24

»Es ist ein Ablenkungsmanöver«, sagte Ulath am nächsten Morgen. Er studierte eine der schriftlichen Nachrichten, die Kaiser Sarabian mitgebracht hatte. »Die Werwölfe und Vampire und Ghule sind nur Trugbilder. Daher können sie niemandem wirklich etwas anhaben. Und diese Angriffe auf atanische Garnisonen sind nichts anderes als sinnlose selbstmörderische Aktionen, um für weitere Verwirrung zu sorgen, wie sie es zuvor schon getan haben.«

»Ulath hat recht«, pflichtete Sperber bei. »Nichts von alldem ist neu. Es dient keinem anderen Zweck, als die Ataner dort zu halten, wo sie sind.«

»Bedauerlicherweise funktioniert es sehr gut«, warf Bevier ein. »Wir können nicht sehr viele Krieger aus den atanischen Garnisonen abziehen, um Betuana zu helfen, solange dieses Ablenkungsmanöver anhält.«

»Hochmeister Vanions Idee, von jeder Hauptgarnison Trupps zu senden, müßte doch ein wenig helfen!« wandte Sarabian ein.

»Das schon, Majestät«, erwiderte Bevier, »aber wird es genügen?«

»Es muß genügen!« sagte Vanion. »Wir können zur Zeit beim besten Willen nicht mehr Leute entbehren. Außerdem ist die zahlenmäßige Stärke in diesem Fall nicht so bedeutsam. Ein einziger Ataner ist für sich allein schon fast eine halbe Armee.«

Stragen gab Sperber einen Wink, und die beiden schlenderten scheinbar müßig zu der langen Tafel, die als Frühstücksbüffet diente. Der blonde Dieb ließ sich Zeit bei der Auswahl seines Frühstücks. »Es geht«, sagte er leise. »Xanetia muß die Person sehen, deren Gedanken sie fischt. Glücklicherweise hat Berit ein Gebäude gefunden, das ziemlich nahe und ein gutes Stück höher ist als die Botschaft. Dort hat Xanetia jetzt ein komfortables Gemach, dessen Fenster dem Büro des Botschafters genau gegenüberliegt. Sie klaubt allerlei Informationen für uns zusammen – und Namen.«

»Warum verheimlichen wir das vor den anderen?«

»Weil Caalador und ich diese Information benutzen wollen, um diesen neuen Weltrekord aufzustellen, von dem wir gestern sprachen. Sarabian hat es noch nicht genehmigt; also sollten wir ihn nicht mit einer Sache belasten, von der er nichts zu wissen braucht.«

Am nächsten Tag wurde Prinzessin Danae krank. Auf den ersten Blick konnte man nichts feststellen; kein Fieber, kein Ausschlag, kein Husten – nur Teilnahmslosigkeit, Schwäche und vorübergehende Ohnmachtsanfälle.

»Es ist das gleiche wie im vergangenen Monat«, versicherte Mirtai den besorgten Eltern des kleinen Mädchens. »Sie braucht ein Kräftigungsmittel, das ist alles.«

Doch Sperber wußte, daß Mirtai sich täuschte. Im vergangenen Monat war Danae nicht wirklich krank gewesen. Die Kindgöttin tat ihre Fähigkeit, an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig sein zu können, als Leichtigkeit ab. Doch ihr Vater wußte: Wenn Danae ihre Aufmerksamkeit fest auf einen Ort und die dortigen Ereignisse richtete, war sie am anderen Ort halb bewußtlos. Doch die jetzige Krankheit war anders als dieser Zustand. »Versuch es mit einem Stärkungsmittel, Ehlana«, riet Sperber seiner Gemahlin scheinheilig. »Ich rede mit Sephrenia. Vielleicht kann auch sie uns einen Rat geben.«

Sephrenia saß trübsinnig in ihrem Gemach. Sie blickte aus dem Fenster, doch es war offensichtlich, daß sie ins Leere starrte. »Wir haben ein Problem, kleine Mutter«, sagte Sperber und schloß die Tür hinter sich. »Danae ist krank.«

Sephrenia drehte sich abrupt um und blinzelte verwirrt. »Das ist lächerlich, Sperber. Sie wird niemals krank. Das ist unmöglich.«

»Das dachte ich auch, aber sie ist krank. Es ist nichts Erkennbares. Es gibt keine typischen Symptome oder dergleichen. Trotzdem geht es ihr nicht gut.«

Sephrenia erhob sich sofort. »Besser, ich sehe sie mir mal an. Vielleicht bringe ich sie dazu, daß sie mir sagt, was sie hat. Ist sie allein?«

»Nein, Ehlana ist bei ihr. Ich glaube nicht, daß sie sich überreden läßt, das Gemach zu verlassen. Wird das die Angelegenheit nicht komplizieren?«

»Ich kümmere mich schon darum. Gehen wir der Sache auf den Grund, ehe es schlimmer wird.«

Sephrenias offensichtliche Besorgnis beunruhigte Sperber noch mehr. Er folgte ihr mit wachsender Angst zurück in die königlichen Gemächer. Aphrael war in keinster Weise empfänglich für die Krankheiten Sterblicher; demnach konnte es kein gewöhnliches Fieber sein, auch keine der Kinderkrankheiten, die so gut wie alle Menschen bekommen. Den Gedanken, daß Götter so etwas wie eine Erkältung und Schnupfen bekommen könnten, wies Sperber sofort zurück.

Sephrenia verhielt sich kühl und sachlich. Sie murmelte den styrischen Zauber, noch ehe sie Danaes Gemach betrat.

»Gott sei Dank, daß Ihr hier seid, Sephrenia!« rief Ehlana und erhob sich halb aus ihrem Sessel neben dem Bett des kleinen Mädchens. »Ich habe mir sol…«

Sephrenia gab den Zauber mit einem eigenartigen Schnippen der Hand frei, und Ehlanas Augen wurden leer. Sie erstarrte in der Bewegung – halb aus dem Sessel erhoben, eine Hand leicht ausgestreckt.

Sephrenia ging zum Bett, setzte sich auf die Kante und nahm das kleine Mädchen in die Arme. »Aphrael«, sagte sie, »wach auf! Ich bin es – Sephrenia.«

Die Kindgöttin öffnete die Augen und fing zu weinen an.

»Was ist denn los?« fragte Sephrenia. Sie drückte ihre Schwester fester an sich und wiegte sie.

