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Die Jahreszeiten wechselten, und der lange Sommer ging allmählich in den Herbst über. Ein dünner Nebel hing in den Straßen von Matherion. Der Mond war spät aufgegangen, und seine bleichen Strahlen hoben die Umrisse der opaleszierenden Türme hervor und verliehen dem zarten Nebel auf den Straßen ein weiches Licht. Die schimmernde Stadt Matherion badete die Füße in leuchtendem Dunst und hob das blasse Gesicht dem Nachthimmel entgegen.

Sperber war müde. Die Anspannung der vergangenen Woche und die gefahrvollen Ereignisse an ihrem Ende hatten ihn ausgelaugt. Aber er konnte nicht schlafen. In seinen schwarzen pandionischen Umhang gehüllt, stand er auf dem Wehrgang und blickte nachdenklich über die schimmernde Stadt. Er war müde, doch sein Verlangen, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, abzuschätzen, zu erwägen und zu verstehen, war zu drängend, als daß er sich ins Bett legen und von tiefem Schlaf verwöhnen lassen wollte. Erst mußte alles geordnet sein.

»Was macht Ihr hier oben, Sperber?« fragte Khalad leise. Seine Stimme klang der seines Vaters so ähnlich, daß Sperber ruckartig den Kopf drehte, um sich zu vergewissern, daß Kurik nicht aus dem Haus der Toten wiedergekehrt war, um ihn zu rügen. Khalad war ein junger Mann mit unauffälligem Gesicht, breiten Schultern und von unverblümter Offenheit. Seine Familie diente der Sperbers bereits seit drei Generationen, und genau wie sein Vater Kurik sprach Khalad seinen Herrn für gewöhnlich ohne große Umschweife an.

»Ich konnte nicht schlafen.« Sperber zuckte die Schultern.

»Eure Gemahlin hat die halbe Garnison losgeschickt, nach Euch zu suchen.«

Sperber verzog das Gesicht. »Warum tut sie das immer?«

»Es ist Eure eigene Schuld. Ihr wißt genau, daß sie es jedesmal so macht, wenn Ihr fortgeht, ohne ihr zu sagen, wohin Ihr wollt. Ihr würdet Euch – und uns – viel Zeit und Ärger ersparen, würdet Ihr Ehlana von vornherein Bescheid geben. Ich glaube, das habe ich Euch schon mehrmals vorgeschlagen.«

»Versuch nicht, mir Vorschriften zu machen, Khalad! Du bist ja so schlimm wie dein Vater.«

»Gute Eigenschaften vererben sich manchmal. Würdet Ihr nun die Güte haben, hinunterzusteigen und Eurer Gemahlin zu versichern, daß mit Euch alles in Ordnung ist – bevor sie die Handwerker ruft, damit sie die Wände niederreißen?«

Sperber seufzte. »Also gut.« Er wandte sich von den Zinnen ab. »Übrigens, wir werden bald einen Ausflug machen.«

»Ach? Wohin?«

»Wir müssen etwas abholen. Uns mit den Hufschmieden unterhalten. Faran muß neu beschlagen werden. Er hat sein rechtes Vordereisen so abgewetzt, daß es dünn wie Papier ist.«

»Das ist Eure Schuld, Sperber. Würdet Ihr aufrecht im Sattel sitzen, wäre das Eisen in Ordnung.«

»Mit zunehmendem Alter wird man nun mal krumm. Dir wird's auch nicht anders ergehen.«

»Wenn Ihr meint. Wann brechen wir zu diesem Ausflug auf?«

»Sobald mir eine so glaubhafte Lüge einfällt, daß meine Frau darauf verzichtet, mich zu begleiten.«

»Dann wird's wohl noch ein Weilchen dauern?« Khalad blickte über das in Mondschein getauchte Matherion. Mond und Nebel trugen dazu bei, die Stadt mit schillernden Regenbogen zu krönen. »Hübsch«, bemerkte er.

»Mehr fällt dir nicht ein? Du blickst auf die sagenhafteste Stadt der Welt und nennst sie einfach nur ›hübsch‹.«

»Ich bin kein Edelmann, Sperber, und muß mir keine blumigen Phrasen ausdenken, um andere zu beeindrucken – und mich selbst. Seht zu, daß Ihr ins Haus kommt, bevor Euch die Kälte und Feuchtigkeit auf die Lunge schlagen. Ihr krummen alten Leute seid gesundheitlich manchmal ziemlich anfällig.«

Sperber erkannte sofort, daß die bildschöne, aschblonde Königin Ehlana mehr gereizt als verärgert war. Ihm entging auch nicht, daß sie sich offenbar viel Zeit genommen hatte, sich noch anziehender zu machen. Sie trug ein Nachtgewand aus dunkelblauem Satin und hatte ihre Wangen so lange behutsam gezwickt, um ihnen glühende Röte zu verleihen. Ihr Haar war auf bezaubernde Weise zerzaust, zweifellos mit voller Absicht, aber kunstvoll. Seiner mangelnden Rücksichtnahme wegen rügte sie ihn auf eine Weise, daß Bäume vermutlich in Tränen ausgebrochen und Steine betroffen vor ihr zurückgewichen wären. Ihre Stimme durchlief sämtliche Tonarten, als sie ihm haarklein erklärte, wie sie sich fühlte. Sperber unterdrückte ein Lächeln. Ehlana gab eine gekonnte Vorstellung, wie sie so in der Mitte des blau behangenen kaiserlichen Gästegemachs stand und ihn beschimpfte. Ihre Worte drückten äußerstes Mißfallen aus, doch die geschickt gewählte Betonung sagte ihm etwas ganz anderes.

