22

Ehlana erhob sich vom Stuhl, ging zu Sephrenia und küßte deren Handflächen. Wie so oft staunte Sperber, daß seine junge Gemahlin instinktiv genau das Richtige tat.

»Ihr habt uns sehr gefehlt, kleine Mutter«, sagte sie. »Fühlt Ihr Euch jetzt besser?«

Ein schwaches Lächeln huschte über Sephrenias Lippen. »Was versteht Ihr genau unter besser, Ehlana?« Sie musterte die blonde Königin. »Ihr bekommt nicht genug Schlaf!«

»Ihr seht auch ein wenig blaß aus«, erwiderte Ehlana. »Wir haben wohl beide Gründe genug dafür.«

»O ja.« Sephrenia blickte auf die besorgten Gesichter ihrer Freunde. »Seht mich nicht so an! Es wird schon wieder! Und es tut mir leid, daß ich mich schlecht benommen habe.« Sie hob die Hand und strich Kalten sanft über die Wange. »Mein tyrannischer Freund hier behauptet zwar, daß es nicht sein muß, aber ich möchte mich dennoch entschuldigen.«

»Ihr hattet mehr als Grund genug, die Fassung zu verlieren«, versicherte Sperber. »Wir waren Euch gegenüber ziemlich rücksichtslos.«

»Das entschuldigt mein Benehmen nicht, Lieber.« Sie holte tief Atem, straffte die Schultern und durchquerte das Gemach. Mit einer Miene, die deutlich verriet, daß sie bereit war, eine unangenehme Pflicht hinter sich zu bringen, trat sie zu Xanetia. »Wir haben wahrlich keinen Grund, einander zu mögen, aber wir sollten zumindest höflich zueinander sein, Anarae«, sagte sie. »Das war ich nicht. Es tut mir leid.«

»Euer Mut macht Euch Ehre, Sephrenia von Ylara. Ich gestehe, daß es mir sehr schwerfallen würde, einem Feind gegenüber einen Fehler einzugestehen.«

»Was hat Ritter Kalten getan, daß Ihr wieder zu Euch gekommen seid, erhabene Sephrenia?« fragte Sarabian neugierig. »Ihr wart in die tiefste Verzweiflung verfallen, und Kalten wäre nicht meine erste Wahl gewesen, Euch daraus zu befreien.«

»Weil Ihr ihn nicht kennt, Sarabian. Er hat ein großes Herz und zeigt seine Zuneigung auf sehr direkte Weise. Er hat die Tür zu meiner Kammer eingetreten und ließ mir keine Luft, bis ich zur Besinnung kam.« Sie dachte kurz nach. »Er hat mich einfach in die Arme genommen und mir gesagt, daß er mich liebt. Er sagte es wieder und wieder und jedesmal rührte es mich tief im Herzen. Elenier verstehen sich sehr gut darauf, andere liebevoll unter Druck zu setzen. Ich habe Kalten eine Zeitlang angeschrien. Dann habe ich versucht, ihn zu schlagen. Aber auf Kalten einzuschlagen ist so, als würde man mit den Fäusten gegen eine Mauer hämmern. Ich habe es sogar mit Weinen versucht – damit hatte ich bisher immer Erfolg –, doch da erbot er sich nur, mir eine Tasse Tee aufzubrühen.« Sie zuckte die Schultern. »Nach einer Weile wurde mir klar, daß er mich auch weiterhin lieben würde, egal, was ich tat, und daß ich mich umsonst zum Narren machte. Deshalb bin ich jetzt hier.« Sie lächelte Alean an. »Ich weiß nicht, ob es Euch bewußt ist, Liebes, aber Ihr seid um Ritter Kalten zu beneiden. Haltet ihn gut fest!«

»Das werde ich, erhabene Sephrenia«, versicherte ihr das rehäugige Mädchen und errötete leicht.

Sephrenia blickte sich um und wurde plötzlich vollkommen sachlich. »Ich bin sicher, wir haben Wichtigeres zu besprechen, als mein schlechtes Benehmen. Habe ich viel versäumt?«

»Ach, eigentlich nicht, teure Schwester«, antwortete Stragen im schleppenden Tonfall Caaladors. »Bis jetzt haben wir eigentlich nur erfahren, daß Zalasta für fast jede Katastrophe in den letzten Jahrhunderten verantwortlich ist. Leider haben wir noch nicht genügend Beweise, ihm das hier und heute anzulasten.«

»Aber wir arbeiten daran!« fügte Caalador hinzu.

Sperber faßte kurz zusammen, was Xanetia ihnen über Zalasta und die dunkle Seite seines Wesens erzählt hatte. Es überraschte Sephrenia, daß Zalasta es gewesen war, der Martel benutzt hatte.

»Ich möchte niemanden beleidigen, teuere Schwester«, sagte Stragen, »aber mir scheint, daß die Jüngeren Götter nicht streng genug zu diesen geächteten Styrikern waren. Sie geben sich offenbar zu allem her, was anderen schaden kann. Etwas Dauerhafteres als die Verbannung wäre wahrscheinlich eine bessere Lösung gewesen.«

»Die Jüngeren Götter waren nicht dazu bereit, Stragen.«

»Wirklich bedauerlich«, murmelte er. »Jetzt bleibt es wohl uns überlassen. Wir haben da draußen eine Schar Leute, die außerordentlich geschickt sind, die Ordnung wiederherzustellen. Notfalls mit einigem Nachdruck.« Seine Augen bekamen einen durchtriebenen Ausdruck. »Ich habe eine Idee. Wie wär's, wenn ihr eine Liste mit den Namen aufstellen laßt und sie mir gebt? Dann werde ich dafür sorgen, daß die Geheime Regierung sich um all die unangenehmen Einzelheiten kümmert. Wir bräuchten nicht einmal die Jüngeren Götter oder das übrige Styrikum damit zu belästigen. Ihr macht die Vorschläge, und alles weitere nehme ich in die Hand – als persönlichen Gefallen, wenn Ihr so wollt.«