»Sie töten meine Kinder, Sephrenia«, schluchzte Aphrael. »In ganz Eosien. Die Elenier töten meine Kinder! Ich möchte sterben!«

»Wir müssen nach Sarsos«, sagte Sephrenia bald darauf zu Sperber und Vanion, als sie mit den beiden allein war. »Ich muß mit den Tausend reden!«

»Ich weiß, daß es ihr das Herz bricht«, sagte Vanion, »aber es kann ihr doch nicht wirklich etwas anhaben, oder?«

»Es könnte sie töten, Vanion. Die Jüngeren Götter sind so sehr mit ihren Anhängern verbunden, daß ihr Leben von ihnen abhängt. Ich flehe Euch an, Sperber, bittet Bhelliom, uns sofort nach Sarsos zu bringen.«

Sperber nickte düster. Er holte die Schatulle hervor und drückte seinen Ring an den Deckel. »Öffne dich!« befahl er schärfer als beabsichtigt.

Der Deckel sprang auf.

»Blaurose«, sagte Sperber, »wir befinden uns in einer schlimmen Lage. Die Kindgöttin ist wegen der Morde an ihren Anbetern im fernen Eosien ernsthaft erkrankt. Soll sie wieder genesen, müssen wir sofort nach Sarsos, damit Sephrenia sich mit den Tausend von Styrikum beraten kann.«

»Es soll sein, wie du es für nötig erachtest, Anakha.« Die Worte kamen aus Vanions Mund. Die Miene des Hochmeisters wurde ein wenig unsicher. »Ist es schicklich, dir zu sagen, daß ich wegen dieser Krankheit eures einzigen Kindes Mitgefühl für dich und deine Gefährtin empfinde?«

»Ich weiß dein gütiges Mitgefühl zu schätzen, Blaurose.«

»Mein Mitgefühl entspringt nicht allein der Güte, Anakha. Zweimal hat die zarte Hand der Kindgöttin mich berührt, und nicht einmal ich bin gegen die sanfte Magie ihrer Berührung gefeit. Um der Liebe willen, die wir alle für sie empfinden, laßt uns nach Sarsos reisen, auf daß sie geheilt werden kann.«

Die Welt schien zu verschwimmen – und dann standen die drei auch schon vor der marmorverkleideten Ratshalle in Sarsos. Der Herbst war hier viel weiter fortgeschritten; der Buchenwald am Rand der Stadt stand in flammenden Farben.

»Ihr zwei wartet hier«, wies Sephrenia die Freunde an. »Schließlich wollen wir die Hitzköpfe nicht erregen, indem ich noch einmal Elenier in ihre Ratskammer mitbringe.«

Sperber nickte und öffnete die Schatulle, um den Edelstein wieder einzuschließen.

»Nein, Anakha«, hielt Bhelliom, der noch immer durch Vanions Mund sprach, ihn zurück. »Ich möchte wissen, wie Sephrenias Vorschlag aufgenommen wird.«

»Wenn du möchtest, Blaurose«, antwortete Sperber höflich.

Sephrenia schritt rasch die Marmorfreitreppe hinauf und ins Innere.

»Es ist hier kälter«, stellte Vanion fest und zog sich den Umhang enger um den Körper.

»Ja«, bestätigte Sperber. »Wir sind hier weiter im Norden.«

»Damit wäre das Thema Wetter erschöpft. Hört auf, Euch Sorgen zu machen, Sperber. Sephrenia hat großen Einfluß auf die Tausend. Ich bin sicher, sie werden sich zur Hilfe bereiterklären.«

Während sie warteten, schleppten die Minuten sich dahin.

Es war etwa eine halbe Stunde später, als Sperber so etwas wie einen Schauder durch Bhelliom ziehen spürte. »Komm mit, Anakha!« Vanions Stimme erklang scharf und unvermittelt.

»Was ist?«

»Der Styriker Freude an endlosem Gerede erzürnt mich. Ich muß die Tausend übergehen und mich direkt an die Jüngeren Götter wenden. Diese Vielredner schwätzen Aphrael zu Tode.« Sperber wunderte sich ein wenig über die Heftigkeit in Vanions Stimme. Er folgte seinem Hochmeister, der in eigenartigem Gang, wie Sperber ihn nie zuvor an ihm bemerkt hatte, ins Gebäude stürmte. Der Eingang zur Ratskammer mochte fest verschlossen gewesen sein. Das Quietschen der von Vanion mit Gewalt aufgestoßenen Bronzetür deutete jedenfalls darauf hin.

Sephrenia stand vor dem Rat und flehte mit erhobenen Händen um Hilfe. Abrupt hielt sie inne und starrte ungläubig auf Vanion, der durch die Tür stürzte.

»Wir dulden hier keine Elenier!« schrillte ein Ratsherr auf einer der hinteren Bänke. Er sprang auf und fuchtelte mit den Armen.

Plötzlich erfüllte tiefe Stille die Kammer. Vanion begann anzuschwellen; er wuchs in Höhe und Breite zu gewaltiger Größe, und eine blaue Aura flackerte immer heller um ihn herum. Blitze durch zuckten diese Aura von innen nach außen, und gewaltiger Donnerknall hallte erschreckend von den marmorverkleideten Wänden wider. Sephrenia starrte Vanion mit plötzlicher Ehrfurcht an.

Von einer lautlosen Stimme aufgefordert, die nur Sperber zu hören vermochte, hob er die glühende Saphirrose in die Höhe.

»Erschauet Bhelliom!« rief er, »und vernehmt seine gewaltige Stimme!

Hört meine Worte, ihr Tausend von Styrikum!« Die Stimme, die aus der ungeheuren Gestalt erschallte, die kurz zuvor noch Vanion gewesen war, klang wie Donner. Es war eine Stimme, der Berge lauschen und die zu hören Wellen und Wasserfälle verharren lassen würden. »Ich will mit euren Göttern sprechen. Zu klein und unbedeutend seid ihr, und eurem endlosen Geschwätz zu sehr zugetan, als daß ihr fähig wärt, euch dieser Sache zu widmen!«

Sperber wand sich. Diplomatie gehörte nicht zu Bhellioms starken Seiten.