Er entschuldigte sich.

Sie weigerte sich, seine Entschuldigung anzunehmen, stürmte ins Schlafzimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu.

»Sehr temperamentvoll«, murmelte Sephrenia. Die zierliche Frau saß in sicherem Abstand an der hinteren Seite des Gemachs, wo ihr weißes styrisches Gewand im Kerzenschein schimmerte.

»Es ist Euch also nicht entgangen?« Sperber lächelte.

»Tut sie das oft?«

»O ja! Sie genießt es. Weshalb seid Ihr so spät noch auf, kleine Mutter?«

»Aphrael wollte, daß ich mit Euch rede.«

»Warum ist sie nicht einfach gekommen und spricht selbst mit mir? Schließlich ist sie ja nicht Meilen entfernt.«

»Es ist eine formelle Angelegenheit, Sperber. In einem solchen Fall erwartet man, daß ich für Aphrael spreche.«

»Da komme ich nicht ganz mit.«

»Ihr würdet es, wenn Ihr Styriker wärt! Wir werden für eine Art Ersatz sorgen müssen, wenn wir den Bhelliom zurückholen wollen. Khalad kann die Stelle seines Vaters einnehmen, ohne daß sich ein größeres Problem ergibt. Aber daß Tynian beschlossen hat, mit Emban nach Chyrellos zurückzukehren, macht Aphrael sehr zu schaffen. Könnt Ihr ihn nicht überreden, es sich noch einmal zu überlegen?«

Sperber schüttelte den Kopf. »Ich würde es nicht einmal versuchen, Sephrenia. Ich habe nicht vor, ihn auf Lebenszeit zum Krüppel zu machen, nur weil er Aphrael fehlen könnte.«

»Ist es wirklich so schlimm mit seinem Arm?«

»Schlimm genug. Der Armbrustbolzen hat sein Schultergelenk durchbohrt. Wenn er es bewegt, heilt es vielleicht nicht mehr richtig. Und immerhin ist es sein Schwertarm.«

»Aphrael könnte das in Ordnung bringen, wie Ihr wißt.«

»Aber nicht, ohne preiszugeben, wer sie wirklich ist, und das würde ich nicht erlauben.«

»Nicht erlauben

»Fragt sie doch, ob sie die geistige Gesundheit ihrer Mutter lediglich der Zahlengleichheit wegen gefährden möchte. Nehmt jemand andern. Wenn Aphrael nichts dagegen hat, daß Khalad an Kuriks Stelle mitkommt, sollte sie gewiß jemanden finden, der Tynians Platz einnehmen kann. Warum ist ihr das überhaupt so wichtig?«

»Das würdet Ihr nicht verstehen.«

»Versucht trotzdem, es mir zu erklären. Vielleicht werdet Ihr ja staunen.«

»Ihr benehmt Euch heute nacht ziemlich merkwürdig.«

»Ich wurde soeben wüst beschimpft. Das macht mich immer merkwürdig. Warum hält Aphrael es für so wichtig, stets dieselbe Gruppe von Leuten um sich zu haben?«

»Das hat mit ihren Empfindungen zu tun. Die Anwesenheit einer bestimmten Person ist mehr als nur ihr Äußeres oder der Klang ihrer Stimme. Es hängt auch davon ab, wie sie denkt und – was vermutlich noch wichtiger ist – was sie für Aphrael empfindet. Damit umgibt sie sich. Tauscht man die Personen aus, bringt es Aphraels Empfindungen aus dem Gleichgewicht.« Sephrenia blickte ihn an. »Ihr habt kein Wort davon verstanden, nicht wahr?«

»Ganz im Gegenteil! Was ist mit Vanion? Er liebt sie genausosehr wie Tynian. Außerdem war er praktisch von Anfang an bei uns, zumindest im Geist bei uns. Und er ist ein Ritter!«

»Vanion? Das ist absurd, Sperber!«

»Er ist kein Tattergreis, wie Ihr wißt. Er hat in Sarsos beim Wettlauf mitgemacht. Und als wir gegen die Trolle kämpften, hat er bewiesen, daß er mit der Lanze so gut umgehen kann wie eh und je!«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich will nichts mehr davon hören!«

Sperber ging zu ihr, umfaßte ihre Handgelenke und küßte ihr die Handflächen.

»Ich liebe Euch sehr, kleine Mutter«, versicherte er, »doch diesmal werde ich über Euren Wunsch hinwegsehen. Ihr dürft Vanion nicht für den Rest seines Leben in Watte packen, nur weil Ihr Angst habt, er könnte sich einen Finger aufschürfen. Wenn Ihr ihn Aphrael nicht als Begleiter vorschlagt, werde ich es tun!«

Sephrenia fluchte auf styrisch. »Begreift Ihr denn nicht, Sperber? Ich hätte ihn beinahe verloren!« Ihr Herz sprach aus ihren glänzenden Augen. »Ich würde sterben, wenn ihm etwas zustieße!«

»Ihm wird nichts zustoßen! Werdet Ihr nun in dieser Sache mit Aphrael sprechen, oder wollt Ihr es lieber mir überlassen?«

Wieder fluchte sie.