»Ihr seid verderbt, Stragen!«

»Ja. Ich dachte mir gleich, daß es Euch auffällt.«

»Was hat Zalasta getan, nachdem Sperber Azash vernichtet hatte?« wollte Talen wissen. »War es ihm keine Lehre, daß es klüger wäre, sich unserem Freund fernzuhalten?«

»Er war zornig, junger Herr«, antwortete Xanetia. »Anakha hatte Jahrzehnte geduldiger Arbeit in einer Nacht zunichte gemacht, und nun, mit Bhelliom fest in seiner Hand, war er gefährlicher denn je. Zalastas Hoffnung, ihm den Stein zu entreißen, war dahin. So floh er enttäuscht und rasend vor Wut aus Zemoch.«

»Und weil er fortrannte, entging es ihm, daß Sperber den Stein ins Meer warf«, fügte der Junge hinzu. »Er ging davon aus, daß Sperber ihn noch immer bei sich trug.«

Xanetia nickte. »Zalasta kehrte nach Verel zurück, um diese katastrophale Wendung mit Ogerajin und einigen anderen Geächteten zu besprechen.«

»Wie viele sind es, Anarae?« fragte Kalten. »Und wie sind sie? Es ist immer gut, soviel wie nur möglich über den Feind zu wissen.«

»Es sind sehr viele, Ritter Kalten, doch neben Zalasta und Ogerajin sind vier besonders gefährlich. Sie sind die mächtigsten und verruchtesten Frevler von ganz Styrikum. Ogerajin ist der bei weitem verderbteste, doch seine Kräfte lassen einer gräßlichen Krankheit wegen nach, die ihm allmählich den Verstand zerfrißt.« Xanetia wirkte plötzlich sehr verlegen, ja, sie errötete sogar. »Es ist eine dieser Krankheiten, die jene befällt, die Unzucht im Übermaß betreiben.«

»Äh …« Sarabian kam ihr zu Hilfe. »Ich halte es nicht für nötig, die Einzelheiten von Ogerajins Krankheit zu erörtern. Sagen wir doch einfach, daß er behindert ist, und lassen es dabei. Wer sind die anderen, Anarae?«

Sie blickte ihn dankbar an. »Cyzada von Eosien ist der erfahrenste in den finsteren Bereichen styrischer Magie, Kaiser Sarabian. Da er dicht an der Ostgrenze von Zemoch lebt, kam er häufig mit den halb styrischen, halb elenischen Magiern jenes verfluchten Landes zusammen und lernte viel von ihnen. Er vermag geschickt in die Finsternis zu greifen, die Azashs Geist umgab und kann gewisse Kreaturen beschwören, die den Älteren Göttern dienten.«

»Damorker?« fragte Berit. »Sucher?«

»Die Damorker sind mit ihrem Herrn zugrunde gegangen, Herr Ritter. Das Schicksal der Sucher ist ungewiß. Cyzada scheut davor zurück, diese wie jene zu beschwören, denn nur Otha war fähig, sich ihren Gehorsam zu erzwingen.«

»Das ist doch schon etwas«, sagte Khalad. »Ich habe einige Geschichten gehört, die ich nicht gern aus eigener Erfahrung bestätigt sehen möchte.«

»Außer mit Cyzada haben Zalasta und Ogerajin sich auch noch mit Ptaga aus Jura, Ynak aus Lydros und Djarian aus Samar verbündet«, fuhr Xanetia fort.

»Ich habe von ihnen gehört«, sagte Sephrenia finster. »Ich hätte nie geglaubt, daß Zalasta so tief sinken könnte.«

»So schlimm?« fragte Kalten.

»Noch schlimmer! Ptaga ist ein Meister darin, Trugbilder zu erschaffen und den schmalen Pfad zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu verwischen. Man erzählt, er könne Frauen entstehen lassen, um die perversen Lüste ausschweifender Menschen zu befriedigen. Für diese Trugfrauen, die in dieser Hinsicht echten Frauen überlegen sind, läßt er sich sehr gut bezahlen.«

»Sieht ganz so aus, als hätte er sich beruflich verbessert«, bemerkte Oscagne. »Außer den schönen Damen erschafft er jetzt auch noch sehr echt wirkende Trugbilder von Ungeheuern. Das wäre zumindest eine Erklärung für die Vampire und dergleichen.«

»Ynak hat den Ruf, wie kein anderer auf der Welt Streit hervorrufen zu können. Er kann Jahrhunderte währende Fehden zwischen Familien verursachen, indem er lediglich an ihren Häusern vorbeispaziert. Wahrscheinlich ist Ynak für die Zunahme des Rassismus in den elenischen Königreichen im Westen verantwortlich. Und Djarian ist vermutlich der unübertrefflichste Nekromant der Welt. Man sagt von ihm, er könne Personen auferstehen lassen, die es gar nicht wirklich gegeben hat.«

»Ganze Armeen?« fragte Ulath. »Wie diese altertümlichen Lamorker oder die Cyrgai?«

»Das bezweifle ich«, antwortete Sephrenia, »obwohl ich mich natürlich irren kann. Immerhin war es Zalasta, der es als unmöglich hinstellte, und er kann uns durchaus belogen haben.«

»Ich habe eine Frage, Anarae«, sagte Talen. »Könnt Ihr Zalastas Gedankenwelt nicht nur lesen, sondern auch sehen?«

»In gewissem Maße junger Herr.«

»Worauf willst du hinaus, Talen?« fragte Sperber.

»Ihr erinnert Euch doch an den Zauber, den Ihr benutzt habt, um Kragers Gesicht in der Waschschüssel sichtbar zu machen. Ihr wißt schon – damals in Platimes Keller in Cimmura.«

Sperber nickte.

»Ein Name ist nur ein Name«, sagte Talen, »und es ist anzunehmen, daß gerade diese Styriker nicht herumlaufen und ihn öffentlich verkünden. Stragen erwähnte, daß man sie gewissermaßen außer Gefecht setzen sollte. Würden Bilder das nicht erleichtern? Wenn Xanetia aus Zalastas Gedächtnis weiß, wie diese Halunken aussehen, und wenn sie es mich ebenfalls sehen ließe, könnte ich Bilder von den Kerlen zeichnen. Stragen könnte diese Bilder dann nach Verel schicken – oder wo immer diese Styriker sind –, und Zalasta würde plötzlich ein paar Leute verlieren, mit deren Unterstützung er fest rechnet. Ich glaube, das sind wir ihm schuldig, oder nicht?«

»Der Junge hat Köpfchen, Sperber!« Ulath grinste.