Einer der weißgewandeten Ratgeber richtete sich hoch auf und entrüstete sich: »Das ist ungeheuerlich! Wir müssen uns nicht…« Plötzlich war er verschwunden, und an seiner Statt erschien eine verwirrt aussehende Wesenheit, die offenbar mitten beim Baden gestört worden war. Wasser rann von ihrer Blöße, und sie starrte offenen Mundes auf die gigantische, blauglühende Gestalt und den flammenden Saphir in Sperbers Hand. »Also wirklich …!«

»Setras!« erschallte die Donnerstimme scharf. »Wie sehr liebst du deine Base Aphrael?«

»Das ist über die Maßen ungehörig!« protestierte der sehr jugendlich wirkende Gott.

»Wie sehr?« wiederholte die Stimme unerbittlich.

»Ich liebe sie zutiefst und finde sie ungemein anbetungswürdig. Das tun wir alle, aber…«

»Was würdest du geben, um ihr Leben zu retten?«

»Alles, worum sie bittet, selbstverständlich. Aber wie sollte ihr Leben in Gefahr sein?«

»Du weißt natürlich, daß Zalasta von Styrikum ein Verräter ist, nicht wahr?«

Die Ratsmitglieder hielten erschrocken den Atem an.

»Aphrael hat es erzählt«, antwortete der Gott, »aber wir nahmen an, sie hätte wieder ein bißchen übertrieben. Ihr wißt ja, wie sie manchmal ist.«

»Sie hat die Wahrheit gesagt, Setras! Während wir hier harren, metzeln Zalastas Henkersknechte ihre Anbeter im fernen Eosien nieder. Mit jedem Tod schwinden ihre Kräfte. Schreiten wir nicht hurtig dagegen ein, ist Aphrael der Tod gewiß!«

Der Gott Setras straffte die Schultern, und plötzlich flammten seine Augen. »Ungeheuerlich!«

»Was bist du zu geben bereit, auf daß sie weiterhin am Leben bleibt?«

»Mein eigen Leben, falls nötig«, versicherte Setras.

»Bist du bereit, ihr deine Anbeter zu leihen?«

Setras starrte entsetzt auf den glühenden Bhelliom.

»Rasch, Setras! Aphraels Leben schwindet dahin!«

Der Gott holte tief Atem. »Gibt es keine andere Möglichkeit?« fragte er bedrückt.

»Keine. Nur Liebe hält die Kindgöttin am Leben. Gib ihr eine Weile die Liebe deiner Kinder, auf daß ihre Kräfte zurückkehren.«

Setras richtete sich hoch auf. »Das werde ich!« rief er. »Obgleich es mir das Herz zerreißt.« Feste Entschlossenheit lag auf dem göttlichen Antlitz. »Und ich versichere dir, Weltenmacher, meine werden nicht die einzigen Kinder sein, die das Leben unserer geliebten Base erhalten. Alle werden wir gleichermaßen dazu beitragen.«

»So sei es!« donnerte Bhelliom.

»Aber«, fragte Setras nach kurzem Nachdenken sichtlich besorgt. »Aphrael wird sie uns doch wieder zurückgeben, nicht wahr?«

»Ganz gewiß, göttlicher Setras«, versprach Sephrenia lächelnd.

Der Jüngere Gott wirkte sehr erleichtert. Plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Anakha«, sagte er scharf.

»Ja, Göttlicher?«

»Es müssen Maßnahmen getroffen werden, Aphraels übrige Kinder zu beschützen. Wie ist das zu bewerkstelligen?«

»Weist sie an, sich zu den Ordenshäusern der Ritter der Kirche von Chyrellos zu begeben«, antwortete Sperber. »Dort werden sie Schutz finden.«

»Und wer befehligt diese Ritter?«

»Erzprälat Dolmant, nehme ich an«, antwortete Sperber. »Er ist die höchste geistige Obrigkeit.«

»Ich werde mit ihm sprechen. Wo finde ich ihn?«

»Er dürfte in der Basilika von Chyrellos sein.«

»Dann werde ich mich dorthin begeben und mich ihm in dieser Angelegenheit offenbaren.«

Sperber schluckte, als er an die theologischen Verwicklungen dachte, die Setras' Entschluß nach sich ziehen würde. Dabei blickte er unwillkürlich in Sephrenias Gesicht. Sie beobachtete Vanion noch immer mit einer gewissen Hochachtung. Dann – so offensichtlich, daß Sperber ihren plötzlichen Entschluß beinahe spüren konnte – traf Sephrenia ihre Entscheidung. Ihr Gesicht, ihre Haltung, ihr ganzes Wesen sagten es lauter als Worte.

»Ulath«, brummte Kalten gereizt, »paß doch auf! Seit fast zwei Wochen bist du mit den Gedanken ganz woanders. Was lenkt dich denn so ab?«

»Mir gefallen die Berichte nicht, die wir von Atan bekommen haben.« Der hünenhafte Genidianer schob Prinzessin Danae, Rollo und Murr ein wenig auf seinem Schoß herum. Die kleine Prinzessin hatte zehn Tage lang das Bett hüten müssen. Heute war der erste Tag, an dem sie wieder unter ihnen weilte.

Danae war mit ihrem Lieblingsspiel beschäftigt – Schoßwechseln. Sperber wußte, daß seine Freunde es gar nicht so sehr beachteten und von selbst auf Danaes beinahe unmerkliche Aufforderung reagierten, sie hochzuheben und in den Armen zu halten. Tatsächlich war es für Aphrael eine ernste Sache, sich mit Plüschbär und Katze von einem Schoß zum nächsten zu begeben, um die Verbindung mit jenen wie derherzustellen, die ihr während ihrer Krankheit möglicherweise entglitten waren. Wie immer küßte sie jeden, doch diese Küsse waren nicht wirklich die spontanen kleinen Zeichen der Zuneigung, die sie zu sein schienen. Mit einer Berührung vermochte Aphrael die Absicht und Stimmung eines Menschen zu ändern. Mit einem Kuß jedoch konnte sie Besitz von seinem Herzen und seiner Seele ergreifen. Wann immer Sperber einen Wortwechsel mit seiner Tochter hatte, achtete er sorgfältig darauf, daß sich zumindest ein Möbelstück zwischen ihnen befand.

»Die Dinge verlaufen anders, als ich erwartet hatte«, sagte Ulath düster. »Die Trolle lernen, Deckung vor Pfeilen und Armbrustbolzen zu suchen.«

»Selbst ein Troll lernt irgendwann einmal aus seiner Erfahrung«, warf Talen ein. Er hatte sich offenbar von seinem Sturz aus dem Ahorn vollkommen erholt, klagte jedoch hin und wieder noch über Kopfschmerzen.