»Wo habt Ihr bloß diese Schimpfworte gelernt?« tadelte er. »Ist unser Problem damit gelöst? Ich bin bereits etwas spät dran, durch die Tür des Schlafgemachs zu treten.«

»Wie bitte?«

»Jetzt ist es an der Zeit für Küsse und Versöhnung. Wenn ich mich nicht irre, gibt es einen gewissen Rhythmus bei solchen Dingen. Falls ich zu lange warte, Ehlana zu besänftigen, wird sie glauben, ich liebe sie nicht mehr.«

»Wollt Ihr damit sagen, Ehlanas Verhalten heute abend war lediglich eine Einladung ins Schlafgemach?«

»Das ist ziemlich frei heraus gesprochen, aber damit hatte es auch zu tun, o ja. Manchmal bin ich etwas zu beschäftigt, meiner Frau die Aufmerksamkeit zu widmen, die ihr zusteht. So etwas läßt sie sich nur eine Zeitlang gefallen – dann hält sie mir einen Vortrag, der mich daran erinnert, daß ich sie vernachlässigt habe. Dann geht's ab ins Schlafgemach, und anschließend ist alles wieder eitel Sonnenschein.«

»Wäre es nicht einfacher, sie würde es Euch gleich offen sagen, ohne diese umständlichen Spielchen?«

»Vermutlich schon, aber das würde ihr nicht halb soviel Spaß machen. Entschuldigt Ihr mich nun?«

»Warum geht Ihr mir immer aus dem Weg, Berit-Ritter?« fragte Kaiserin Elysoun betrübt und machte einen hübschen Schmollmund.

»Eure Hoheit mißversteht mich.« Berit errötete und blickte zu Boden.

»Findet Ihr mich häßlich, Berit-Ritter?«

»Natürlich nicht, Hoheit.«

»Warum schaut Ihr mich dann nie an?«

»Es ist bei den Eleniern unziemlich, wenn ein Mann eine unbekleidete Frau anblickt.«

»Ich bin keine Elenierin, Herr Ritter. Ich bin aus Valesien, und ich bin nicht nackt. Ich habe sogar sehr viel an. Wenn Ihr mich in meine Gemächer begleitet, werde ich Euch zeigen, wie viel!«

Sperber war gerade dabei, Berit zu suchen, um ihn über ihre bevorstehende Reise zu informieren, als er um eine Ecke des zur Kapelle führenden Korridors bog und sah, daß Kaiserin Elysoun seinem jungen Freund wieder einmal aufgelauert hatte. Seit sich Kaiser Sarabians gesamte Familie sicherheitshalber in der Burg aufhielt, waren Berits Fluchtmöglichkeiten ernsthaft beschränkt, und Elysoun hatte die Situation weidlich genutzt. Die valesianische Gemahlin des Kaisers war ein braunhäutiges, fröhliches Mädchen, dessen aus der Heimat gewohnte Kleidung den Busen unbedeckt zur Schau stellte. So oft Sarabian Berit auch erklärt hatte, daß die üblichen Moralvorstellungen nicht auf Valesianer bezogen werden durften, blieb Berit doch eisern respektvoll – und keusch. Elysoun erachtete dies als Herausforderung und verfolgte den jungen Ordensritter hartnäckig und unerbittlich.

Sperber wollte seinen jungen Freund gerade ansprechen, da lächelte er und zog sich rasch um die Ecke zurück, um zu lauschen. Schließlich war er der derzeitige Hochmeister des Pandionischen Ordens, und deshalb war es seine Pflicht, sich um das Seelenheil seiner Männer zu kümmern.

»Müßt Ihr denn immer Elenier sein?« schmollte Elysoun.

»Ich bin Elenier, Hoheit.«

»Aber ihr Elenier seid so langweilig! Könnt Ihr denn nicht wenigstens für einen Nachmittag Valesianer sein? Das macht viel mehr Spaß, und es wird auch nicht sehr lange dauern – außer, Ihr wollt es.« Sie machte eine Pause, dann fragte sie ihn neugierig: »Seid Ihr wirklich noch unberührt?«

Berit wurde glühend rot.

Elysoun lachte erfreut. »Das ist ja nicht zu fassen!« rief sie. »Seid Ihr denn kein bißchen neugierig, was Ihr versäumt? Ich würde mich glücklich schätzen, Euch diese langweilige Jungfräulichkeit zu nehmen, Berit-Ritter – und es wird nicht einmal sehr weh tun.«

Sperber hatte Mitleid mit dem armen Jüngling und bog noch einmal um die Ecke. »Ah, da bist du ja, Berit! Ich habe dich überall gesucht. Es hat sich etwas Unerwartetes ergeben. Wir müssen uns sofort darum kümmern.« Er verbeugte sich vor der Kaiserin. »Kaiserliche Hoheit, ich fürchte, ich muß Euren Freund eine Zeitlang mit Beschlag belegen. Wichtige Regierungsgeschäfte, müßt Ihr wissen.«

So, wie Elysoun ihn anstarrte, war Sperber froh, daß Blicke nicht töten konnten.