»Etwas habt Ihr nicht bedacht junger Herr«, sagte Xanetia. »Der Zauber, von dem Ihr sprecht, ist ein styrischer. Er ist mir nicht vertraut.«

»Sephrenia könnte ihn Euch lehren.« Talen zuckte die Schultern.

»Du verlangst Unmögliches, Talen!« rügte Bevier ihn. »Sephrenia und Xanetia sind gerade erst so weit, daß sie sich im selben Zimmer aufhalten können, ohne einander an die Kehle gehen zu wollen! Es gehört viel Vertrauen dazu, andere Personen Zauber zu lehren oder sie zu erlernen.«

Doch Xanetia und Sephrenia hatten bereits einen langen, besorgten Blick gewechselt. »Verwerft eine gute Idee nicht so einfach, Bevier«, murmelte Sephrenia. »Es gäbe da schon einige Möglichkeiten, Anarae«, sagte sie vorsichtig. »Vermutlich schaudert Euch bei dieser Vorstellung ebensosehr wie mir, doch um dieser Sache willen sollten wir lernen, einander zu trauen. Falls wir Eure Magie mit meiner verbinden könnten …« Sie ließ den Satz unbeendet.

Xanetia spitzte die Lippen und ihr Gesichtsausdruck unterschied sich kaum von dem Sephrenias. Sie dachte so angestrengt nach, daß ihre Selbstbeherrschung ein wenig nachließ und ihr Gesicht schwach zu leuchten begann. »Das Bündnis unserer beider Rassen hat die Cyrgai tatsächlich beinahe in die Knie gezwungen«, bemerkte sie in demselben vorsichtig fragenden Tonfall wie zuvor Sephrenia.

»In diplomatischen Kreisen ist dies der Punkt, an dem Verhandlungen für gewöhnlich unterbrochen werden, damit die Angelegenheit mit den Regierungen geklärt werden kann«, sagte Oscagne.

»Die Anarae und ich sind nicht verpflichtet, uns Anweisungen zu holen, weder von Sarsos noch Delphaeus, Exzellenz«, wandte Sephrenia ein.

»Das gilt auch für die meisten Diplomaten.« Er zuckte die Schultern. »Die Behauptung ›ich muß zuerst mit meiner Regierung Rücksprache halten‹ ist lediglich eine höfliche Weise zu sagen: ›Euer Vorschlag ist interessant, aber ich brauche Zeit, darüber nachzudenken und mich daran zu gewöhnen.‹ Ihr betretet Neuland, meine Damen. Ich würde euch empfehlen, nichts zu überstürzen.«

»Was meint Ihr, Sephrenia von Ylara?« Xanetia lächelte schüchtern. »Sollen wir eine Pause für eine imaginäre Besprechung mit Sarsos und Delphaeus einlegen?«

»Das wäre vielleicht keine so schlechte Idee, Xanetia von Delphaeus«, pflichtete Sephrenia ihr bei. »Solange wir beide wissen, daß es nur eine Vorspiegelung ist, brauchen wir keine Zeit damit zu vergeuden, auf nicht vorhandene Kuriere zu warten, die Phantasiereisen machen müssen, ehe wir die Verhandlungen wieder aufnehmen.«

»Nach der Vernichtung der Stadt Zemoch und sämtlicher Einwohner trafen sich Zalasta und seine Kumpane in Verel, um über ihre weitere Vorgehensweise zu beratschlagen«, erzählte Xanetia nach einer kurzen Pause weiter. »Sie alle kamen zu dem Schluß, daß sie es mit Anakha und Bhelliom nicht aufnehmen konnten. Ogerajin wies darauf hin, daß Zalasta ein Bündnis mit Otha eingegangen sei, und daß es keine direkte Verbindung zu Azash gegeben habe. Er sprach sehr geringschätzig darüber zu Zalasta, und Zalastas Groll über diese Worte hält immer noch an.«

»Das ist sehr gut«, stellte Vanion fest. »Aus Unstimmigkeiten unter den Feinden kann man für gewöhnlich großen Nutzen ziehen.«

»Die Anwesenheit des streitsüchtigen Ynak erhöhte ihre Unstimmigkeiten, Hochmeister Vanion. Ogerajin tadelte Zalasta und fragte ihn, ob er so aufgeblasen sei, daß er sich einem Gott ebenbürtig glaube, denn Ogerajin hält Anakha für einen Gott – oder für gottgleich –, da er Bhelliom einsetzen kann.«

»Wie ist es, mit einem Gott verheiratet zu sein, Ehlana?« spöttelte Sarabian.

»Es hat seine Vorteile.« Sie lächelte.

»Dann schloß Cyzada von Esos sich ihrer Diskussion an«, fuhr Xanetia fort. »Auf seine durchtriebene Weise schlug er einen Pakt mit einem oder auch mehreren der unzähligen Halbgötter der Unterwelt vor. Doch die anderen trauten ihm nicht, da er allein die Beschwörungen wußte, mit denen diese Kreaturen der Finsternis gerufen und beherrscht werden konnten. In der Tat vertraut in diesem verruchten Kreis keiner dem anderen. Zalasta hält ihnen den höchsten Preis vor Augen, und er weiß sehr wohl, daß jeder von ihnen insgeheim nach dem Stein giert und ihn für sich allein haben möchte. Es ist ein unsicheres Bündnis, das Zalasta und seine Spießgesellen eingegangen sind.«

»Und was haben sie schließlich zu tun beschlossen, Anarae?« erkundigte sich Kring. Sperber war schon oft aufgefallen, daß der Domi bei diesen Besprechungen selten etwas sagte. Kring fühlte sich in Zimmern nicht wohl, und die Feinheiten der Politik, die Ehlana und Sarabian so erfreuten, langweilten ihn ganz offensichtlich. Die Politik der Peloi war geradeheraus und schlicht – und meist blutig.