»Nein!« widersprach Ulath. »Das ist es ja gerade. Trolle lernen nicht! Weder aus Erfahrung noch sonstwie. Vielleicht liegt es daran, daß ihre Götter nicht lernen – oder nicht lernen können. Die Trolle, die heute existieren, wissen genau das, was der erste Troll wußte, der je gelebt hat – nicht mehr und nicht weniger. Cyrgon beeinflußt sie irgendwie. Falls er die Trolle so verändert, daß sie lernen können, gerät die Menschheit in große Schwierigkeiten!«

»Das ist doch nicht alles, Ulath, oder?« fragte Bevier scharfsichtig. »Du hast schon seit ein paar Tagen deinen ›theologischen Gesichtsausdruck‹. Du schlägst dich mit einem moralischen Dilemma herum, nicht wahr?«

Ulath seufzte. »Es wird zwar jeden aus der Fassung bringen, aber ehe man sofort in die Luft geht, sollte man erst seine Vorteile bedenken.«

»Das klingt nicht gerade beruhigend, alter Junge«, murmelte Stragen. »Bringt es uns lieber schonend bei.«

»Ich glaube nicht, daß das möglich ist, Stragen. Betuanas Botschaften werden immer dringender. Die Trolle verschanzen sich im Wald. Die berittenen Ataner kommen mit den Lanzen nicht an sie heran, und Armbrustbolzen dringen in mehr Bäume als Trolle ein. Die Trolle entzünden jetzt sogar schon Grasfeuer, um sich im Rauch zu verbergen. Betuana ist nahe daran, ihre Krieger heimzurufen, und ohne die Ataner haben wir keine Streitkräfte mehr.«

»Ritter Ulath«, warf Oscagne ein, »ich vermute, daß diese düstere Einleitung uns gegen einen sehr unerquicklichen Vorschlag wappnen soll. Ich glaube, das habt Ihr erreicht. Also, heraus damit!«

»Wir müssen Cyrgon die Trolle wegnehmen.« Ulath kraulte Murr abwesend hinter den Ohren. »Wir dürfen nicht zulassen, daß er damit weitermacht, sie taktische Vorgehensweisen zu lehren, und mögen sie noch so primitiv sein. Und auf gar keinen Fall wollen wir, daß sie weiterhin zusammenarbeiten, wie in letzter Zeit.«

»Und wie genau wollt Ihr einem Gott diese vollkommen unkontrollierbaren Ungeheuer entreißen?« fragte Stragen.

»Oh, nicht ich, und auch nicht wir. Ich denke eher daran, daß ihre eigenen Götter das übernehmen sollen. Die Trollgötter sind schließlich erreichbar. Ghwerig hat sie in den Bhelliom gesperrt, und Sperber trägt Bhelliom unter seinem Kittel. Ich könnte mir vorstellen, daß Khwaj und die anderen so gut wie alles für uns tun würden, wenn wir ihnen die Freiheit versprächen.«

»Seid Ihr wahnsinnig?« rief Stragen entsetzt. »Wir dürfen sie nicht freilassen! Das ist undenkbar!« Er ließ die zwei Goldmünzen fallen, die er jetzt ständig bei sich trug.

»Nur zu gern würde ich euch eine andere Möglichkeit nennen, aber mir fällt keine ein – ebensowenig wie euch! Die Gefahr für Atan ist schon ernst genug; aber je länger Cyrgon Macht über die Trolle hat, desto mehr werden sie von ihm lernen. Früher oder später kehren sie nach Thalesien zurück. Wollen wir wirklich eine Armee ausgebildeter Trolle vor den Toren von Emsat? Wenn wir mit den Trollgöttern verhandeln, haben wir zumindest einen kleinen Vorteil: Wir besitzen den Schlüssel zu ihrer Freiheit. Aber wir haben absolut nichts, woran Cyrgon interessiert ist – außer Bhelliom. Also, ich persönlich würde lieber mit den Trollgöttern verhandeln.«

»Sperber könnte sich doch von Bhelliom nach Nordatan bringen lassen und ihn bitten, die Trolle allesamt zu töten.«

Sperber schüttelte den Kopf. »Das würde Bhelliom nicht tun, Stragen. Er rottet keine ganze Rasse aus. Das weiß ich sicher.«

»Ihr habt die Ringe. Ihr könntet ihn zwingen, Euch zu gehorchen!«

»Das würde ich auf keinen Fall tun! Bhelliom ist kein Sklave. Wenn er hilft, muß es freiwillig geschehen.«

»Wir dürfen die Trollgötter nicht freilassen, Sperber! Ich bin zwar nur ein Dieb, aber ich bin trotzdem ein Thalesier. Ich werde nicht untätig herumsitzen und zulassen, daß die Trolle die gesamte Halbinsel überrennen!«

»Wir haben ja noch nicht einmal mit den Trollgöttern gesprochen, Stragen«, versuchte Ulath den Aufgebrachten zu beruhigen. »Hören wir uns doch erst einmal an, was sie dazu sagen, ehe wir irgendwelche Entschlüsse treffen. Doch was auch immer, etwas müssen wir unternehmen, und zwar sehr bald. Anderenfalls dauert es nicht mehr lange, und wir müssen zusehen, wie riesige Kolonnen von Atanern aus ihren Kasernen nach Hause marschieren!«

Danae rutschte von Ulaths Schoß und hob Stragens Münzen auf. »Du hast sie fallen lassen«, sagte sie zu ihm. Dann runzelte sie die Stirn. »Täusche ich mich, oder ist eine ein bißchen leichter als die andere?«

Stragen blickte sie bestürzt an.

Es war etwas später, als Sperber und Vanion Sephrenia zurück zu ihrem Gemach begleiteten. Vor der Tür blieben sie stehen.