»Ich bin sicher, daß Hoheit Verständnis hat.« Wieder verbeugte er sich. »Komm, Berit. Die Sache ist ernst, und wir müssen uns beeilen.« Er führte seinen jungen Freund den opaleszierenden Korridor entlang und spürte noch immer den wütenden Blick von Kaiserin Elysoun im Rücken.

Berit seufzte erleichtert. »Danke, Sperber.«

»Warum gehst du ihr nicht einfach aus dem Weg?«

»Das ist so gut wie unmöglich! Sie folgt mir auf Schritt und Tritt. Einmal sogar ins Badehaus – mitten in der Nacht. Sie sagte, sie wolle mit mir baden!«

»Berit…«, Sperber lächelte, »als dein Hochmeister und geistiger Beistand müßte ich deine Standhaftigkeit loben, was die Ideale unseres Ordens betrifft. Doch als dein Freund will ich dir nicht verschweigen, daß Flucht die Sache nur noch schlimmer macht. Wir müssen hier in Matherion bleiben, und wenn es noch lange dauert, wird sie dich früher oder später doch einmal erwischen. Sie ist sehr hartnäckig, was das betrifft.«

»Das ist mir nicht entgangen.«

»Außerdem ist sie wirklich sehr hübsch, nicht wahr«, sagte Sperber vorsichtig. »Wieso fällt es dir so schwer, nett zu ihr zu sein?«

»Sperber!«

Der große Pandioner seufzte. »Ich habe schon befürchtet, daß du es so siehst. Hör zu, Berit. Elysoun kommt aus einer vollkommen anderen Kultur mit anderen Sitten. Für sie ist so etwas keine Sünde. Sarabian hat es ja deutlich genug gesagt, daß er dankbar wäre, wenn einige von uns seiner Frau den Gefallen tun würden. Und sie hat nun mal dich als den Glücklichen auserkoren. Es ist eine politische Notwendigkeit. Deshalb wird dir gar nichts anderes übrigbleiben, als wenigstens ein einziges Mal über deinen eigenen Schatten zu springen. Betrachte es als deine ritterliche Pflicht, wenn du dich dadurch besser fühlst. Ich kann Emban bitten, dir Absolution zu erteilen, sobald du deine Pflicht getan hast.«

Berit atmete keuchend ein.

»Du bringst uns wirklich in Verlegenheit«, rügte Sperber. »Elysoun macht Sarabian wegen dieser Geschichte das Leben zur Hölle. Er wird natürlich nicht zu dir gehen und dir befehlen, seiner Frau zu Gefallen zu sein, egal, wie sie ihm zusetzt, aber offensichtlich erwartet er, daß ich es dir klarmache.«

»Ich kann einfach nicht glauben, daß du das sagst, Sperber!«

»Mach schon, Berit, tu's einfach. Du mußt ja nicht unbedingt Spaß daran haben, wenn du es für unsittlich hältst, aber tu es. Tu's, so oft es sein muß. Nur sorg dafür, daß Elysoun dem Kaiser nicht mehr das Leben schwermacht. Es ist deine Pflicht, mein Freund. Wenn Elysoun sich ein paarmal im Schlafgemach mit dir vergnügt hat, wird sie sich sowieso wieder auf die Jagd nach einem neuen Spielgefährten machen.«

»Und wenn sie's nicht tut?«

»Darüber würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen. Patriarch Emban kann dir eine ganze Satteltasche voller Absolutionen besorgen, falls es sich wirklich als notwendig erweisen sollte.«

Der fehlgeschlagene Aufstand hatte Kaiser Sarabian die perfekte Ausrede ermöglicht, seiner Regierung zu entfleuchen. Feigheit vortäuschend, hatte er behauptet, er fühle sich nur in Ehlanas Burg sicher – und auch nur dann, wenn der Burggraben gefüllt und die Zugbrücke hochgezogen bliebe. Seinen Ministern, die von Anfang an jeden seiner Schritte für ihn vorausgeplant hatten, war das ein Dorn im Auge. Sich der relativen Freiheit zu erfreuen, war jedoch nicht der einzige Beweggrund Sarabians gewesen. Innenminister Kolata war während des mißglückten Coups als Verräter entlarvt worden, doch Sarabian und seine elenischen Freunde hatten den Zeitpunkt noch nicht für richtig erachtet, Kolatas Verrat öffentlich bekanntzugeben. Solange der Kaiser sich in der elenischen Burg aufhielt, war es ganz normal, daß auch Kolata sich dort aufhielt. Immerhin unterstand ihm der gesamte Polizeiapparat, und somit war der Schutz des Kaisers seine oberste Pflicht. Von Ehlanas Leuten unauffällig, aber streng überwacht, leitete der Innenminister die Polizeikräfte von der Burg aus. Die Besprechungen mit seinen Untergebenen wirkten allerdings stets ein wenig gezwungen, da Stragen dabei jedesmal neben ihm saß und seine Rechte müßig um einen Dolchgriff lag.