»Sie stimmten überein, daß sie – um welchen Preis auch immer – bereitwillige Helfer in der Regierung des Imperiums finden würden«, sagte Xanetia.

»Damit hatten sie vollkommen recht«, brummte Sarabian. »Wenn das, was wir gestern erlebt haben, bezeichnend dafür ist, müssen meine Minister regelrecht Schlange gestanden haben, mich zu verraten!«

»Es war nicht persönlich, mein Kaiser«, versicherte Oscagne ihm. »Wir verrieten einander, nicht Euch.«

»Ist jemand auch an Euch herangetreten?«

»Mehrere sogar. Aber sie hatten mir nichts zu bieten, das von Interesse für mich war.«

»Wahrheit in der Politik, Oscagne?« Sein Bruder tat erstaunt. »Schaffst du da nicht einen ungünstigen Präzedenzfall?«

»Werde endlich mal erwachsen, Itagne! Ist dir immer noch nicht klar geworden, daß man Sarabian nichts vormachen kann? Er erhebt Anspruch darauf, ein Genie zu sein. Vielleicht hat er sogar recht damit – aber warten wir ab, was geschieht, wenn wir ihm auch seine letzten Illusionen geraubt haben.«

»So frei geradeheraus zu sprechen, ist sehr unhöflich, Oscagne«, rügte ihn Sarabian. »Ich bin nämlich hier und höre es!«

»Tatsächlich, Majestät!« tat Oscagne übertrieben verwundert. »Ist das nicht erstaunlich?«

Sarabian lachte. »Was kann ich tun?« wandte er sich an Ehlana. »Ich brauche ihn zu sehr, also muß ich ihn nehmen wie er ist. Warum habt Ihr mir nicht davon erzählt, Oscagne?«

»Es passierte, als Ihr noch Einfältigkeit vorgetäuscht habt, Majestät. Ich wollte Euch nicht unsanft aus diesem Zustand wecken. – Es könnte dieser Ynak gewesen sein, Anarae. Einer dieser Männer, die mich angingen, war Styriker. Selten bin ich einem widerlicheren Individuum begegnet! Selbst Ziegen sind mir untergekommen, die besser rochen. Der Kerl war ausgesprochen abstoßend. Seine Augen blickten in zwei Richtungen zugleich, und seine Zähne waren faulende Stummel, die so aussahen, als hätte er braune Eiszapfen im Maul.«

»Eure Beschreibung paßt zu Zalastas Erinnerung an ihn.«

»So wie der aussieht, wird's ja nicht so schwer sein, ihn zu finden, Stragen«, meinte Caalador. »Wenn du willst, laß ich den Leuten in Verel ausrichten, sie sollen sich nach ihm umgucken. Wenn der Kerl so scheußlich ist, wie der Aus'minister sagt, geht er kei'm ab.«

Xanetia blickte ihn verwirrt an.

»Das ist eine Rolle, die mein Kollege gern spielt, Anarae«, entschuldigte Stragen sich für Caalador. »Er gibt sich gern als unwissender Tölpel aus und behauptet, keiner könne ihn durchschauen. Aber ich glaube, er tut es nur, um mich zu ärgern.«

»Eure Elenier sind lustig und voller Übermut, Sephrenia von Ylara«, sagte Xanetia.

»Ich weiß, Anarae.« Sephrenia seufzte. »Es ist eine der Bürden, die ich tragen muß.«

»Sephrenia!« entrüstete Stragen sich milde.

»Wie habt Ihr das Angebot dieses Burschen ausschlagen können, ohne einen Dolch in den Rücken zu bekommen, Exzellenz?« fragte Talen Oscagne. »Eine solche Ablehnung ist für gewöhnlich tödlich.«

Oscagne zuckte die Schultern. »Ich sagte ihm, daß der Preis nicht stimmte. Sobald er ein besseres Angebot hätte, wäre ich vielleicht interessiert.«

»Großartig, Exzellenz!« sagte Caalador bewundernd. »Hat er einen Grund genannt, weshalb er an Euch herangetreten ist?«

»Er war ein bißchen vage und hat lediglich Andeutungen über einen großen Schmugglerring gemacht und daß die Hilfe des Außenministeriums nützlich sein könnte, den Weg in einige der Königreiche außerhalb Tamulis zu ebnen. Er ließ auch durchblicken, daß er sich die Hilfe des Innenministers bereits erkauft habe, ebenso die des Finanzministers in seiner Eigenschaft als Leiter der Zollbehörden.«

»Er hat gelogen, Exzellenz«, warf Stragen überzeugt ein. »Soviel Geld läßt sich mit Schmuggeln nicht machen. Es ist ein Geschäft mit hohem Risiko und geringem Gewinn.«

»Der Meinung war auch ich.« Oscagne lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Diese Gruppe von Styrikern drunten in Verel mag sich ja für sehr klug und weltoffen halten, doch verglichen mit Berufsverbrechern und internationalen Geschäftsleuten sind sie wie böse, kleine Kinder. Sie haben sich eine Geschichte ausgedacht, die wirklich nicht sehr überzeugen kann. Was sie tatsächlich wollten, war Zugriff auf die Regierung und die Macht der einzelnen Ministerien, um diese Macht dann zum Sturz der Regierung einzusetzen. Die Regierung mußte am Rand des Zusammenbruchs sein, um mich zu veranlassen, nach Eosien zu reisen und Prinz Sperber zu ersuchen, hierherzukommen und uns zu retten.«

»Es hat funktioniert, oder nicht?« sagte Itagne.

»Na ja, das schon, aber es war sehr plump. Mir persönlich wäre ein so stümperhafter Sieg direkt peinlich. Es ist eine Sache der Gesinnung, Itagne. Jeder Pfuscher kann hin und wieder etwas zustande bringen. Der wahre Könner aber versteht sein Handwerk so gut, daß er sich nicht aufs Glück verlassen muß.«

Bald darauf beschlossen sie, die Besprechung für diesen Tag zu beenden und morgen fortzuführen. Sperber beobachtete Sephrenia und Vanion, als alle den Salon verließen. Die beiden warfen einander hoffnungsvolle, jedoch heimliche Blicke zu. Noch schien keiner bereit, als erstes das Eis zu brechen.