»Oh, das ist wirklich idiotisch!« platzte Sephrenia plötzlich heraus. »Vanion, hol deine Sachen und komm wieder heim, wohin du gehörst!«

Vanion blinzelte. »Ich…«

»Pst!« warnte sie ihn. Dann funkelte sie Sperber an. »Und auch kein Wort von Euch!«

»Von mir?«

»Du mußt packen, Vanion! Also, steh nicht da und gaffe in der Gegend herum!«

»Ich mache mich sofort daran.«

»Und beeil dich!« Sie warf die Arme in die Höhe. »Männer! Muß ich es dir erst schriftlich geben? Ich habe so gut wie alles getan, bis auf Signalfeuer zu zünden und Trompete zu schmettern, und du hast bloß über das Wetter geredet – oder über Fische! Warum bist du nicht einfach zur Sache gekommen?«

»Nun – ich…«, stammelte er. »Du warst so schrecklich zornig auf mich, Sephrenia.«

»Das ist doch längst vorbei! Jetzt möchte ich nur, daß du wieder heimkommst! Ich muß kurz mit Danae reden. Sieh zu, daß du zurück in unserem Gemach bist, wenn ich wiederkomme!«

»Ja, Liebes«, versicherte er ihr geduldig.

Sie funkelte ihn kurz an; dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schritt, vor sich hin murmelnd und mit den Armen fuchtelnd, den Korridor entlang.

»Krager ist zurück!« meldete Talen, als die Gefährten sich an diesem Nachmittag wieder zusammensetzten. »Ein Bettler hat gesehen, wie er vor etwa zwei Stunden durch das hintere Tor die cynesganische Botschaft betrat – hindurch torkelte wäre zutreffender. Er war stockbesoffen!«

Kalten lachte. »Das ist der Krager, wie wir ihn lieben.«

»Ich verstehe nicht, wie Zalasta sich auf einen solchen Trunkenbold verlassen kann«, meinte Oscagne kopfschüttelnd.

»Krager ist höchst intelligent, wenn er nüchtern ist, Exzellenz«, erklärte Sperber. »Das war der einzige Grund, weshalb Martel sich mit ihm befaßte.« Er kratzte sich an der Wange. »Dürfen wir Euch zumuten, Euch noch einmal in diesen Ausguck gegenüber der Botschaft zu begeben, Anarae?«

Xanetia wollte sich sofort aus ihrem Sessel erheben.

»Nicht jetzt.« Sperber lächelte. »Krager braucht für gewöhnlich die ganze Nacht zur Ausnüchterung. Morgen früh wäre der geeignete Zeitpunkt. Es dürfte interessant sein, welche Anweisungen er dem cynesganischen Botschafter zu übermitteln hat.«

»Da ist noch etwas«, warf Stragen ein. »Wir haben nie mit Gewißheit herausgefunden, ob Krager in Erfahrung gebracht hat, daß wir die hiesige Unterwelt einsetzen, um Information zu sammeln. Er wußte, daß wir in Cimmura Hilfe von Platime bekamen und Verbindung zur Unterwelt in anderen eosischen Städten hatten, aber was weiß er über unsere Beziehungen hier?«

»Oh, er ließ so etwas durchblicken, als er nach der Niederschlagung des Staatsstreiches mit mir sprach«, erinnerte Sperber ihn.

»Ich möchte nicht das gesamte Spitzelnetz aufgeben, nur weil Krager etwas ›durchblicken‹ ließ, Sperber«, sagte Stragen. »Und ich muß unbedingt erfahren, ob er darüber Bescheid weiß, daß wir gewisse Gauner nicht nur zum Bespitzeln einsetzen können.«

»Ich werde sein Gedächtnis sorgfältigst erforschen«, versprach Xanetia.

»Sperber, wo sind eigentlich Vanion und Sephrenia?« fragte Ehlana plötzlich. »Die beiden hätten bereits vor einer Stunde hier sein sollen!«

»Oh, tut mir leid, Liebes. Ich wollte es dir sagen. Ich habe den beiden versichert, daß wir heute hier auch ohne sie auskommen. Sie haben etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Das tue ich ja jetzt, Liebes.«

»Was tun sie denn?«

»Sie haben ihre Meinungsverschiedenheiten begraben. Ich nehme an, sie unterhalten sich jetzt darüber – ausführlich.«

Ehlana errötete leicht. »Oh. Was hat die beiden denn ausgesöhnt?«

Sperber zuckte die Schultern. »Sephrenia hatte genug von der Entfremdung und Einsamkeit. Sie hat Vanion gesagt, er solle wieder heimkommen. Eigentlich war es fast schon ein Befehl. Sie hat die ganze Sache sogar so verdreht, daß man glauben konnte, es wäre alles Vanions Schuld gewesen. Aber du weißt ja, wie so etwas geht.«

»Das genügt, Herr Ritter!« rügte sie.

»Jawohl, Majestät.«

»Ob dieser Krager weiß, wo Zalasta sich jetzt aufhält, Prinz Sperber?« fragte Oscagne.

»Ich bin davon überzeugt, Exzellenz. Wahrscheinlich möchte Zalasta es zwar nicht – da Krager ist, was er ist –, aber es ist sehr schwierig, irgend etwas vor Krager geheimzuhalten, wenn er auch nur ein bißchen nüchtern ist.«

»Er könnte von ungeheurem Wert für uns sein, Prinz Sperber. Dank der ungewöhnlichen Gabe der Anarae.«

»Dann solltet Ihr jetzt alles aus ihm herausholen, was nur möglich ist, Exzellenz«, riet Talen. »Denn sobald mein Bruder aus Atan zurückkehrt, wird er ihn wahrscheinlich töten.«

Oscagne blickte Talen erstaunt an.

»Eine persönliche Sache, Exzellenz. Krager war für den Tod unseres Vaters mitverantwortlich, und das wird Khalad nicht ungestraft hinnehmen.«

»Ich bin sicher, wir können ihn überreden, noch ein wenig zu warten junger Herr.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Exzellenz.«

»Es steckt schon so lange tief in uns, daß wir keine echten Styriker mehr wären, würde es uns fehlen, Anarae«, sagte Sephrenia bedrückt.

Es war eines der privaten Treffen oben auf dem Turm. Als der Abend sich auf Matherion herabsenkte, hatten Sperber und seine Tochter sich Sephrenia, Vanion und Xanetia angeschlossen, um einige Dinge zu besprechen, von denen die anderen nichts zu wissen brauchten.

Xanetia lächelte. »Und wir erzählen unseren Kleinen, daß die Styriker Ghule sind, welche Gräber schänden, um Leichen zu fressen – wenn sie keine delphaeischen Kinder finden, die sie bei lebendigem Leibe verschlingen können.«

»Ich kenne ein Kind mit styrischer Abstammung, das in letzter Zeit Menschenfresserei in Betracht zog«, bemerkte Sperber.