Eines frühen Morgens wurde Norkan, der tamulische Botschafter am Hofe König Androls und Königin Betuanas von Atan, in die schimmernde Nachahmung eines elenischen Thronsaals in der Burg geleitet. Obwohl Norkan versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war doch offensichtlich, wie wenig es ihm gefiel, daß sein Kaiser nach der Mode des Westens ein pflaumenfarbenes Wams und Beinkleid trug. »Habt Ihr mir jetzt auch noch meinen Kaiser gestohlen, Königin Ehlana?« fragte er, während er sich knapp vor ihr verbeugte. Norkan war ein sehr intelligenter Mann, doch bedauerlicherweise hatte er die undiplomatische Angewohnheit, unverhohlen seine Meinung zu äußern.

»Wie könnt Ihr so etwas sagen, Exzellenz!« rügte Ehlana in beinahe perfektem Tamulisch. Genaugenommen war sie hier Herrscherin; deshalb saß sie in ihrer königlich purpurnen Robe auf dem Thron, die goldene Krone auf dem Haupt. Sie wandte sich ihrem kaiserlichen Gast zu, der es sich in lässiger Haltung in einem Sessel bequem gemacht hatte und mit Prinzessin Danaes Katze spielte, indem er auf dem opaleszierenden Boden langsam eine Schnur hin und her zog. »Habe ich Euch gestohlen, Sarabian?« fragte sie.

»Oh, ganz und gar, Ehlana«, antwortete er auf elenisch. »Ich bin Euer getreuer Leibeigener.«

»Habt ihr hier eine Schule für moderne Sprachen eröffnet, während ich fort war, Oscagne?« fragte Norkan.

»Nun ja, so könnte man fast sagen«, erwiderte der Außenminister. »Seine Majestät beherrschte die elenische Sprache jedoch bereits vor Königin Ehlanas Besuch. Unser verehrter Kaiser hat so manches vor uns geheimgehalten.«

»Darf er das? Ich dachte immer, er sollte nur so eine Art Plüschtier sein, das man bei Zeremonien und anderen festlichen Anlässen vorzeigt.«

Selbst Oscagne schluckte leicht bei diesen Worten, Sarabian dagegen brach in herzhaftes Gelächter aus. »Ihr habt mir gefehlt, Norkan«, versicherte er dem Botschafter. »Hattet Ihr schon Gelegenheit, unseren großartigen Norkan kennenzulernen, Ehlana?«

»Mir wurde eine Kostprobe seines Witzes in Atana zuteil, Sarabian.« Die Königin lachte. »Seine Bemerkungen sind meistens sehr … unerwartet.«

»Das kann man wohl sagen.« Sarabian erhob sich lachend. Als sich das Rapier, das er umgeschnallt hatte, hinter einem Bein seines Sessels verfing, fluchte er. Der Kaiser hatte mit dem Rapier immer noch einige Schwierigkeiten. »Eine seiner unerwarteten Bemerkungen hat Norkan mal über die Schuhgröße meiner Schwester gemacht. Ich mußte ihn rasch nach Atan entsenden, damit sie ihn nicht umbringen konnte.« Er zog eine Braue hoch und musterte den Botschafter. »Ich sollte Euch wirklich befehlen, sie zu heiraten, Norkan. Dann könntet Ihr sie in Euren gemeinsamen vier Wänden nach Herzenslust beleidigen. Öffentliche Beleidigungen dagegen müssen auch öffentlich geahndet werden, wie Ihr wißt.«

»Ich fühle mich tiefer geehrt, als ich sagen kann, Kaiserliche Majestät«, entgegnete Norkan. »Die Aussicht, Euer Schwager zu werden, läßt mein Herz stillstehen.«

»Ihr mögt meine Schwester nicht«, sagte Sarabian vorwurfsvoll.

»Das habe ich nicht gesagt, Majestät. Aber ich ziehe es vor, sie aus der Ferne zu verehren – zumindest außerhalb der Reichweite ihrer Füße. Deshalb kam es nämlich zu jener bedauernswerten Bemerkung. Meine Gicht machte mir an jenem Tag Beschwerden, und Eure Schwester trat mir auf die schmerzende Zehe. Ich glaube, sie wäre ein ziemlich nettes Mädchen, wenn sie nur besser darauf achten würde, wohin sie diese Barkassen setzt, die sie als Schuhe trägt.«

»Das wäre keine im siebenten Himmel geschlossene Ehe, Sarabian.« Ehlana lächelte. »Ich habe Eure Schwester kennengelernt, und ich fürchte, die witzigen Bemerkungen seiner Exzellenz stoßen bei ihr auf taube Ohren.«

»Ihr habt vermutlich recht, meine Liebe«, pflichtete Sarabian bei. »Aber ich möchte sie trotzdem zu gern loswerden. Seit ihrer Geburt fällt sie mir auf die Nerven. – Was macht Ihr eigentlich hier in Matherion, Norkan?«

Eine der Brauen Botschafter Norkans schoß in die Höhe. »Hier hat sich wirklich allerhand verändert, nicht wahr, Oscagne? Sollen wir ihm offen sagen, was tatsächlich vor sich geht?«

»Kaiser Sarabian hat beschlossen, die Führung der Regierungsgeschäfte selbst zu übernehmen, mein Freund.« Oscagne seufzte wehmütig.

»Ist das nicht gegen das Gesetz?«

»Ich fürchte nein, alter Junge.«

»Würdest du meinen Rücktritt annehmen?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Wollt Ihr denn nicht mehr für mich arbeiten, Norkan?« fragte Sarabian.