Am nächsten Morgen kamen sie wieder zusammen. Beobachtete man Talen und Kalten, gewann man beinahe den Eindruck, die beiden lägen im Wettstreit, wer zum Frühstück die größten Portionen in sich hineinstopfen konnte.

Nachdem die Gefährten sich einige Minuten über dieses und jenes unterhalten hatten, kamen sie wieder zur Hauptsache. »Kurz nach dem Umsturzversuch hier in Matherion hat Krager mich aufgesucht«, wandte Sperber sich an Xanetia. »Hat er die Wahrheit gesagt, als er behauptete, Cyrgon sei in diese Sache verwickelt?«

Xanetia nickte. »Cyrgon hat allen Grund, die Styriker und ihre Götter zu hassen. Der Fluch, der seine Cyrgai seit zehn Äonen gefangenhält, erzürnt ihn über alle Maßen. Die geächteten Styriker in Verel teilten seinen Haß, denn auch sie waren bestraft worden.« Sie überlegte kurz. »Wir alle haben Grund, Zalasta zu hassen, müssen jedoch anerkennen, daß er einigen Mut bewies. Obwohl er wußte, daß er in Lebensgefahr schwebte, brachte er das Angebot der Geächteten nach Cyrga, der verborgenen Stadt, und unterbreitete es Cyrgon höchstpersönlich.

Der Vorschlag war einfach. Mit Bhellioms Hilfe könnte der Fluch aufgehoben, die Cyrgai wieder auf die Welt losgelassen und die Styriker niedergemacht werden, was ein Bedürfnis sowohl für Cyrgon wie die Geächteten war. Die Cyrgai würden die Welt beherrschen, und Ogerajin und seine Freunde würden in hohe Ämter gelangen. Und nach Aphraels Vernichtung würde Sephrenia endlich Zalasta gehören.«

»Also für jeden etwas«, sagte Sarabian trocken.

»So dachten jedenfalls Ogerajin und Zalasta«, bestätigte Xanetia. »Sie hatten allerdings nicht mit einem besonderen Wesenszug Cyrgons gerechnet. Schon bald mußten sie feststellen, daß er sich in diesem Spiel um die Macht auf gar keinen Fall mit der für ihn vorgesehenen Nebenrolle zufriedengeben würde. Cyrgon befiehlt! Er gehorcht niemandem! Er stellte seinen Hohenpriester, einen gewissen Ekatas, über seine neuen Verbündeten und machte ihnen klar, daß Ekatas in jeder Beziehung für ihn sprach. Zalasta lachte insgeheim über die Einfalt des Gottes, denn er glaubte, der Hohepriester Ekatas würde sterben, wie alle anderen Cyrgai auch, sobald er versuchte, die unsichtbare Grenze im Sand zu überschreiten. Doch Ekatas brauchte es gar nicht. Mit Cyrgons Hilfe sandte er seinen Geist auf die Reise, nicht seinen Leib, so daß er alles beobachten und lenken konnte, ohne Cyrga körperlich zu verlassen. Ekatas Geist vermag über gewaltige Entfernungen zu greifen, nicht nur, um Cyrgons Anweisungen zu übermitteln, sondern auch, um den verstreuten Gruppen der Verschwörer mitzuteilen, was anderswo geschehen ist und was sie zu tun haben.«

»Das erklärt, wie die Nachricht von unserem Kommen so rasch von einem Ende Cynesgas zum anderen gelangen konnte«, warf Bevier ein. »Wir haben uns gefragt, wie es ihnen gelungen ist, uns stets einen Schritt voraus zu sein.«

»Obwohl sie Geächtete und Verachtete sind«, erzählte Xanetia weiter, »sind Ogerajin und die anderen nach wie vor Styriker, und Styriker sind keine kriegerische Rasse. Sie beherrschen das Wort, nicht das Schwert. Cyrgon aber ist ein Kriegsgott. Er befahl ihnen, Armeen aufzustellen und die Ataner anzugreifen, den starken Arm des Imperiums. Die Geächteten waren bestürzt, denn Cyrgon erteilte ihnen Befehle statt der erhofften Ratschläge. Zalasta dagegen, der in Eosien weit herumgekommen war, riet Ekatas, Cyrgon nahezulegen, die Trolle zu täuschen und nach Nordtamul zu locken. Das tat Cyrgon denn auch. Doch er verlangte mehr. Ynak von Lydros, der stets die Wolke des Haders mit sich trägt, vermochte die Feuer der Unzufriedenheit in Tamuli zu entfachen, doch so zänkisch ist sein Wesen, daß niemand ihm freiwillig folgen würde. Armeen benötigen Heerführer, doch als solche sind Styriker ungeeignet. – Ich sage das nicht als Beleidigung, Sephrenia«, fügte sie rasch hinzu. Xanetia und Sephrenia gingen sehr behutsam miteinander um.

»Ich betrachte es auch nicht als Beleidigung, Xanetia«, versicherte Sephrenia. »Ich mag Soldaten.« Ihr Blick huschte zu Vanion. »Na ja, zumindest einige. Aber ich bin trotzdem der Ansicht, daß die Welt ohne Soldaten ein freundlicherer Ort wäre.«

»Das ist nicht nett von Euch«, beschwerte sich Ulath. »Dürfen wir nicht Soldaten sein, müßten wir uns alle nach ehrlicher Arbeit umsehen!«

Xanetia lächelte; dann fuhr sie fort: »Da Cyrgon ungeduldig wurde, reiste Zalasta nach Arjuna, um seinen Sohn Scarpa für dieses Unternehmen zu gewinnen. Nun ist Scarpa anders als sein Vater. Er greift bereitwillig, ja, eifrig, zur Gewalt. Dank seines gut eingeübten selbstsicheren Auftretens und seiner Jahre als Unterhalter auf schäbigen Jahrmärkten verstand er sich auf die Kunst des Redens. Er vermochte Menschenmassen mitzureißen und aufzuwiegeln. Sein Beruf ist jedoch alles andere als angesehen, und das ist wie ein Stachel in Scarpas Fleisch, denn er hat eine sehr hohe Meinung von sich.«