»Petze!« murmelte Danae.

»Was soll das bedeuten?« fragte Sephrenia ihre Schwester streng.

»Die Kindgöttin war sehr aufgebracht, als sie erkennen mußte, daß Zalasta sie getäuscht hatte«, erklärte Sperber gleichmütig. »Und als sie erfuhr, daß er Euch ihr stehlen wollte, konnte sie kaum noch an sich halten. Sie sagte, sie würde ihm das Herz herausreißen und es vor seinen Augen verspeisen.«

Aphrael versuchte, es abzutun. »Ach was. Wahrscheinlich hätte ich's gar nicht gegessen.«

»Wahrscheinlich?« rief Sephrenia.

»Zalastas Herz ist dermaßen verdorben, daß ich mir eine schwere Magenverstimmung davon geholt hätte.«

Sephrenia bedachte sie mit einem durchdringenden Blick.

»Na gut«, murmelte die Kindgöttin. »Ich habe übertrieben.« Nachdenklich schaute sie über die Dächer der Stadt; dann blickte sie Sephrenia und Xanetia an. »All dieser Haß und diese lächerlichen Geschichten, die Styriker und Delphae ihren Kindern erzählen, sind keines natürlichen Ursprungs, müßt ihr wissen. Ihr wurdet sorgfältig beeinflußt – auf eine Weise, daß ihr diesen Haß entwickelt habt. Zur eigentlichen Meinungsverschiedenheit war es zwischen meiner Familie und Edaemus gekommen. Es ging dabei um Dinge, die euch völlig fremd sind. Es war ein lächerlicher Streit – aber das ist ein Streit ja fast immer. Nur können Götter ihre Zwistigkeiten nicht privat austragen. Ihr Menschen wurdet da in etwas hineingerissen, das eigentlich nichts mit euch zu tun hatte.« Sie seufzte. »Wie viele unserer Zwistigkeiten, hatte sich auch diese aus unserem Teil der Welt auf euren ausgebreitet. Es war eine geschlossene Veranstaltung, und niemand hat euch dazu eingeladen.«

»Und wo ist eure Welt, Aphrael?« fragte Vanion neugierig.

»Hier …« Sie zuckte die Schultern. »Überall rings um uns. Aber ihr könnt es nicht sehen. Es wäre vermutlich besser gewesen, wir hätten unsere eigene, von allen anderen abgegrenzte Heimat gehabt, aber dazu ist es jetzt zu spät. Ich hätte Sephrenia von unserer Dummheit erzählen sollen, als sie und ich noch Kinder waren und ich gehört habe, wie Sephrenia den Unsinn über die Delphae nachplapperte. Aber dann verwüsteten die elenischen Leibeigenen unser Dorf und töteten unsere Eltern. Und Zalasta hat seine Schuld den Delphae angelastet. Niemand hätte sie jetzt mehr von ihren Vorurteilen abbringen können.« Aphrael machte eine Pause. »Ich spürte immer, daß irgend etwas an Zalastas Geschichte nicht stimmte. Aber leider konnte ich nicht in seine Gedanken eindringen, um herauszufinden, was es war.«

»Und warum nicht?« fragte Vanion. »Du bist schließlich eine Göttin!«

»Oh, das hast du bemerkt!« rief sie. »Was für eine aufregende Entdeckung muß das für dich gewesen sein!«

»Benimm dich!« tadelte Sperber.

»Tut mir leid, Vanion«, entschuldigte sie sich. »Das war wirklich ziemlich schnippisch. Ich kann Zalastas Gedanken nicht lesen, weil er nicht zu meinen Kindern gehört.« Wieder machte Aphrael eine Pause. »Findest du es nicht interessant, Sephrenia, daß mir in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt sind, Xanetia jedoch nicht?«

»Xanetia und ich sind dabei, unsere Verschiedenheiten zu erforschen, Aphrael.« Sephrenia lächelte. »Wir haben rasch herausgefunden, daß die meisten Unterschiede nur in unserer Einbildung existieren.«

»So ist es«, bestätigte Xanetia.

Sperber konnte sich so halbwegs vorstellen, wie schwierig für diese beiden so merkwürdig ähnlichen Frauen selbst diese vorsichtigen Schritte zu einem Friedensschluß sein mußten. Der Prozeß, eingefleischte Überzeugungen und Selbstgerechtigkeiten zu überwinden, mußte dem Niederreißen eines Hauses nahekommen, das hundert Jahrhunderte unerschütterlich gestanden hatte.

»Vanion, Liebling«, sagte Sephrenia. »Es wird ein bißchen kühl.«

»Ich gehe hinunter und hole dir deinen Umhang.«

Sie seufzte. »Nein. Ich will keinen Umhang. Ich möchte, daß du die Arme um mich legst.«

»Oh! Daran hätte ich selbst denken sollen!«

»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Denk wenigstens in Zukunft öfter daran!«

Er lächelte und umarmte sie.

»So ist es viel besser!« Sie kuschelte sich an ihn.

»Da ist etwas, das ich schon die ganze Zeit fragen wollte«, sagte Sperber zu seiner Tochter. »Egal, wer sie dazu angestiftet hat – die Kerle, die Ylara überfielen, waren Elenier. Wie, in aller Welt, hast du Sephrenia dazu gebracht, uns Pandioner die Geheimnisse von Styrikum zu lehren? Sie muß die Elenier doch gehaßt haben!«

»Das hat sie auch.« Die Kindgöttin zuckte die Schultern. »Und ich hab' euch auch nicht gerade gemocht. Aber ich hatte Ghwerigs Ringe und mußte sie an die Finger von König Antor und dem ersten aus dem Hause Sperber bekommen, sonst wäre ich jetzt nicht hier.« Ihre Augen verengten sich abrupt. »Der Gedanke ist ja unerträglich!«

»Welcher Gedanke?«

»Bhelliom hat mich benutzt! Nachdem ich Ghwerig die Ringe gestohlen hatte – vielleicht sogar schon zuvor –, hat er diese Gedanken an die Ringe übermittelt. Ich weiß, daß er es getan hat. Denn kaum hatte ich die zwei Ringe in der Hand, kam mir der Gedanke, sie zu trennen, indem ich einen deinem Ahnen gab und den anderen Ehlanas Vorfahren. Das alles ging von Bhelliom aus. Dieses – dieses Ding hat mich benutzt!«

»Na so was«, sagte Sperber und bemühte sich, ernst zu bleiben.