»Ich habe nichts gegen Euch persönlich, Majestät, aber wenn Ihr Euch tatsächlich in Regierungsgeschäfte einmischt, könnte das zum Zusammenbruch des gesamten Imperiums führen.«

»Großartig, Norkan! Ich mag es, wie Ihr drauflosredet, ohne vorher zu überlegen. Seht Ihr, Ehlana? Das ist es, wovon ich Euch erzählt habe. Die Beamten meiner Regierung erwarten allesamt von mir, daß ich majestätisch lächle, alle ihre Vorschläge billige, ohne sie in Frage zu stellen, und es ganz ihnen überlasse, die Regierungsgeschäfte zu führen.«

»Wie langweilig!«

»Ihr sagt es. Aber das werde ich ändern. Jetzt, da ich einem echten Monarchen bei der Arbeit zuschauen darf, haben sich mir völlig neue Horizonte erschlossen. – Ihr habt meine Frage immer noch nicht beantwortet, Norkan! Was führt Euch zurück nach Matherion?«

»Die Ataner werden aufsässig, Majestät.«

»Ist ihre Loyalität in Frage gestellt? Wegen der Unruhen, die kürzlich stattgefunden haben?«

»Nein, Majestät, ganz im Gegenteil. Der Aufstand hat sie schrecklich wütend gemacht. Androl möchte mit einer riesigen Streitmacht losmarschieren und Matherion besetzen, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Das halte ich nicht für ratsam – vorsichtig ausgedrückt. Die Ataner achten nicht allzusehr auf Rang oder Stellung, wenn sie beschließen, jemanden zu töten.«

»Das ist uns nicht entgangen«, erwiderte Sarabian trocken. »Wegen der Maßnahmen, die Engessa ergriffen hat, um die Rebellion niederzuschlagen, sind von den Familien der Edelleute eine Unmenge von Protestschreiben eingegangen.«

»Ich habe mit Betuana gesprochen, Majestät«, fuhr Norkan fort. »Sie hat versprochen, ihren Gemahl kürzer an der Leine zu halten, bis ich mit Euren Anweisungen zurückkehre. Wenn ich Euch raten darf – irgend etwas Knappes, Bündiges wie ›Sitz!‹ oder ›Still!‹ wäre wohl am passendsten, wenn man Androls geistige Fähigkeiten in Betracht zieht.«

»Wie ist es Euch je gelungen, Diplomat zu werden, Norkan?«

»Ich habe mir eine Menge Lügen ausgedacht.«

»Ein Vorschlag, Majestät«, warf Tynian ein.

»Heraus damit, Ritter Tynian.«

»Wir wollen König Androl doch nicht wirklich aus der Ruhe bringen, nicht wahr? Eine Andeutung, daß er in Atana bleiben soll, um möglicherweise mit einer weit größeren Bedrohung fertig zu werden, wäre vermutlich angebrachter, als ihn ohne Abendessen zu Bett zu schicken.«

»Welch originelle Formulierung, Ritter Tynian. Also gut, Norkan, schickt Engessa.«

Norkan blinzelte.

»Was ist, Mann?« schnaubte Sarabian.

»Daran mußt du dich gewöhnen, Norkan«, erklärte ihm Oscagne. »Der Kaiser bevorzugt manchmal verbale Abkürzungen.«

»Oh, ich verstehe.« Norkan dachte darüber nach. »Dürfte ich fragen, weshalb Engessa besser geeignet ist, Eure Anweisungen zu übermitteln als ich, Majestät?«

»Weil Engessa viel schneller laufen kann als Ihr, und weil er Unsere Befehle in einer Sprache übermitteln kann, die Androl vermutlich besser versteht. Außerdem wird er bei Engessas Erscheinen eher an einen militärischen Grund glauben, und das dürfte Androl am sichersten besänftigen. Ihr könnt Betuana den wahren Grund erklären, sobald Ihr wieder zurück seid.«

»Weißt du was, Oscagne?« sagte Norkan. »Er könnte sich vielleicht doch als ziemlich brauchbar erweisen – wenn wir ihn davor bewahren können, anfangs zu viele Fehler zu machen.«

Oscagne wand sich.

Sperber tippte Vanion auf die Schulter und gab ihm einen Wink mit dem Kopf. Beide schlenderten scheinbar gleichmütig zum anderen Ende des Thronsaals. »Ich habe ein Problem, Vanion«, murmelte Sperber.