»Das kann man wohl sagen, kleine Dame!« fiel Caalador ein. »Wenn es auch nur annähernd stimmt, was die Diebe von Arjuna mir berichtet haben, bildet Scarpa sich wahrscheinlich sogar ein, er könne fliegen oder auf dem Wasser schreiten, wenn er es wirklich wollte.«

»So ist es«, bestätigte Xanetia. »Zudem empfindet er unendliche Verachtung für die Götter und einen abgrundtiefen Haß auf Frauen.«

»Das ist bei unehelich geborenen Söhnen nicht selten«, stellte Stragen sachlich fest. »Manche von uns geben unseren Müttern – oder unseren Göttern – die Schuld daran, daß wir von der bürgerlichen Gesellschaft abgelehnt werden. Glücklicherweise hatte ich nie Probleme damit. Vielleicht liegt es daran, daß ich schon immer geistreich und charmant war und daher keine weiteren, tiefergehenden Fragen zu beantworten brauchte.«

»Ich hasse ihn, wenn er so überlegen tut!« klagte Baroneß Melidere.

»Es ist eine schlichte Tatsache, meine liebe Baroneß.« Stragen grinste sie an. »Falsche Bescheidenheit ist ein Zeichen von Dummheit, findet Ihr nicht?«

»Verkündet Eure Lebensweisheiten, wenn Ihr anderen nicht die Zeit damit stehlt, Stragen!« tadelte Ehlana. »Hat Zalasta seinen Sohn in alle Einzelheiten dieses Komplotts eingeweiht, Anarae?«

»Ja, Majestät. Bedenkt man das Wesen der beiden, so herrschte erstaunliche Offenheit zwischen ihnen. Doch Scarpa war sehr jung und hatte eine zu hohe Meinung von seiner Klugheit. Zalasta erkannte rasch, daß die einfachen styrischen Zauber, die er seinen Sohn während seiner unregelmäßigen Besuche in Arjuna gelehrt hatte, zwar genügen mochten, die dortigen Bauerntölpel zu täuschen, jedoch keineswegs für ihre Sache ausreichte. Deshalb brachte er Scarpa nach Verel und gab ihm Ogerajin als Lehrmeister.«

»Wann war das, Anarae?« erkundigte Caalador sich interessiert.

»Vor ungefähr fünf Jahren, Meister Caalador.«

»Dann paßt es zu dem, was wir herausgefunden haben. Vor fast genau fünf Jahren verschwand Scarpa aus Arjuna. Zwei Jahre später kehrte er zurück und begann, da und dort die Massen aufzuwiegeln.«

»Es war eine kurze Ausbildung«, bestätigte Xanetia, »doch Scarpa besitzt eine rasche Auffassungsgabe. Allerdings war es sein Lehrmeister, der die Ausbildung beendete; denn er konnte den Hochmut des jungen Mannes nicht mehr ertragen.«

»Dieser Scarpa ist offenbar einer von denen, die niemand ausstehen kann«, bemerkte Talen. »Ich habe ihn nie kennengelernt, kann ihn aber jetzt schon nicht leiden.«

»Selbst Zalasta war ein wenig erschrocken über die Hochnäsigkeit und unfreundliche Art seines Sohnes«, erklärte Xanetia. »Um ihm ein wenig Höflichkeit beizubringen, nahm er ihn nach Cyrga mit, wo ihm ihr Meister vielleicht ein wenig Respekt einflößen würde. Cyrgon befragte den jungen Mann eingehend; dann – offenbar zufrieden – wies er ihn in seine Aufgabe ein. Scarpa verließ den Gott der Cyrgai ohne ein Fünkchen mehr Respekt als vor ihrem Treffen. Zalasta verlor den letzten Rest von Achtung, den er anfangs vor seinem Sohn gehabt haben mochte, und beschloß bereits in Gedanken, daß Scarpa ihren Sieg nicht lange überleben würde, sollte ihr Komplott von Erfolg gekrönt werden.« Xanetia machte eine Pause. »Wenn Ihr es so sehen möchtet, Sephrenia, kann man sagen, Euer Verlangen nach Rache wird gestillt; der erste Schritt dazu ist getan. Zalasta ist eine leere Hülle, ohne Gott und ohne irgend jemanden auf der Welt, der ihn liebt oder ihn auch nur seinen Freund nennt. Selbst die kärgliche Zuneigung, die er für seinen Sohn empfunden hatte, ist erstorben. Zalasta ist leer und einsam.«

Zwei große Tränen traten Sephrenia in die Augen, doch sie wischte sie rasch und verärgert fort. »Das genügt nicht, Anarae!« sagte sie hart.

»Ihr habt zu viel Zeit unter Eleniern verbracht, kleine Mutter«, sagte Sarabian. Sperber horchte auf. Er konnte sich nicht sicher sein, ob der hochintelligente, aber unberechenbare tamulische Kaiser diese liebevolle Anrede absichtlich benutzt hatte oder es ihm nur entschlüpft war.

»Wer hat die anderen rekrutiert, Anarae?« fragte Vanion, um von der ein wenig heiklen Situation abzulenken.