»Und er war so schlau! Es schien mir eine großartige Idee zu sein. Dein blauer Freund und ich werden uns mal eingehend darüber unterhalten müssen und –«

»Du hattest gerade erzählt, wie du Sephrenia dazu gebracht hast, unsere Lehrerin zu werden«, unterbrach Sperber seine Tochter.

»Ich befahl es ihr, als gutes Zureden nicht fruchtete. Zuerst wies ich sie an, die Ringe zu diesem Paar verwundeter Wilder zu bringen. Dann brachte ich sie zu eurem Mutterhaus in Demos und zwang sie, eure Lehrerin zu werden. Ich brauchte sie dort, um achtzugeben, daß deine Familie nicht vom geraden Weg abkam. Du bist Anakha, und ich wußte, daß ich unbedingt Einfluß auf dich gewinnen mußte; anderenfalls hätte Bhelliom dich ganz allein für sich gehabt, und ich konnte ihm nicht soweit trauen, daß ich das zulassen durfte.«

»Dann hattest du das alles tatsächlich im voraus geplant«, sagte Sperber ein wenig traurig.

»Vielleicht hatte Bhelliom es noch eher geplant«, entgegnete sie finster. »Ich war aber ganz sicher, daß es meine Idee gewesen ist. Wenn ich deine Tochter würde, hab' ich mir überlegt, müßtest du wenigstens ein bißchen auf mich achten.«

Sperber seufzte. »Dann war das alles nur Berechnung, oder?«

»Ja. Aber das hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun. Ich habe mir große Mühe gegeben, das aus dir zu machen, was du bist, Sperber. Schon deshalb liebe ich dich wirklich. Du warst ein so süßes Baby! Ich hätte Kalten beinahe umgebracht, als er dir die Nase brach. Aber Sephrenia hat es mir ausgeredet. Mit Mutter war es eine andere Geschichte. Du warst nett, aber sie war entzückend. Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt, und ich wußte, daß ihr zwei gut miteinander auskommen würdet. Ich bin ziemlich stolz darauf, wie die Dinge sich entwickelt haben. Ich glaube, sogar Bhelliom ist damit zufrieden – obwohl er es natürlich nie zugeben würde. Er ist manchmal sehr steif und förmlich.«

»Hat dein Vetter Setras sich tatsächlich in die Basilika begeben und mit Dolmant geredet?« fragte Vanion.

»O ja.«

»Und wie hat Dolmant es aufgenommen?«

»Erstaunlich gut. Setras kann ungemein charmant sein, wenn er will, und Dolmant mag mich.« Sie blickte nachdenklich drein. »Ich glaube, er wird einige sehr weitreichende Änderungen in deiner Kirche einführen, Vanion. Dolmant ist nicht so altväterlich wie Ortzel. Die elenische Theologie wird sich während seiner Amtszeit beachtlich verändern.«

»Das wird den Konservativen nicht gefallen.«

»Konservative halten nie etwas von Veränderungen. Sie würden nicht einmal ihre Unterwäsche wechseln, wenn es nicht unbedingt sein müßte.«

»Das ist vom juristischen Standpunkt aus mehr als fragwürdig, Majestät«, erklärte Oscagne. »Ich persönlich zweifle nicht an Eurem Wort, Anarae«, fügte er rasch hinzu, »aber ich glaube, uns allen hier dürfte das Problem bewußt sein. Als Beweis haben wir lediglich Xanetias Aussage über jemandes Gedanken. Selbst ein leicht zu überzeugender Richter würde schwer daran zu schlucken haben, fürchte ich. Es handelt sich um Fälle, die kaum zur Verhandlung kommen werden – schon deshalb nicht, weil einige Angeklagte zu den führenden Familien Tamulis zählen.«

»Am besten, Ihr weiht sie in alles ein, Stragen«, riet Sperber ihm. »Ihr werdet Euren Plan ja sowieso verwirklichen, und sie würden sich nur wochenlang den Kopf über die juristische Seite der Angelegenheit zerbrechen, wenn Ihr sie nicht gleich aufklärt.«

Stragen wand sich. »Ich wollte, Ihr hättet es gar nicht erst zur Sprache gebracht, alter Junge«, sagte er gequält. »Ihre Majestäten sind ja auch Amtspersonen und deshalb mehr oder weniger verpflichtet, nach den Buchstaben des Gesetzes zu handeln. Die beiden würden sich viel wohler fühlen, wenn sie nicht zu viele Einzelheiten kennen.«

»Das bezweifle ich nicht. Aber dieses ganze Hin-und-Her-Gerede, wie sich ein hieb- und stichfester Prozeß führen läßt, ist Zeitverschwendung. Wir sollten uns lieber anderen Problemen widmen!«

»Worum geht es?« fragte Sarabian.

»Durchlaucht Stragen und Meister Caalador möchten eine – nun ja, juristische Abkürzung einschlagen, Majestät. Man könnte es als zweckdienliche Patentlösung bezeichnen. Wollt Ihr es selbst erzählen, Stragen? Oder wäre es Euch lieber, wenn ich das übernehme?«

»Ich glaube, wenn es von Euch kommt, klingt es besser.« Stragen lehnte sich zurück und betrachtete wieder einmal grüblerisch seine zwei Goldmünzen.

»Der Plan ist ziemlich einfach, Majestät«, begann Sperber. »Stragen und Caalador schlagen vor, daß wir all diese Verschwörer, Spione und dergleichen gar nicht erst verhaften, sondern ermorden lassen.«

»Was?« rief Sarabian.

»Das war eine sehr ungeschliffene Formulierung, Sperber!« beklagte sich Stragen.