»Ach?«

»Ich habe mir den Kopf nach einer Ausrede zerbrochen, wie wir Matherion lange genug verlassen können, uns den Bhelliom zurückzuholen. Aber mir fällt nichts ein, was nicht schon ein Kind durch schauen würde. Ehlana ist nicht dumm, weißt du.«

»Das ist sie wahrhaftig nicht!«

»Aphrael will nicht recht mit der Sprache heraus, aber ich habe das starke Gefühl, sie möchte, daß wir mit demselben Schiff fahren wie Emban und Tynian. Und mir fallen keine weiteren Ausreden mehr ein, ihre Abreise zu verschieben.«

»Bittet doch Oscagne um Hilfe.« Vanion zuckte die Schultern. »Er ist Diplomat, da fällt ihm das Lügen nicht schwer.«

»Die Idee ist nicht schlecht. Nur kann ich Oscagne nicht sagen, wohin wir wollen und was wir dort beabsichtigen, nicht wahr?«

»Ihr müßt es ihm ja auch nicht sagen. Sagt ihm einfach, Ihr braucht einen glaubhaften Grund, die Stadt eine Zeitlang zu verlassen. Setzt eine ernste, undurchdringliche Miene auf und belaßt es dabei. Oscagne hat genug Erfahrung, Anzeichen offizieller Verschwiegenheit zu erkennen.«

»Natürlich! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«

»Wahrscheinlich, weil Euer Gelübde Euch dabei im Weg ist. Ich weiß, daß Ihr geschworen habt, die Wahrheit zu sagen, aber das bedeutet nicht, daß Ihr mit der ganzen Wahrheit herausrücken müßt. Ihr dürft ruhig einen Teil übergehen. Gewisse Dinge zu übergehen, ist das Vorrecht der Hochmeister.«

Sperber seufzte. »Wieder mal zurück auf die Schulbank. Offenbar bin ich dazu verdammt, mein Leben lang Unterricht von Euch zu bekommen – und mich dabei ganz klein zu fühlen.«

»Wozu hat man Freunde, Sperber?«

»Du willst es mir also nicht sagen?« Sperber bemühte sich, nicht vorwurfsvoll zu klingen.

»Noch nicht, jedenfalls«, antwortete Prinzessin Danae, während sie versuchte, ihrer Katze den Hut einer Puppe um den Kopf zu binden. Murr schien das gar nicht zu gefallen, doch sie ließ dieses Spielchen ihrer Herrin mit resigniertem Blick über sich ergehen.

»Warum nicht?« fragte Sperber seine Tochter und ließ sich in einen der blauen Sessel in der königlichen Suite fallen.

»Weil immer noch etwas geschehen könnte, das die Reise unnötig macht. Du wirst Bhelliom nicht finden, Vater, bis ich beschließe, daß du ihn finden sollst

»Du möchtest aber, daß wir dasselbe Schiff nehmen wie Tynian und Emban?«

»Ja.«

»Wie weit soll die Reise gehen?«

»Das spielt im Grunde keine Rolle. Für mich ist nur wichtig, daß wir gemeinsam abreisen.«

»Dann hast du gar kein bestimmtes Ziel?«

»Natürlich nicht. Ich muß nur Tynian mindestens zwei Tage dabei haben. Wir können mit dem Schiff ein paar Meilen hinausfahren, wenn du möchtest. Wir können aber auch im Kreis segeln, falls es dir lieber ist. Das ist für mich gehupft wie gesprungen.«

»Danke«, sagte er beißend.

»Nichts zu danken. Da.« Sie hob die Katze hoch. »Sieht sie mit ihrem neuen Hut nicht süß aus?«

»Goldig.«

Murr bedachte Sperber mit bösem Blick.

»Ich kann Euch leider nicht sagen, weshalb, Exzellenz«, erklärte Sperber Oscagne später, als sie zufällig allein durch einen der Korridore gingen. »Ich brauche einen glaubhaften Grund, mich mit einer Gruppe von neun oder zehn Freunden auf unbestimmte Zeit außerhalb Matherions aufzuhalten – möglicherweise ein paar Wochen. Er muß sich so plausibel anhören, daß ich meine Frau von der dringenden Notwendigkeit überzeugen kann. Aber nicht so ernst anhören, daß sie sich Sorgen macht. Und ich muß dasselbe Schiff wie Emban und Tynian nehmen.«

»Na schön.« Oscagne nickte. »Seid Ihr ein guter Schauspieler, Prinz Sperber?«

»Ich glaube nicht, daß jemand Geld dafür ausgeben würde, mich auf einer Bühne zu sehen.«

Oscagne überging die Bemerkung. »Ich nehme an, Ihr braucht diese Ausrede hauptsächlich für Eure Gemahlin?«

»Ja.«

»Dann wäre es sicher das Beste, wenn der Einfall, Euch irgendwohin zu schicken, von ihr selbst käme. Ich werde sie dazu bringen, daß sie Euch gewissermaßen auf einen unbedeutenden Botengang schickt. Alles Weitere ist dann Euch selbst überlassen.«

»Ich möchte wirklich sehen, wie Ihr versucht, Ehlana dazu zu bringen!«

»Verlaßt Euch ganz auf mich, alter Junge.«

»Tega?« Sarabian zog die Brauen hoch und blickte seinen Außenminister an. »Der einzige Aberglaube auf der Insel Tega besteht darin, daß man es dort als böses Omen betrachtet, den Preis für Muscheln nicht jedes Jahr zu erhöhen.«

»Sie haben es uns bisher nur deshalb nie gestanden, weil sie Angst hatten, wir würden sie auslachen, Majestät«, erwiderte Oscagne ruhig. In dem blauen Wams und dem engen Beinkleid, die Sarabian ihm zu tragen befohlen hatte, schien er sich gar nicht wohlzufühlen. Er wußte offenbar nicht, wohin mit den Händen, und schämte sich möglicherweise seiner knochigen Beine. »Ausgelacht zu werden ist das Schlimmste, das die Teganer sich vorstellen können. Sie sind die langweiligsten Leute auf der ganzen Welt.«

»Ich weiß. Gahenas, meine teganische Frau, schafft es immer wieder, daß ich sofort einschlafe – sogar, wenn wir…« Der Kaiser warf einen verstohlenen Blick auf Ehlana und beendete den Satz nicht.