»Das war Scarpa, Hochmeister Vanion«, antwortete sie. »Cyrgon hatte ihn angewiesen, Gleichgesinnte zu suchen, die das Volk in Westtamuli zur Rebellion aufwiegeln sollten, damit Anakha der Weg versperrt sein würde, sollte er mit den Armeen der Kirche heranmarschieren. Cyrgon würde seine geliebten Cyrgai nur ungern durch jemanden wie Euch in Gefahr bringen. Scarpa kannte zufällig einen verarmten dazitischen Edelmann. Von Schulden geplagt und von seinen Schuldnern gedrängt, flüchtete dieser Mann aus Dakonien und versteckte sich eine Zeitlang auf eben jenem arjunischen Jahrmarkt, auf dem Scarpa seine fragwürdige Kunst zeigte. Diesen heruntergekommenen Edelmann, Baron Parok mit Namen, suchte Scarpa auf seinem Heimweg von Cyrga auf. Der in seiner Bedrängnis zu allem bereite Parok schloß sich seinem kurzzeitigen Kollegen gern an; denn die Verlockungen, die Scarpa zu bieten hatte, waren groß. Das skrupellose Paar besprach sich daraufhin mit den verruchten Styrikern in Verel und befolgte deren Rat, den Kaufmann Amador in Edom und den Poeten Elron in Astel anzuwerben, die beide sehr von sich eingenommen und unzufrieden mit der ihnen vom Schicksal zugeteilten Stellung im Leben waren.«

Bevier runzelte die Stirn. »Wir sind beiden begegnet, Anarae, und keiner von ihnen scheint mir das Zeug für einen Führer zu haben. Konnte Scarpa keine besseren Leute finden?«

»Die Auswahl wurde nach der Bereitwilligkeit zur Mitarbeit getroffen, Herr Ritter. Die Fähigkeit, mit Worten zu überzeugen, und die wirkungsvolle gebieterische Pose, die aller Augen auf sich zieht, läßt sich durch gewisse styrische Zauber verleihen. So wenig beeindruckend die beiden auch sind, zeichnete sie doch die hoffnungslose Verzweiflung aus, die Scarpa gesucht hat. Sowohl Amador wie Elron litten unbeschreiblich darunter, so unbedeutend zu sein. Beide waren nur zu gern bereit, alles zu tun, um dies zu ändern.«

»Das haben wir in Thalesien die ganze Zeit vor Augen, Bevier«, erklärte Ulath. »Wir nennen es ›das Klagelied des kleinen Mannes‹. Avin Wargunsson ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Er würde lieber sterben, als nicht beachtet zu werden.«

»Amador ist gar kein so kleiner Mann«, gab Talen zu bedenken.

»So wörtlich ist es auch nicht gemeint, Talen.« Ulath lächelte. »Wie kam eigentlich Graf Gerrich in Lamorkand ins Spiel, Anarae? Und warum?«

»Er wurde auf Zalastas Anweisung von Scarpa rekrutiert, Ritter Ulath. Zalasta wollte Zwietracht und Aufruhr auf dem eosischen Kontinent säen, um die Kirche von Chyrellos zu überzeugen, in ihrem eigenen Interesse Anakha nach Tamuli zu schicken, um die Ursachen der Unruhen in Erfahrung zu bringen. Von ihnen allen ist nur Zalasta auf beiden Kontinenten zu Hause und nur er begreift die Gedankengänge der Kirche. Elron und Amador sind lediglich Figuren in seinem Spiel. Sie wissen nur wenig vom wahren Ausmaß des Unternehmens, dem sie sich angeschlossen haben. Baron Parok ist zwar besser unterrichtet, aber nicht in alle Einzelheiten eingeweiht. Graf Gerrich wirkt nur am Rande mit. Er verfolgt seine eigenen Ziele, die lediglich hin und wieder denen seiner tamulischen Kollegen gleichen.«

»Man muß sie fast bewundern«, meinte Caalador. »Das ist der komplizierteste und bestorganisierte Betrug, von dem ich je gehört habe.«

»Aber er flog auf, als Xanetia die Tür zu Zalastas Bewußtsein öffnete«, wandte Kalten ein. »Sobald wir herausgefunden hatten, daß er schon immer auf der anderen Seite stand, begann das Ganze zu zerbröckeln.« Nachdenklich fragte er: »Wie kam Krager eigentlich dazu?«

»Graf Gerrich hat ihn Scarpa vorgeschlagen«, antwortete Xanetia. »Dieser Krager war ihm früher oft ziemlich nützlich gewesen.«

»O ja!« bestätigte Ulath. »Wir sahen selbst, wie nützlich er ihm vor den Mauern von Baron Alstroms Burg in Lamorkand gewesen ist. Martels Ungeist verfolgt uns noch immer, nicht wahr, Sperber?«

»Wieviel wußten mein Innenminister und die anderen Hochverräter von alldem, Anarae?« erkundigte sich Sarabian.

»So gut wie nichts, Majestät. Im Grunde hielten sie sich nur für Mitwirkende im Machtkampf zwischen Außenminister Oscagne und Innenminister Kolata. Kolata versprach ihnen fette Beute, deshalb folgten sie ihm.«

»Also ganz normale Palastpolitik«, murmelte Sarabian nachdenklich. »Das werde ich bei ihrer Gerichtsverhandlung berücksichtigen müssen. Sie waren nicht wirklich illoyal, nur bestechlich.«

»Alle, außer Innenminister Kolata, Majestät«, wandte Itagne ein. »Bei ihm muß es mehr gewesen sein als einfache politische Streitigkeiten, nicht wahr?«

»Kolata war ebenfalls nur ein Strohmann, Itagne von Matherion. Teovin war Zalastas Mann bei Hof. Ihm brachte Krager Zalastas Anweisungen. Teovin teilte ihm nur soviel mit, wie er unbedingt wissen mußte.«

»Das bringt uns zu dem versuchten Staatsstreich«, sagte Ehlana.

»Krager behauptete Sperber gegenüber, daß gar nicht beabsichtigt gewesen war, den Umsturz zum Erfolg zu führen, sondern daß er nur dazu diente, sich mit unseren Stärken und Schwächen vertraut zu machen. Entspricht das der Wahrheit?«

»Zum Teil, Majestät«, erwiderte Xanetia. »Zalasta wußte nicht, ob er Anakhas Erklärung, er habe Bhelliom im Meer versenkt, glauben sollte. Indem er zur Rebellion auf den Straßen Matherions aufwiegelte und auf diese Weise alle in Gefahr brachte, die Anakha lieb waren, zwang er ihn zu offenbaren, ob der Stein noch in seinem Besitz war oder nicht.«

»Wir haben Zalasta also direkt in die Hände gearbeitet, als wir Bhelliom zurückholten«, sagte Khalad nachdenklich.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Sperber. »Wir hätten nie von Bhellioms Bewußtheit erfahren, hätten wir ihn dort gelassen, wo er war. Und das hat niemand gewußt – außer vielleicht Aphrael. Azash hatte offenbar keine Ahnung, und Cyrgon anscheinend auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie so interessiert an Bhelliom gewesen wären, wenn sie wüßten, daß er sich ihren Befehlen möglicherweise widersetzt, selbst wenn er dabei die Welt vernichten müßte.«