»Ich bin ein ungeschliffener Mann.« Sperber zuckte die Schultern. »Ehrlich gesagt, halte ich dieses Vorgehen für angebracht. Vanion hat allerdings noch seine Schwierigkeiten damit.« Er lehnte sich ebenfalls zurück. »Mit der Gerechtigkeit ist es so eine Sache. Es geht dabei nur zum Teil um die Bestrafung Schuldiger, hauptsächlich dient sie der Abschreckung. Durch eine möglichst drastische öffentliche Bestrafung festgenommener Halunken sollen die Leute davon abgehalten werden, Verbrechen zu begehen. Aber, wie Stragen zu bedenken gab, wissen die meisten Verbrecher, daß sie wahrscheinlich nie erwischt werden. Polizei und Gerichte tun im Grunde genommen nichts weiter, als sich wichtig zu machen. Erhaltung von Arbeitsplätzen, nennt man das. Stragen schlägt vor, daß wir Polizei und Gerichte umgehen und schon in einer der kommenden Nächte die Mörder ausschicken. Am Morgen darauf würde jeder, der auch nur entfernt mit Zalasta und seinen verfemten Styrikern zusammengearbeitet hat, mit durchschnittener Kehle aufgefunden werden. Wenn wir eine Abschreckung wollen, wäre das die wirkungsvollste Methode. Es gäbe weder Freisprüche noch Gnadengesuche oder gar Begnadigungen. Falls wir es durchführen wie vorgeschlagen, werden im gesamten tamulischen Imperium alle Personen, die auch nur in Gedanken mit Hochverrat gespielt haben, Alpträume bekommen, was die Folgen dieses Verbrechens betrifft. Ich billige diesen Vorschlag allerdings nur aus taktischen Gründen. Die Gerechtigkeit überlasse ich den Gerichten – oder den Göttern. Mir gefällt die Idee deshalb, weil sie Zalasta erheblichen Schaden zufügen würde. Er ist Styriker, und Styriker versuchen für gewöhnlich, durch Täuschungsmanöver und Betrug zu bekommen, was sie wollen. Zalasta hat ein sehr kunstvolles Netz gesponnen, um ohne persönliche Kontakte an sein Ziel zu gelangen. Stragens Plan würde dieses Netz in einer einzigen Nacht zerreißen. Danach wären nur noch ein paar Verrückte und Unbelehrbare bereit, sich Zalasta anzuschließen. Sobald das Netz nicht mehr existiert, wird Zalasta nichts anderes übrigbleiben, als aus seinem Schlupfloch zu kommen und sich zum Kampf zu stellen. Im Gegensatz zu uns ist er kein guter Kämpfer. Es würde uns also die Chance gegeben, diesen Krieg nach unseren Vorstellungen zu führen, und das ist immer ein gewaltiger taktischer Vorteil.«

»Und wir bestimmen den Zeitpunkt«, fügte Caalador hinzu. »Das ist sehr wichtig!«

»Der Gegner würde vor allem nicht damit rechnen«, fiel Itagne ein.

»Es gibt Regeln, Itagne!« wehrte sein Bruder ab. »Die gesamte Zivilisation beruht auf Regeln! Wenn wir sie brechen, wie können wir da erwarten, daß andere sich daran halten?«

»Das ist es ja, Oscagne! Zur Zeit schützen diese Regeln die Schurken und nicht die menschliche Gesellschaft. Wir können uns herauswinden und danach mit irgendeiner juristischen Rechtfertigung aufwarten. Mein einziger wirklicher Einwand ist, daß diese – äh – Agenten der Regierungspolitik, nennen wir es so, keinen offiziellen Rang haben.« Er runzelte kurz die Stirn. »Ich glaube, dieses Problem ließe sich lösen, indem wir Durchlaucht Stragen zum Innenminister ernennen und Meister Caalador zum Leiter der geheimen Polizei.«

»Richtig geheim, Exzellenz.« Caalador lachte. »Nicht einmal ich weiß, wer die meisten dieser Meuchler sind.«

Itagne lächelte. »Das sind meines Erachtens die besten.« Er blickte den Kaiser an. »Da wäre allerdings ein kleiner Makel, was die Rechtmäßigkeit dieser Geheimaktion angeht, Majestät – vorausgesetzt, Ihr beschließt die Durchführung dieses Vorhabens.«

Sarabian lehnte sich nachdenklich in seinem Sessel zurück. »Es reizt mich«, gestand er. »Ein solches Blutbad würde wenigstens ein Jahrhundert lang die innenpolitische Ruhe in Tamuli sichern.« Er verzog bedauernd das Gesicht und richtete sich auf. »Aber es ist einfach zu unkultiviert. Ich könnte so etwas nicht billigen, solange die erhabene Sephrenia und Anarae Xanetia mich mißbilligend betrachten.«

»Was haltet Ihr davon, Xanetia?« fragte Sephrenia vorsichtig an.

»Wir Delphae machen uns keine unnötigen Gedanken über Recht oder Unrecht.«

»Das dachte ich mir. Gut ist gut und böse ist böse – das ist doch auch Eure Meinung, oder?«

»So deucht es mir.«

»Mir ebenfalls. Zalasta hat uns beiden weh getan, und Stragens Massaker würde ihm weh tun. Und wenn es um irgend etwas geht, das Zalasta Schmerz bereitet, haben wir keine allzu großen Bedenken, nicht wahr?«

Xanetia lächelte.

»Die Entscheidung liegt bei Euch, Sarabian«, sagte Sephrenia nun. »Erhofft Euch keine Ausrede durch Xanetia oder mich, Euch davor zu drücken. Wir haben nichts an dem Plan auszusetzen.«

»Ich bin von euch beiden zutiefst enttäuscht! Ich hatte gehofft, ihr würdet mir aus diesem Dilemma helfen. Nun seid Ihr meine letzte Chance, Ehlana. Läßt Euch dieser ungeheuerliche Vorschlag nicht das Blut stocken?«

»Eigentlich nicht. Aber ich bin schließlich Elenierin – und Politikerin. Solange wir nicht selbst mit blutigen Messern in der Hand erwischt werden, können wir uns jederzeit herauswinden.«

»Will mir denn gar niemand helfen?« Sarabian wirkte tatsächlich verzweifelt.

Oscagne blickte seinen Kaiser durchdringend an. »Es ist allein Eure Entscheidung, Majestät. Mir persönlich gefällt sie nicht – aber nicht ich muß den Befehl erteilen, sondern Ihr.«

Sarabian stöhnte. »Ist es immer so schlimm, Ehlana?«

»Sehr oft«, antwortete sie völlig ungerührt. »Manchmal noch schlimmer.«

Der Kaiser starrte eine ganze Weile auf die Wand. »Also gut, Stragen«, sagte er schließlich. »Tut es.«

»Das ist Mamas kleiner Liebling«, lobte Ehlana zufrieden.