheit sind. Ich möchte nicht, daß sie nördlich der Mauer in der Falle sitzen.«

»Der Mauer?« fragte Ulath.

»Die Barriere, von der ich sprach.« Vanion bückte sich und berührte mit den Fingerspitzen beinahe zärtlich den Boden. »Es ist gut, Anakha. Wir befinden uns nur wenige Schritte von der gewünschten Stelle entfernt.«

»Ich hatte immer vollstes Vertrauen in deine Fähigkeit, eine bestimmte Stelle ganz genau zu finden, Blaurose.«

»Immer scheint in diesem Fall sehr übertrieben, Anakha.« Ein leicht ironisches Lächeln legte sich auf Vanions Lippen. »Mich deucht, ich erinnere mich an eine Bemerkung von dir – damals, als wir begonnen haben, uns von Ort zu Ort zu bewegen. Du könntest dich möglicherweise auf der Oberfläche des Mondes wiederfinden, hast du gesagt.«

»Das stimmt, Sperber!« erinnerte Kalten seinen Freund. »Das hast du wirklich gesagt.«

Sperber beeilte sich, das Thema zu wechseln. »Du hast von deiner Tochter gesprochen, Blaurose. Werden wir die Ehre haben, sie kennenzulernen?«

»Das hast du längst, Anakha. Du stehst auf ihrem grünen Busen.« Vanions Hand tätschelt liebevoll den Boden.

»Die Erde?« fragte Bevier ungläubig.

»Ist sie nicht schön?« Stolz schwang in dieser Frage mit. Dann richtete Vanion sich auf. »Ziehen wir uns ein wenig von dieser Stelle zurück, Anakha. Was ich hier zu tun beabsichtige, wird sich sechs Meilen unter unseren Füßen zutragen, und die Wirkung hier an der Oberfläche ist schwer vorherzusehen. Ich möchte deine Freunde nicht durch meine Ungenauigkeit gefährden, und es wird hier gleich zu sehr schweren Erschütterungen kommen. – Sind alle Ataner in Sicherheit, Engessa-Atan?«

Engessa nickte. »Ein Ataner, der inzwischen noch keine drei Meilen zurückgelegt hat, wäre es nicht wert, Ataner genannt zu werden.«

Sie drehten sich um und schritten etwa hundert Fuß nach Süden, ehe sie stehenblieben.

»Weiter, Anakha, rate ich euch – zumindest noch einmal so weit. Und es wäre angebracht, wenn du und deine Gefährten sich auf den Boden legten. Die Erschütterungen könnten sehr stark sein.«

»Dein Freund macht mich allmählich nervös, Sperber«, gestand Tynian, während sie noch einmal etwa hundert Fuß gen Süden schritten. »Was hat er eigentlich genau vor?«

»Darüber weißt du ebensoviel wie ich, mein Freund.«

Plötzlich vernahmen sie ein tiefes, unterirdisches Donnern, das aus dem Erdkern zu kommen schien. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte heftig.

»Ein Erdbeben!« rief Kalten entsetzt.

»Das könnte sein, was du dir erhofft hast, Tynian«, grollte Ulath.

»Es ist nicht einfach, Anakha«, bemerkte Bhelliom. »Der Druck ist ungeheuerlich und muß mit größter Vorsicht gesteuert werden, damit das gewünschte Ziel erreicht wird.«

Die nächste Erschütterung brachte die Gefährten ins Taumeln. Der Boden bäumte sich auf, und das erschreckende, dumpfe Grollen wurde lauter.

»Es ist soweit, Anakha. Die Erschütterungen, die ich erwähnt habe, beginnen nun.«

»Beginnen?« rief Bevier. »Ich kann mich jetzt schon kaum noch auf den Füßen halten!«

»Wir sollten lieber tun, was er geraten hat!« rief Sperber scharf. Er sank in die Knie, drückte das Gesicht in den Teppich aus Laub und legte sich dann der Länge nach zu Boden. »Ich glaube, das nächste Beben wird umwerfend – im wahrsten Sinne des Wortes!«

»Das nächste Beben« dauerte volle zehn Minuten. Nichts, was Beine besaß, hätte sich auf der heftig ruckenden und zuckenden Erde aufrecht halten können. Dann spaltete sich der Boden keine fünfzig Schritt vor ihnen mit ungeheuerlichem Krachen. Das Land auf der anderen Seite dieses erschreckenden Risses in der Erdhülle schien in die Tiefe zu fallen, während der bebende Boden, auf dem die Gefährten lagen, sich aufbäumte, immer höher hob und wogte wie ein vom Wind gezerrtes Banner. Riesige, vor Angst kreischende Vogelscharen stiegen von den geschüttelten Bäumen auf.

Dann ließ das Beben allmählich nach. Die Heftigkeit der Erschütterungen wurde schwächer, das Rütteln seltener, und nur hin und wieder bäumte der Boden sich noch auf. Das ohrenbetäubende Donnern wurde leiser und hallte durch Meilen von Gestein aus dem Leib der Erde wider, wie die innere Unruhe nach einem Alptraum. Mächtige Staubwolken trieben über den Rand des neugebildeten Abgrunds.

»Nun darfst du mein Werk bewundern, Anakha«, sagte Bhelliom ruhig, doch mit einem gewissen bescheidenen Stolz. »Sprich die Wahrheit, denn du kränkst mich nicht, solltest du Fehler finden. Entdeckst du Mängel an meinem Werk, werde ich sie beheben.«

Sperber beschloß, seinen Füßen lieber noch nicht ganz zu trauen. Dicht gefolgt von seinen Freunden, kroch er zum Rand des gewaltigen Abgrunds, den es vor fünfzehn Minuten noch nicht gegeben hatte.

Die Wand der Schlucht war so gerade wie ein Schwertschnitt und führte mindestens tausend Fuß in die Tiefe. Sie erstreckte sich nach Osten und Westen, so weit das Auge reichte. Eine schier endlose Steilwand, ein gewaltiger Wall, trennte nun die oberen Gebiete des Nordkaps vom Rest Tamulis.

»Nun, was meinst du?« fragte Bhelliom erwartungsvoll, aber auch ein kleines bißchen besorgt. »Wird meine Mauer den Trollen den Zugang zu den Landen deiner Freunde verwehren? Ich kann noch mehr tun, wenn du möchtest.«

Sperber schluckte. »Nein, Blaurose. Nicht mehr, ich bitte dich.«

»Ich freue mich, daß du zufrieden bist.«

»Es ist eine großartige Mauer, Blaurose.« Es war ein idiotischer Satz, doch Sperber hatte seine Fassung noch nicht wiedergefunden.

Bhelliom schien es nicht zu bemerken. Auf Vanions Gesicht lag ein beinahe scheues Lächeln über Sperbers unbeholfenes Lob. »Die Mauer ist hinlänglich gelungen«, sagte er, fast schon ein wenig geringschätzig. »Es war Eile geboten; deshalb hatte ich nicht genug Zeit, sie so zu formen, wie ich es gern getan hätte. Doch mich deucht, sie wird ihren Zweck erfüllen. Ich würde es jedoch zu schätzen wissen, ließest du mir das nächste Mal mehr Zeit, wenn du eine Veränderung an der Erde vornehmen willst. Denn ein Werk, das man in Eile errichtet, ist nie ganz zufriedenstellend.«

»Ich werde mich bemühen, daran zu denken, Blaurose.«