»Die Teganer haben eine Kunst daraus gemacht, sich und andere zu langweilen, Majestät«, bestätigte Oscagne. »Jedenfalls gibt es eine alte teganische Legende, daß die Austernbänke von einer Nixe heimgesucht werden, die angeblich Austern mitsamt den Schalen und auch andere Muscheln ißt. Das macht den Teganern sehr zu schaffen. Außerdem verführt diese Nixe teganische Taucher, die dann während des Austausches von Zärtlichkeiten ertrinken.«

»Sind Nixen denn nicht zur Hälfte Mädchen und zur anderen Hälfte Fisch?« fragte Ulath erstaunt.

»Wenn man den Sagen glauben kann, ja«, erwiderte Oscagne.

»Und reicht die Fischhälfte nicht von der Taille abwärts?«

»Auch das geht aus den Sagen hervor.«

»Wie ist es dann möglich…« Dann erinnerte Ulath sich ebenfalls, daß Ehlana bei ihnen war. Er warf ihr einen raschen Blick zu und schwieg abrupt.

»Was wolltet Ihr sagen, Ritter Ulath?« erkundigte Ehlana sich scheinbar arglos.

»Es … äh … nichts Wichtiges, Majestät«, stammelte er verlegen.

»Ich hätte diese absurde Legende gar nicht zur Sprache gebracht, Majestäten«, sagte Oscagne zu Ehlana und Sarabian, »wäre es kürzlich nicht zu gewissen Ereignissen gekommen. Die Parallelen zwischen den Vampiren in Arjuna, den Leuchtenden im Süden Atans, und den Werwölfen, Ghuls und Oger in anderen Teilen des Imperiums sind ziemlich auffallend, findet ihr nicht? Ich könnte mir vorstellen, daß jemand, der sich jetzt nach Tega begibt und sich umhört, Geschichten über irgendeinen zu neuem Leben erweckten vorsintflutlichen Perlentaucher hören würde, und daß er auf einen Aufwiegler stößt, der behauptet, dieser Held und seine Nixengeliebte würden die Austern in einem Großangriff gegen Matherion führen.«

»Wie originell«, murmelte Sarabian.

»Bedaure, Majestät«, entschuldigte sich Oscagne. »Ich will damit nur darauf hinweisen, daß wir es auf Tega wahrscheinlich mit einem ziemlich unerfahrenen Aufrührer zu tun haben – doch unerfahren oder nicht, er weiß sicher eine ganze Menge über die gesamte Verschwörung. Und da unsere hiesigen Freunde nicht zulassen wollen, daß wir Kolata allzu eingehend verhören, müssen wir schauen, anderswo Näheres zu erfahren.«

»Wir lassen Kolata nicht ohne Grund vorerst ungeschoren, Exzellenz«, warf Kalten ein. »Wir haben schon zu oft erlebt, was mit Gefangenen geschieht, die kurz davor sind, den Mund aufzumachen. Kolata ist uns noch von Nutzen – aber nur, solange er heil und gesund bleibt. In kleinen unappetitlichen Brocken über die ganze Burg verstreut, dürfte er uns keine große Hilfe mehr sein.«

Oscagne schüttelte sich. »Ich verstehe, Ritter Kalten. – Wie dem auch sei, Majestät, wenn es sich ermöglichen ließe, daß einige unserer elenischen Freunde sich nach Tega begeben, um diesen Burschen aufzuspüren und mit ihm reden, ehe unser Feind ihn zerstückelt, könnte er wahrscheinlich dazu gebracht werden, uns alles zu sagen, was er weiß. Ritter Sperber hat in dieser Beziehung einen gewissen Ehrgeiz, wenn ich mich nicht irre. Er möchte gern herausfinden, ob er jemanden so sehr ausquetschen kann, daß dem Betreffenden das Blut aus den Haarspitzen läuft.«

»Ihr habt eine sehr bildhafte Vorstellung, Sperber«, bemerkte Sarabian. »Was meint Ihr, Ehlana, könntet Ihr Euren Gemahl eine Zeitlang entbehren? Wenn er und einige seiner Ritter sich nach Tega begäben und die gesamte Insel ein paar Stunden unter Wasser hielten – wer weiß, welche Informationen dann an die Oberfläche blubbern.«

»Das ist eine sehr gute Idee, Sarabian. Sperber, wie wär's, wenn du dich mit einigen unserer Freunde auf der Insel Tega umsiehst?«

»Ich würde lieber bei dir bleiben, Ehlana«, entgegnete er scheinbar widerstrebend.

»Das ist lieb von dir, Sperber, aber wir haben schließlich eine gewisse Verantwortung, nicht wahr?«

»Befiehlst du mir, dorthin zu reisen, Ehlana?«

»So darfst du es wirklich nicht auslegen, Sperber. Ich halte es lediglich für angebracht.«

»Wie meine Königin befiehlt.« Sperber seufzte tief und mühte sich nach Kräften, eine noch betrübtere Miene aufzusetzen.