»Also gut«, sagte Khalad. »Jetzt wissen wir, wie es zu alldem kam. Was geschieht als nächstes?«

»Das liegt in der Zukunft, Khalad von Demos«, antwortete Xanetia, »und die Zukunft ist uns allen verborgen. Wisset jedoch, daß unter unseren Feinden große Verwirrung herrscht und ihre Reihen sich lichten. Zalastas Stellung als Berater der Imperiumsregierung war der entscheidende Punkt bei allen ihren Plänen.«

»Wie schnell wird er sich fangen, Sephrenia?« fragte Ehlana. »Ihr kennt ihn besser als irgend jemand sonst. Wird er imstande sein, sofort zurückzuschlagen?«

»Möglicherweise«, antwortete Sephrenia. »Aber was immer er tut, es wird nicht gut durchdacht sein. Zalasta ist Styriker, und wir Styriker reagieren sehr heftig auf Überraschungen. Zalasta wird eine Weile wild um sich schlagen – Berge vernichten, Seen in Brand setzen –, ehe er seine Fassung zurückerlangt.«

»Dann sollten wir gleich wieder gegen ihn vorgehen«, meinte Bevier, »ehe er sich gefangen hat!«

»Ich habe eine Idee«, sagte Sarabian. »Nachdem wir die Geheimakten des Innenministeriums durchforstet hatten, beschlossen wir, uns nur die Anführer der Verschwörer vorzuknöpfen. Um die Helfershelfer und Informanten haben wir uns nicht gekümmert – hauptsächlich, weil wir nicht genügend Platz in den Gefängnissen hatten. Der Innenminister war hier die Hauptperson der Verschwörung, glaube ich, und nun werden Zalasta und seine Kumpane sich wahrscheinlich gezwungen sehen, sich mit den Mitläufern zufriedenzugeben. Würde es Zalasta nicht noch mehr aus der Fassung bringen, wenn ich die Ataner ausschicke, um weiter Verschwörer festzunehmen?«

»Lassen wir ihn lieber erst ein bißchen zu sich kommen, Sarabian«, meinte Sephrenia. »Zur Zeit ist er so wütend, daß er es vielleicht nicht einmal bemerken würde.«

»Hält Norkan sich eigentlich immer noch auf Tega auf?« fragte Vanion plötzlich.

»Nein«, antwortete Ehlana. »Ich wurde der gefälschten Briefe leid, die er mir von dort sandte, also schickten wir ihn nach Atan zurück.«

»Gut. Ich halte es für dringend angebracht, daß wir ihn so schnell wie möglich über Zalastas Verrat informieren. Königin Betuana muß unbedingt Bescheid bekommen!«

»Ich sorge dafür, Vanion-Hochmeister«, versprach Engessa.

»Danke, Engessa-Atan. Falls dieser kleine Gefühlsausbruch im Thronsaal eine Andeutung von Zalastas derzeitiger Gemütsverfassung ist, dürfte er jetzt völlig von Sinnen sein.«

»Rasend bis an den Rand des Wahnsinns«, bestätigte Sephrenia. Es war das erste Mal, daß sie seit des Streits zwischen ihnen direkt zu Vanion sprach. Das gab Sperber ein wenig Hoffnung.

»Dann muß er doch etwas tun, nicht wahr?« fragte Vanion und blickte Sephrenia an. »In seinem derzeitigen Zustand wäre Untätigkeit gewiß unerträglich für ihn, nicht wahr?«

Sie nickte. »Irgend etwas wird er unternehmen. Und da er keineswegs auf das nun Geschehene vorbereitet war, kann nicht im voraus geplant gewesen sein, was er tut.«

»Dann wird er bestimmt jede Menge Angriffspunkte bieten, was meinst du?«

»Das ist anzunehmen.«

»Höchstwahrscheinlich wird er zu roher Gewalt greifen«, fügte Sperber hinzu.

»Warnt Norkan und Betuana besser auch vor dieser Möglichkeit, Engessa-Atan«, wies Sarabian ihn an.

»Wie Ihr befehlt, Sarabian-Kaiser.«

Vanion begann, auf und ab zu stapfen. »Zalasta«, überlegte er laut, »ist immer noch mehr oder weniger der Anführer. Oder wird es zumindest solange sein, bis er sich zu einer solchen Dummheit hinreißen läßt, daß Cyrgon ihn ablöst. Lassen wir ihm doch eine Zeitlang seine Gefühlsausbrüche, ehe wir sie ihm austreiben, und nehmen dann alle die kleinen Mitverschwörer fest. Machen wir unseren Gegnern ein bißchen angst. Dann werden sie über ihre eigene Sterblichkeit nachdenken. Wenn es soweit ist, wird Cyrgon sich zeigen müssen, glaube ich, und dann kann Sperber Bhelliom gegen ihn einsetzen.«

»Ich hasse es, wenn er so ist«, sagte Sephrenia zu Xanetia. »Er ist sich seiner Sache sehr sicher – und wahrscheinlich zu Recht. Männer sind viel anziehender, wenn sie hilflos wie kleine Jungen sind.« Diese beiläufige Bemerkung war erstaunlich. Ohne Zweifel überging Sephrenia den uralten Haß zwischen Styrikern und Delphae und sprach von Frau zu Frau zu Xanetia.

»Dann brauchen wir ja eigentlich nur hier zu sitzen und auf Zalastas nächsten Zug zu warten«, meinte Sarabian. »Ich bin neugierig, was er tun wird.«

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sie es erfuhren. Wenige Tage später schleppte sich ein erschöpfter Ataner mit einer dringenden Nachricht von Botschafter Norkan über die Zugbrücke.

Oscagne, begann die Nachricht mit typischer Direktheit. Rekrutiert jeden verfügbaren Ataner und schickt sie alle hierher. Die Trolle machen den Norden Atans dem Erdboden gleich.